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Einheit durch Bildung? – Rosa Luxemburg und die Parteischule der SPD

Um die am 15. November 1906 eröffnete zentrale Parteischule der SPD kam es oft zu Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Flügeln. Auf der anderen Seite war sie als Ausbildungsstätte der Partei aber auch eine Institution der Kohäsion und der Kooperation. Eine besondere Rolle spielt dabei die Lehrtätigkeit von Rosa Luxemburg, die am 5. März 2021 ihren 150. Geburtstag feiern würde.

Bild: Gruppenaufnahme mit Lehrer an der Parteischule Rosa Luxemburg, Emanuel Wurm, Franz Mehring, Heinrich Schulz, Arthur Stadthagen, Heinrich Cunow und Rudolf Hilferding, 1908; Rechte: AdsD.

Bild: Gruppenaufnahme mit Lehrer an der SPD-Parteischule Heinrich Cunow, Hugo Heinemann, Simon Katzenstein, Rosa Luxemburg, August Bebel, Kurt Rosenfeld, Heinrich Schulz, Arthur Stadthagen und Emanuel Wurm, 1907; Rechte: AdsD.

Die „rote Akademie“

„Den Teilnehmern [soll] so weit als möglich das geistige Rüstzeug gegeben werden, das sie befähigt, den Vorgängen in unserem sozialen und staatlichen Leben mit Verständnis zu folgen und sie kritisch zu beurteilen“ – so heißt es am 17.7.1906 im Vorwärts, wo die Einrichtung der „Ausbildungskurse für Parteifunktionäre“ verkündet wird. Bemerkenswert daran ist die zentrale Position, die eine kritische Auseinandersetzung mit politischen Sachverhalten im Unterricht einnehmen soll. Die parteiintern oft als „rote Akademie“ bezeichnete Schule wurde vom Parteivorstand ohne Einbeziehung der Mitglieder gegründet und auf dem Mannheimer Parteitag im September 1906 „stillschweigend“ akzeptiert. Im November 1906 eröffnete der Parteivorsitzende August Bebel die Schule im Gebäudekomplex der SPD in der Lindenstraße 3 in Berlin-Kreuzberg. Bereits auf dem Sozialistenkongress in Gotha 1876 war ein Antrag auf „Gründung einer sozialistischen Universität“ gestellt worden, den Bebel jedoch ablehnte, weil damals die finanziellen Mittel fehlten. Dass eine solche Schule 1906 dann doch eröffnet werden konnte, hatte vielfältige Gründe. Erstens spielte der Revisionismusstreit, also die programmatischen Auseinandersetzungen innerhalb der SPD um Theorie und Strategie, eine wichtige Rolle, zweitens hatten die Gegner_innen der Sozialdemokratie bereits Bildungseinrichtungen ins Leben gerufen, an denen SPD-kritisch gelehrt wurde, und drittens erforderte die Erweiterung und Professionalisierung der Partei eine umfangreichere Ausbildung der Parteimitglieder. Mit der Gründung war demnach das Ziel verbunden, die Schlagkraft der sozialdemokratischen Parteifunktionäre zu erhöhen. Die Schule, die in der Forschung teilweise als „sozialistische Universität“ bezeichnet wird, wurde mit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 geschlossen und erst im Jahr 1986 auf Initiative von Willy Brandt und Peter Glotz neugegründet – sie besteht bis heute im Willy-Brandt-Haus in Berlin.

„Selbstständiges Denken und eigenes Können“

Die zentrale Aufgabe der Schule war es, Wissen für den „Befreiungskampf der Arbeiter“ sowie vertiefte Kenntnisse über den wissenschaftlichen Sozialismus zu vermitteln und die Absolvent_innen so auf die tägliche politische Arbeit vorzubereiten. Die Schüler_innen sollten ausdrücklich keine politischen Neulinge sein, sondern bereits praktische Parteierfahrung mitbringen. Die sechsmonatigen Kurse fanden jeweils von Oktober bis März statt und waren für je 30 Schüler_innen ausgelegt, die von den Parteibezirken für den Lehrgang vorgeschlagen und von Parteivorstand, Zentralbildungsausschuss und Lehrkörper ausgewählt wurden. Der Großteil der Auszubildenden waren Arbeiter_innen und Handwerker_innen, da der Unterricht aber so zeitintensiv war, dass neben der Parteischule keiner Berufstätigkeit mehr nachgegangen werden konnte, versorgte die Partei während der Kurse sowohl die Teilnehmenden als auch deren Familien. Während der acht Jahre, die die Schule bestand, besuchten insgesamt 203 Schüler_innen die Kurse, darunter waren 14 Frauen, denen es allerdings erst mit dem Reichsvereinsgesetz ab April 1908 erlaubt war, Mitglieder in politischen Vereinen zu werden. Unter den Absolvent_innen der Parteischule finden sich einige spätere Führungsfiguren, wie Fritz Tarnow, der als Mitglied des Parlamentarischen Rats das Grundgesetz mit ausarbeitete, Wilhelm Pieck, erster Präsident der DDR, oder Wilhelm Kaisen, der in der Weimarer Republik zunächst Senator, dann nach 1945 langjähriger Bürgermeister in Bremen und zudem Mitglied des Bundesvorstands der SPD war. Auch Friedrich Ebert belegte 1907/1908 einen Kurs in der Parteischule und war damit zeitweise selbst ein Schüler von Rosa Luxemburg. Der Lehrplan umfasste verschiedene juristische Themenfelder sowie Gewerkschafts- und Genossenschaftswesen, Nationalökonomie, Kommunalpolitik, Marxismus, Rhetorik und Geschichte der politischen Parteien. Den Lehrer_innen war es verboten im Unterricht über aktuelle parteitaktische Themen zu sprechen. Der verschulte Unterricht umfasste 31 Lehrstunden pro Woche, die Vorlesungen und Seminare fanden von montags bis samstags statt. Die übrige Zeit war für das Vor- und Nachbereiten sowie für das Selbststudium vorgesehen. Damit ist eines der Hauptziele der Schule angesprochen, denn über die reine Wissensvermittlung hinaus sollten Methoden gelehrt werden, die zum weiterführenden Selbststudium befähigten – es ging um „selbstständiges Denken und eigenes Können“.

Neun Männer und eine Frau

Der Lehrkörper setzte sich aus zwei hauptamtlich eingestellten Lehrern, die die Schüler_innen auch außerhalb des Unterrichts begleiteten, und nebenamtlich angestellten Lehrern zusammen, wobei die Leitung der Schule Heinrich Schulz oblag. Das Gründungskollegium das aus Rudolf Hilferding, Franz Mehring, Anton Pannekoek, Kurt Rosenfeld, Simon Katzenstein, Heinrich Schulz, Arthur Stadthagen und Hugo Heinemann bestand, wurde später durch Emanuel Wurm ergänzt. Da die Einrichtung unter Beobachtung der preußischen Polizei stand und im Jahr 1907 die Mitarbeit von Ausländern verboten wurde, mussten der österreichische Hilferding und Pannekoek als geborener Niederländer das Kollegium nach dem ersten Kurs verlassen. Den Platz von Pannekoek übernahm Heinrich Cunow – und den von Hilferding?

Eigentlich war Karl Kautsky für die vakante Stelle vorgesehen worden, aber aus Zeitmangel empfahl er stattdessen jemanden, der das Erscheinungsbild der Parteischule maßgeblich verändern sollte: Rosa Luxemburg. „Aus der Gruppe der zehn Lehrer ragte eine kleine Frau hervor, die zweifellos durch ihr pädagogisches Talent und ihren fesselnden Vortrag die Schüler am nachhaltigsten beeindruckte“, so beschrieb Wilhelm Kaisen später die Erscheinung und das Wirken der jüdischen Akademikerin. Sie lehrte vom Oktober 1907 bis zur Schließung der Schule hauptamtlich Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie, wobei ihre Fächer mehr als ein Viertel des gesamten Stundenkontingents ausmachten und laut Stundenplan an vier von sechs Tagen auf dem Programm standen. Sie war eine fordernde Lehrkraft, duldete keine Mitschriften, um die Aufmerksamkeit zu steigern, und erwartete von ihren Schüler_innen dafür eine gründliche Nachbereitung und selbstständige Lektüre. Luxemburg legte viel Wert auf den Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden und unterteilte ihre Unterrichtseinheiten deshalb in einen Vorlesungs- und einen Diskussionsteil. Dabei regte sie die Schüler_innen dazu an, das Gelernte zu hinterfragen und ermutigte sie dazu, Theorien und Schriften zu kritisieren, dabei machte sie auch vor ihren eigenen Schriften nicht halt.

Der Streit um die Theorie

Das Lehrer_innenkollegium umfasste das gesamte politische Spektrum der Partei, jedoch stellte der linke Parteiflügel, dem auch Luxemburg angehörte, fast die Hälfte der Lehrkräfte. Das führte dazu, dass sich bereits vor der Eröffnung der Parteischule, aber auch in den Jahren ihrer Existenz, in der Partei wiederholt Debatten über Zweck und Ausrichtung der politischen Bildungsarbeit entfalteten. Besonderen Raum nahmen in diesen Diskussionen zwei Themen ein: die Uneinigkeiten über Art und Umfang der theoretischen Fundierung der Lehre und die Frage nach der Bildungsorganisation. In dieser Diskussion, die auf dem Nürnberger Parteitag 1908 ihren Höhepunkt fand, zeigt sich letztlich eine Art Fortführung des Revisionismusstreits: Revisionisten wie Max Maurenbrecher und Kurt Eisner kritisierten zum einen, dass es sich bei der Parteischule um eine Elitenschule handle, die die breite Massenbildung vernachlässige und bemängelten damit zusammenhängend die Theorielastigkeit der Lehre. Der linke Parteiflügel hingegen wies den Vorwurf der Elitenbildung entschieden zurück und betonte, dass die Parteischule eine Art Vorstufe für die breite Massenbildung sei, da dort Redakteur_innen, Redner_innen, Organisator_innen und Agitator_innen auf die Bildung der Parteibasis vorbereitet würden. Außerdem wurde eine umfangreiche thematische Fundierung der Lehre propagiert, so behauptete Mehring auf dem Parteitag 1908, die Schule solle zwar kein „Tummelplatz des ‚Marxismus‘ gegen den Revisionismus“ werden, aber das Erziehen der Schüler_innen zum eigenen Denken sei ohne eine wissenschaftliche Methode eben „gar nicht möglich“.

Bildung eint

Das Zitat deutet bereits an, dass sich die verschiedenen innerparteilichen Strömungen zwar im Hinblick auf die methodische Ausrichtung der Bildung widersprachen, dass die Parteischule an sich aber auf einem gewissen Konsens beruhte. Das zeigt sich auch daran, dass trotz der inhaltlichen Divergenzen eine kollegiale Atmosphäre herrschte, in der persönliche Fähigkeiten und pädagogisches Talent auch trotz inhaltlicher Unstimmigkeiten anerkannt und gelobt wurden. Außerdem war das gemeinsame Ziel – die Ausbildung kritischer und selbstbewusster Parteifunktionär_innen – ein einigendes Moment, das die innerparteilichen Strömungen kooperieren ließ. So „waren alle Lehrer einig in dem Bestreben, selbstständiges Denken bei den Schülern zu entwickeln [...]. Insbesondere war es die Genossin Rosa Luxemburg im volkswirtschaftlichen Unterricht, die gegenteilige Äußerungen nicht nur duldete, sondern mit erstaunlichem Geschick kritisches Denken zu provozieren wusste“, wie Fritz Tarnow als Schüler 1909 im Vorwärts beobachtete. Eine besondere Bedeutung für die Einigung der verschiedenen Parteiflügel an der Parteischule kam also Rosa Luxemburg zu, die mit ihrem pädagogischen Talent radikale und revisionistische Schüler_innen gleichermaßen faszinierte. Dass der Parteischule von manchen sogar ein geradezu vereinendes Potenzial zugeschrieben wurde, zeigt ein Statement eines ehemaligen Schülers, der 1908 behauptete die Parteischule sei „zweifellos“ in der Lage innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten aufzuheben und die Partei sogar „näher zusammenzuführen“. Durch das abrupte Ende der Schule 1914 wird man wohl niemals überprüfen können, ob sich diese optimistische Prophezeiung bewahrheitet hätte. Fest steht aber: Die Parteischule war durch ihre Förderung eines kritischen Geistes und eines demokratischen Bewusstseins in der deutschen Arbeiter_innenschaft ein wichtiges Einigungsmoment der Partei. Und die eine Frau unter den vielen Männern hatte daran einen entscheidenden Anteil.

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