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Die Spanische Grippe (im Spiegel des sozialdemokratischen Vorwärts)

von Stefan Müller

Seuchen gehören zur Geschichte der Menschheit und die Coronapandemie stellt hier keine Ausnahme dar. Schon in der Antike wurden Epidemien beschrieben, die an die heutige Grippe erinnern. Die Spanische Grippe von 1918 bis 1920 gilt als die „Mutter aller Pandemien“ und in der aktuellen Krise wird vielfach an sie erinnert. In fünf Teilen veröffentlichen wir wöchentlich einen Beitrag von Stefan Müller, der sich die Spanische Grippe im Deutschen Reich im Spiegel des sozialdemokratischen Vorwärts ansieht.

Der erste Teil führt in die Geschichte von Seuchen und die der Spanischen Grippe ein. Der zweite Teil fragt nach Auswirkungen der ersten und zweiten Welle der Pandemie im Deutschen Reich. Teil drei untersucht entlang populärwissenschaftlicher Darstellungen in der Arbeiter_innenpresse den damaligen bakteriologisch geprägten Kenntnisstand. Auf die Seuchenmaßnahmen und die Gesundheitspolitik des Rats der Volksbeauftragten geht Stefan Müller im vierten Teil ein. Der fünfte und letzte Teil des Beitrags "Die Spanische Grippe (im Spiegel des sozialdemokratischen Vorwärts)" geht der Spur des Erregers der Spanischen Grippe im 20. Jahrhundert nach und fragt, ob die neue Aufmerksamkeit auf Pandemien nicht eine Zeitgeschichte verlorener Zuversicht erfodert.

Inhalt

Teil 1/5   
Seuchen in der Menschheitsgeschichte
Teil 2/5 
Die „Spanierin“ nimmt Quartier in Deutschland
Teil 3/5
Das Virus – eine vermeintlich Bekannte
Teil 4/5
Die Revolution
Teil 5/5
Machen Viren Geschichte?
Literatur

Teil 1/5
Seuchen in der Menschheitsgeschichte

Die Corona-Krise ist eine große Herausforderung. Die Pandemie führt zu einer sozialen, ökonomischen und teilweise auch psychologischen Krise in einer Größenordnung, die vielen Menschen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs unbekannt ist. Es gab niedergeschlagene Aufstände in Osteuropa in den 1950er- und 1960er-Jahren, Diktaturen in Westeuropa bis in die 1970er-Jahre hinein und die Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren. Dennoch: Ausgangssperren und den Abtransport von Leichen durch Militärlaster kennen viele Europäer_innen eigentlich nur durch Berichte aus anderen Weltregionen. In Deutschland sind wir bislang von den enormen Todeszahlen Norditaliens, Spaniens, Frankreichs und Großbritanniens verschont worden. Das Glück, nicht als Erste von der Pandemiewelle getroffen worden zu sein sowie die getroffenen Kontaktbeschränkungen haben Schlimmeres verhindert. Die im europäischen Vergleich milden Einschränkungen werden von der Bevölkerung in hohem Maße akzeptiert. Diese aus der Furcht vor dem Virus gründende Einsicht ist in historischer Perspektive ein Charakteristikum der Corona-Pandemie, denn zumindest die europäischen Gesellschaften waren bis vor kurzem der Ansicht, dass Seuchen ein Phänomen der Vergangenheit seien.

Dabei gehörten und gehören durch Keime ausgelöste Pandemien zur Menschheitsgeschichte. Schon in Texten des antiken Ägypten um 1700 vor unserer Zeitrechnung (v. u. Z.) werden Seuchen erwähnt. Heutige Mediziner vermuten in überlieferten Texten Beschreibungen der Pest und Ägyptologen sehen in Massengräbern Hinweise auf Epidemien. Der altgriechische Historiker Thukydides beschrieb eine Epidemie in Athen der Jahre 430 bis 426 v. u. Z., der ein Viertel der Bevölkerung zum Opfer fiel. Der Begriff der Epidemie selbst (altgriechisch: „im ganzen Volke“) geht auf den griechischen Arzt Hippokrates zurück, einen Zeitgenossen von Thukydides. Die Beschreibung in Buch VI der „Epidemien“ über den „Husten von Perinth“ stellt möglicherweise sogar die erste Darstellung eines Grippeausbruchs dar.

Wie sehr Seuchen das Denken der Menschen prägten, mag man allein daran sehen, dass mindestens zwei der zehn biblischen Plagen – die Viehpest und die Blattern – auf Infektionskrankheiten verweisen.

Am bekanntesten und im historischen Gedächtnis sehr präsent ist der „Schwarze Tod“, die Pest der Jahre 1348 bis 1353, der schätzungsweise 20 Millionen Menschen zum Opfer fielen und die damit zwischen einem Viertel und einem Drittel der europäischen Bevölkerung auslöschte. Weitere Seuchenkrankheiten waren die Pocken, die Ruhr, das Fleckfieber, die Cholera, die Syphilis oder die Malaria. Viele dieser Infektionskrankheiten waren bis in das 20. Jahrhundert hinein in Europa virulent, konnten aber durch die Entwicklung von Antibiotika und Impfungen weitgehend verdrängt werden. Der letzte Pockenfall in der Bundesrepublik rührt aus dem Jahr 1972. Manche dieser Infektionskrankheiten sind in sprachlichen Bildern noch präsent, insbesondere die Pest, und die mit Seuchen verbundenen medizinischen und epidemiologischen Begriffe werden zur abwertenden Beschreibung sozialer Phänomene benutzt (z. B. wenn irgendetwas als „Infektionsherd“ bezeichnet wird oder in kriegerischen Metaphern vor dem „Eindringen“ von „Keimträgern“ gewarnt wird). Am furchtbarsten in seiner Wirkung war sicher die nationalsozialistische Charakterisierung von Jüdinnen und Juden als „Bazillen“ und „Parasiten“ eines „gesunden Volkskörpers“.

Die klassische Seuche im Europa des 20. Jahrhunderts wurde schließlich die Grippe (Influenza). Allerdings sind die Spanische Grippe und die verschiedenen anderen Influenzapandemien seit dem Zweiten Weltkrieg bemerkenswert wenig präsent in unseren Erinnerungen. Die Asiatische Grippe forderte 1957/1958 weltweit vielleicht ein bis zwei Millionen Opfer und in der Bundesrepublik waren es etwa 30.000 Tote. Obgleich die Spanische Grippe zu dem Zeitpunkt keine 40 Jahre zurück lag, wurden die Erinnerungen daran nicht reaktiviert. Stärker war zu der Zeit die Furcht vor Krebs und vor einem Atomkrieg. Auch in der DDR spielte diese Pandemie keine große Rolle. Allerdings gingen die Kranken- und Todeszahlen so hoch, dass auch dort trotz der staatlich gelenkten Presse darüber berichtet wurde. Die Hongkong-Grippe von 1968 bis 1970 mit ihren global etwa eine Millionen Toten erreichte ihren Höhepunkt in der Bundesrepublik im Winter 1969/70. Der Pandemie wurde so wenig Aufmerksamkeit gewidmet, dass nicht einmal die Todes- und Infektionszahlen erhoben wurden. Stattdessen wurde die Hongkong-Grippe in West-Deutschland auch als „Mao“-Grippe bezeichnet und die Pandemie so in die Frontstellung des Kalten Krieges eingepasst. Allerdings zählte man in dem Winter 40.000 Todesfälle mehr als im Vergleichszeitraum der Jahre zuvor (Übersterblichkeit). In der DDR wurde die Pandemie ebenfalls zunächst negiert, doch führte die Hongkong-Grippe dort zum ersten nationalen Pandemieplan, womit die DDR-Führung auf die knapp neun Millionen erfassten Atemwegserkrankungen im Zeitraum von 1969 bis 1971 reagierte. Die Russische Grippe von 1977/78 schließlich mit ihren weltweit 500.000 bis 700.000 Toten ist noch weit weniger im historischen Gedächtnis als die vorhergehenden Pandemien. Erinnerungen an die Spanische Grippe als „Mutter aller Pandemien“ kamen erstmals in den 1970er-Jahren auf, als Mediziner und Epidemiologen für die Impfprogramme der Bundesregierung warben. Ängste weckte dies in der Bevölkerung jedoch kaum. Stattdessen wuchs mit der wachsenden positiven Einstellung gegenüber dem Impfen die Annahme, vor Seuchen geschützt zu sein. Die Gesellschaft wurde zunehmend „immun“.

In den 1990er-Jahren änderte sich der Blick auf die Spanische Grippe, nachdem aus Geweberesten von Verstorbenen, die Jahrzehnte im Permafrostboden Alaskas lagen, Teile des Virus isoliert werden konnten. Der Pathologe Johan Hultin hatte dies bereits 1951 versucht, konnte aber keine Influenzaviren nachweisen. Über 40 Jahre später bat er die Nachfahren auf der Halbinsel Seward erneut um Erlaubnis zur Exhumierung. Schließlich gelang es, das komplette Genom zu entschlüsseln und im Jahr 2005 konnte es sogar nachgebaut werden. Die virologischen Fortschritte, die nicht zuletzt der Entwicklung der Genetik geschuldet waren, führten zu einem wahren Boom an Forschungen über die Spanischen Grippe.
 

Die Seuche, das sind die anderen 

Seuchen sind ansteckende Infektionskrankheiten, die sich von Wirt zu Wirt übertragen und in der Regel innerhalb einer Gattung zirkulieren – also von Vogel zu Vogel oder von Mensch zu Mensch. Gelegentlich kann ein Virus die Gattungsgrenze überschreiten, sodass sich beispielsweise ein Mensch bei einem Vogel infiziert. Den Gattungssprung vollendet hat das Virus, wenn ihn dann Menschen übertragen können. Die Viren der Corona-Gattung wie auch die Grippeviren (Influenza) gehören zu solchen Infektionskrankheiten, beide übertragen sich durch Tröpfchen. Die erste zuverlässig dokumentierte Influenzapandemie war die Russische Grippe der Jahre 1889 bis 1892. Auch diese verlief in drei Wellen und sie wirkte vermutlich insofern auf die Jahre 1918 bis 1920 nach, als dass ältere Menschen der Spanischen Grippe wohl mit einer früher ausgebildeten Hintergrundimmunität begegneten.

In Europa wurde die Spanischer Grippe auch als „Blitzkatarrh“, als „Flandern-Fieber“, „flandische Grippe“, bei Engländern und Amerikanern als „three-day“- oder „knock-me-down“-Fieber, und in Frankreich als „la grippe“, als „bronchite purulente“ (eitrige Bronchitis) oder beim französische Militärärzte als „Krankheit 11“ (maladie onze) bezeichnet. Die Benennung von Krankheiten und insbesondere Seuchen nach ihrem vermuteten Ursprungsort ist nichts Ungewöhnliches. Es ist der Versuch, einem Geschehen auf die Spur zu kommen. Zugleich werden auf diese Weise Krankheiten als etwas Äußerliches gekennzeichnet, als etwas Fremdes, das eingedrungen ist oder eingeschleppt wurde. Der Name Spanische Grippe rührte denn auch aus der Situation des Kriegs. Während in den kriegsführenden Staaten die Pressezensur die Nachrichten über eine neue Influenzawelle beschränkte, war dies in Spanien anders. Der Name Spanische Grippe oder „Spanische Krankheit“ geht letzten Endes auf eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters zurück, die am 27. Mai 1918 von der Erkrankung des spanischen Königs berichtete. (Die Spanier lehnten diese Benennung natürlich ab und deuteten sie als antispanische Propaganda.) Der Influenzaausbruch 1918 war aber nicht in allen Weltgegenden die Spanische Grippe. In Cape Coast, Ghana, wurde die Krankheit nach dem Mann benannt, der als erster daran starb: Mister Kodwo. Für die Brasilianer handelte es sich bei der Influenzawelle 1918 um die „Deutsche Grippe“, für die Polen war es die „Bolschewikenkrankheit“. In vielen Fällen galt: Die Seuche, das sind die anderen. In den Geschichts- und Sozialwissenschaften wird dieser Prozess als „othering“ bezeichnet: Man beschreibt sich und die eigene Gruppe, indem andere Gruppen als fremd und andersartig charakterisiert und häufig auch abgewertet werden. Gut beobachten konnte man dies zuletzt im Umgang mit HIV/AIDS. Die Krankheit, die seit den 1980er-Jahren weltweit mehr als 35 Millionen Tote forderte, galt lange als Krankheit von Schwulen, Drogenabhängigen und Prostituierten. Dass viele Seuchen mittlerweile mit ihrem naturwissenschaftlichem Namen bezeichnet werden ist ein sehr modernes Phänomen (SARS I, MERS, SARS-Cov-2 …). Schuldzuweisungen für die Pandemie finden natürlich trotzdem statt, wie sich beispielsweise an den US-amerikanischen Vorwürfen gegenüber der Weltgesundheitsorganisation (WHO) feststellen lässt.

Die Spanische Grippe verbreitete sich örtlich und zeitlich versetzt in den Jahren 1918 bis 1920 in drei Wellen über die Welt. Wie viele Tote sie hinterließ, kann heute nur geschätzt werden. Gibt es für viele europäische Staaten und die USA durch die etablierte bürokratische und statistische Erfassung ihrer Bürger_innen vielfach zuverlässige Angaben, sieht dies für weite Teile Asiens oder Afrikas anders aus. Die Vermutungen reichen von 20 bis 100 Millionen Toten weltweit, wobei sich viele Autor_innen auf den Bereich zwischen 25 und 40 Millionen Toten verständigen. Welche Zahlen auch stimmen mögen, an der Influenza starben zwischen einem und zwei Prozent der damaligen Weltbevölkerung und damit weit mehr Menschen als auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Die meisten Opfer forderte die Grippe in Asien (mehr als die Hälfte) und auf dem afrikanischen Kontinent. Für das Deutsche Reich wird vermutet, dass 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung im Verlauf des Jahres 1918 an der Spanischen Grippe erkrankten – also 12 bis 15 Millionen Menschen. Rund 300.000 verstarben, wobei die Zivilbevölkerung stärker betroffen war als die Soldaten. Hinzu kamen diejenigen, die an Folgeerkrankungen starben. So werden die in den 1920er-Jahren heftig auftretenden verschiedenen Formen der Encephalitis (einer Entzündung des Gehirns), unter anderem die Europäische Schlafkrankheit, mit der Spanischen Grippe in Verbindung gebracht. Für Großbritannien wurde ermittelt, dass in den Jahren nach der Grippe 240.000 Menschen der Encephalitis erlagen, für Deutschland wird die Zahl auf 60.000 geschätzt.

Die erste Welle der Spanischen Grippe trat ab dem Frühjahr 1918 auf und verlief relativ harmlos. Ein genaues Datum anzugeben, würde insofern wenig Sinn ergeben, als die Influenzapandemie die Weltregionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten traf. Es existieren auch verschiedene Theorien über den Ursprungsort des Virus, also den Ort, an dem es vom Tier auf den Menschen übersprang. Lange vermutete man, dass der Ursprung des Virus in China lag und von dort in die USA gelangte. Eine weitere Theorie geht von einem Ursprung in den Schützengräben der Westfront bereits im Jahr 1916 aus. Gesichert ist aber, dass sich ein junger Geflügelzüchter am 4. März 1918 in Camp Funston (Kansas), einem Ausbildungscamp des US-Militärs, mit Grippesymptomen krank meldete. Viele hundert Rekruten lagen kurz darauf ebenfalls darnieder und das Virus verbreitete sich dann von Kansas aus durch Truppentransporte in rasender Geschwindigkeit entlang der Kriegsschauplätze.

Nachdem die Grippe im Sommer 1918 kurzzeitig verschwunden war, kam sie Ende August allmählich zurück und meldete sich nun an verschiedenen Ecken der Welt gleichzeitig zu Wort (so in Frankreich, in Westafrika oder an der amerikanischen Ostküste). Die zweite und schwerere Welle traf die Menschen in der Zeit von September 1918 bis Jahresende, wobei Europa im Oktober und November fest im Griff der „Spanischen Krankheit“ war. Die ungewöhnliche Heftigkeit der Krankheit und das Faktum, dass insbesondere auch die Altersgruppen zwischen 20 und 40 betroffen waren, führten zu Ängsten und Spekulationen. Gerüchte kamen auf, es würde sich um die Pest handeln. Eine dritte, häufig mildere, aber doch sehr unterschiedlich verlaufende Welle traf die Welt dann von Frühjahr 1919 bis in das Jahr 1920 hinein. Deutschland erreichte sie Mitte Januar 1919 und verlief insgesamt recht milde.

Teil 2
Die „Spanierin“ nimmt Quartier in Deutschland 
 

Mitte April 1918 erreichte die Influenza mit den amerikanischen Truppen Europa. Sie grassierte zunächst in den Feldlagern in Frankreich. Im Mai brachten Verwundete, Kriegsgefangene und auch Fronturlauber die Pandemie nach Deutschland. Die Frühjahrswelle lähmte das öffentliche Leben und forderte auch Todesopfer, aber nicht in dem Maße, dass sie angesichts des Kriegszustands besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. In Deutschland breitete sie sich seit Mitte Juni von West nach Ost aus. Einen ersten Bericht über den Influenzaausbuch in Spanien gab es am 29. Mai in deutschen Zeitungen. Auch der Vorwärts griff die Nachrichten gleich auf. Am 4. Juni berichtete er, dass sich seit 14 Tagen in Spanien eine Epidemie mit großer Geschwindigkeit ausbreite und viele Opfer hinterlasse (Vorwärts, 4.6.1918, S. 3). Allein in Madrid seien 100.000 Menschen erkrankt und in den letzten Tagen etwa 700 Menschen verstorben. Nach diesen dramatischen Meldungen aus Spanien beruhigte sich die Berichterstattung im Reich wieder. Eine Woche später stellt der Vorwärts fest, dass die „heutigen sanitären Maßnahmen […] die Grippe vollkommen unschädlich“ machten. (Vorwärts, 11.6.1918, S. 6) Die sozialdemokratische Zeitung zog einen Vergleich mit der großen Epidemie der 1830er-Jahre und stellte fest, dass die Krankheit dank der Fortschritte der Hygiene und der Medizin in den Griff zu bekommen sei. „Wenn die modernen spanischen Ärzte ihren Turiner Kollegen vor 80 Jahren glichen, würde das Land vermutlich zum größten Teil entvölkert worden sein.“ Den Juni und Juli 1918 über berichtete die Zeitung weiter über Grippeausbrüche im Reich, darunter über den in der Arbeiterschaft eines nicht näher genannten Rüsselsheimer Großbetriebs. Angesichts der unklaren Lage dort wurde der sozialdemokratische Abgeordnete Bernhard Adelung bei der hessischen Regierung vorstellig. Von dieser erhielt er die Auskunft, dass es sich um die Influenza handele, die ihren Höhepunkt aber bereits überschritten habe. Der Vorwärts schloss: „Wenn man auch eine Influenza in gegenwärtiger Zeit nicht gerade leicht zu nehmen habe, so liegt doch kein Grund zu irgendwelcher Beunruhigung vor.“ (Vorwärts, 28.6.1918, S. 7)

Am 1. Juli berichtete der Vorwärts über „Gerüchte“, dass die „Spanierin“ nun auch in der Hauptstadt „Quartier“ genommen habe (Vorwärts, 1.7.1918, S. 3). Die Krankheit sei milde, die aktuelle Häufung dem nasskalten Wetter der vergangenen Tage geschuldet. „Nicht jeder, der in den letzten Tagen vor Frost klapperte, hat deswegen an Schüttelfrost gelitten. Immerhin kann eine gewisse Vorsicht nicht schaden, wenn auch übertriebene Aengstlichkeit erst recht von Uebel ist. Die Zahl derer, die bei solchen Anlässen einer Suggestion erliegen und sich krank glauben, obwohl ihnen nichts fehlt, ist erfahrungsgemäß nicht gering.“

„Die Zahl derer, die bei solchen Anlässen einer Suggestion erliegen und sich krank glauben, obwohl ihnen nichts fehlt, ist erfahrungsgemäß nicht gering.“ Vorwärts, 1.7.1918

Influenzaepidemien waren den Menschen schon lange bekannt. Sie traten auch bereits während des Kriegs auf, sodass man der ersten Welle der Spanischen Grippe keine große Bedeutung zumaß. Dennoch intensivierte der Vorwärts die Berichterstattung mit dem Höhepunkt der ersten Welle. In Meldungen wie die über Störungen im Hamburger Fernsprechverkehr schimmerte das Ausmaß der Pandemie durch (Vorwärts, 4.7.1918, S. 9). Aufgrund von mehr als 160 Krankmeldungen wurden dort die Fernsprechteilnehmer_innen aufgefordert, nur die notwendigsten Gespräche zu führen. Einen weiteren Tag später berichtete die Zeitung, dass in Groß-Berlin nun 80.000 Kinder erkrankt seien (Vorwärts, 5.7.1918, S. 3). Nun sprachen auch die Vorwärts-Redakteure von einer Epidemie. Von Vorteil für die Parteizeitung war sicherlich die Verwurzelung der Sozialdemokratie in den Ortskrankenkassen, an deren Verwaltung die Arbeiterbewegung seit den 1880er-Jahren beteiligt war. So konnte der Vorwärts berichten, dass auch die Zahl der erkrankten Erwachsenen in Berlin nicht gering sei. „Bei den 28 Ortskrankenkassen und den übrigen 200 Betriebskrankenkassen usw. war die Zahl der Krankenanmeldungen so groß, daß mit Sicherheit eine Gesamtzahl von rund 20.000 herauskommt, wovon indes die Krankenabmeldungen abgezogen werden müssen.“ Bereits am 11. Juli 1918 meldete der Vorwärts aber schon für Groß-Berlin den Rückgang der Grippe. Es seien nun mehr „Krankabmeldungen als Krankanmeldungen“ zu verzeichnen (Vorwärts, 11.7.1918, S. 3). 

Die erste Welle der Spanischen Grippe ging im April 1918 von den Feldlagern und Fronten im Westen aus. Sie schwächte damit natürlich auch Millionen deutsche und alliierte Soldaten. An der Ostfront spielte die Grippe keine Rolle, da sich die Krankheit von West nach Ost verbreitete und die großen Kämpfe im Osten zwischen dem Deutschen Reich und dem revolutionären Russland unter Führung der Bolschewiki mit dem Separatfrieden von Brest-Litowsk im März 1918 beendet wurden. Im Westen waren zunächst die alliierten Armeen betroffen und zeitversetzt etwa drei Wochen später das deutsche Feldheer. Die Hochphase der Grippe unter den deutschen Truppen fand somit zum Ende der deutschen Frühjahrsoffensive im Juli 1918 statt. 700.000 bis 900.000 deutsche Soldaten lagen ob der Grippe darnieder. Insgesamt betraf dies rund zehn Prozent der deutschen Truppen und an der Westfront waren mit einer halben Million Soldaten rund 14 Prozent der Truppen betroffen. Während der zweiten Welle erkrankten etwa sechs Prozent der Soldaten. Wie stark die Grippe am Ende den Kriegsverlauf seit März 1918 bestimmte, ist noch in der Diskussion und wird vermutlich nicht definitiv zu entscheiden sein. Auf alle Fälle war sie ein Faktor, der von der militärischen Führung berücksichtigt wurde. General Erich Ludendorff, seit 1916 mit Paul von Hindenburg Kopf der Obersten Heeresleitung (und 1923 am Putschversuch Hitlers in München beteiligt), erinnerte sich an den Juni 1918: „Unsere Armee hatte gelitten. Die Grippe griff überall stark um sich, ganz besonders schwer wurde die Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht betroffen. Es war für mich eine ernste Beschäftigung, jeden Morgen von den Chefs die großen Zahlen von Grippeausfällen zuhören und ihre Klagen über die Schwäche der Truppen, falls der Engländer nun doch angriffe. Er war jedoch noch nicht so weit. Auch die Grippefälle vergingen. Sie ließen oft eine größere Schwäche zurück, als ärztlicherseits angenommen wurde.“ (Ludendorff, S. 514) Beeinträchtigungen des Heeres durch die Pandemie fanden in der Presse natürlich keinen Niederschlag. Die Zensur und die nationale Einstellung der meisten Zeitungen verhinderten dies, sodass die Vorwärts-Meldung über einen milden Ausbruch im Garnisonslazarett in Danzig von Anfang Juli 1918 die absolute Ausnahme blieb (Vorwärts, 2.7.1918, S. 7).
 

„Die Krankenhäuser sind allenthalben so überfüllt, daß selbst Schwerkranke oft keine Aufnahme finden können“ (Die zweite Welle vom Herbst 1918)

Im Herbst 1918 kam die zweite Welle. Im Deutschen Reich erreichte sie ihren Höhepunkt im Oktober und November. Die zweite Welle war heftiger und forderte deutlich mehr Todesopfer als die erste. Für Großbritannien wurde errechnet, dass von allen Grippeopfern der Pandemie 1918/19 etwa zehn Prozent in der ersten Welle ums Leben kamen, rund 64 Prozent in der zweiten und weitere 26 Prozent schließlich in der dritten Welle. Bereits den Zeitgenoss_innen war klar, dass von den schweren Verläufen vor allem Säuglinge sowie die 20- bis 40-Jährigen besonders betroffen waren. Es wurde vermutet, dass in der älteren Generation eine Grundimmunität durch die Pandemie der 1890er-Jahre vorhanden war. Die Krankheit traf die Menschen hart. Während jene, die bereits im Frühsommer erkrankt waren, nun eine gewisse Immunität hatten, starben die erstmalig Infizierten häufig schon zwei Tage nach ihrer Erkrankung. Der Krankheitsverlauf und der Tod waren häufig grausam. Der Arzt und spätere stellvertretende Direktor der Forschungsabteilung des Robert-Koch-Instituts Walter Levinthal schilderte, dass die Kranken unter den Blut- und Wasseransammlungen in der Lunge „gleichsam innerlich ertrinken“ würden (Walter Levinthal, Max H. Kuczynski und Erich K. Wolff, Die Grippe-Pandemie von 1918, Berlin/Heidelberg 1921, S. 56). Zudem tauchte das Virus unvermittelt auf. Niemand konnte sagen, warum die eine Stadt stärker als die andere betroffen war. Es war keine Systematik festzustellen. 

Im militärisch zusammenbrechenden Deutschen Reich berichtete die Presse zunächst nur zögerlich über die neuerliche Grippewelle, und wenn, dann wurde die Gutartigkeit der Krankheit betont. Zum Teil wurde die Influenza auch als Modekrankheit bezeichnet. Kurz bevor die Zahl der Grippeerkrankten im Deutschen Reich ihren Höchststand erreichte – dies war zwischen dem 10. Oktober und dem 15. November der Fall – berichtete der Vorwärts über „zahlreiche neue Fälle“ von Grippeerkrankungen in den Berliner Vororten. Allerdings handele es sich noch nicht um eine Epidemie, die Erkrankungen seien nicht schwer und auf den „Witterungswechsel und die Wärmeschwankungen der letzten Tage zurückzuführen“ (Vorwärts, 9.10.1918, S. 3). Bereits zwei Tage später stellte die Zeitung jedoch fest, dass die Grippe „nicht nur an Ausdehnung stark zugenommen“ habe, „sondern auch die Zahl der schweren und tödlich verlaufenden Fälle“ nun größer sei als „beim ersten Auftreten der sogenannten ‚spanischen Krankheit‘ im Juni dieses Jahres“ (Vorwärts, 11.10.1918, S. 3). Noch immer schien der Vorwärts aber unsicher über den Fortgang der Grippe und wie diese eingeschätzt werden solle. So wird in der kleinen redaktionellen Notiz betont, dass „nach Ansicht der amtlichen Stellen“ Grund zur Besorgnis „vorläufig“ nicht vorliege. Weitere zwei Tage später wurde aber  deutlich, wie stark die Menschen von der zweiten Welle der Spanischen Grippe betroffen waren. Der Vorwärts berichtete, dass die Berliner Ortskrankenkassen den Anteil der Grippekranken an allen Erkrankungen auf 70 Prozent schätzten. „Die Krankenhäuser sind allenthalben so überfüllt, daß selbst Schwerkranke oft keine Aufnahme finden können. […] Im Reich sieht es noch schlimmer aus als in Berlin.“ (Vorwärts, 13.10.1918, S. 3)

Ab Mitte Oktober wurde dann in der bürgerlichen und in der Arbeiterpresse breit berichtet. Zu offensichtlich war nun beispielsweise die öffentliche Infrastruktur betroffen. So musste in München und in Wien der Straßenbahnverkehr um mehr als 50 Prozent reduziert werden. Für Berlin wurde Mitte Oktober gemeldet, dass 15 Prozent der Belegschaft der Verkehrsbetriebe fehlten und in einigen Bereichen der kommunalen Verwaltung gar fast ein Drittel. Vielfach brach auch die Postzustellung zusammen. Der Vorwärts meldete am 21. Oktober für Berlin 601 Erkrankte beim Briefpostamt und 531 Krankmeldungen beim Haupttelegraphenamt (Vorwärts, 21.10.1918, S. 3). Ende Oktober hieß es, dass sich „vielfach die Telegrammmassen nur dadurch bewältigen lassen, daß sie zum Teil mit der Post versandt worden sind“. Und das Reichspostamt empfahl, „Telegraphen nur in unumgänglich nötigen Fällen zu bedienen und alle anderen Mitteilungen – wozu insbesondere auch Glückwünsche und ähnliches gehören – brieflich zu erledigen“ (Vorwärts, 30.10.1918, S. 3). 

Am 16. Oktober 1918 trat der Reichsgesundheitsrat ein zweites Mal im Jahr 1918 wegen der Influenza zusammen. (Seine erste Zusammenkunft anlässlich der Pandemie am 10. Juli wurde in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.) Ausschlaggebend für die Einberufung soll Reichskanzler Max von Baden gewesen sein, der vermutlich selbst an der Grippe erkrankt war. Es galt nun, Gerüchten in der Bevölkerung entgegenzutreten, wonach es sich bei der auftretenden Seuche um die Lungenpest handelte. Der Vorwärts berichte vier Tage später über die Sitzung. So habe die Grippe nach ihrer ersten Welle im Juni und Juli wieder stark zugenommen, erstrecke sich „auf das ganze Reichsgebiet“ und sei nun auch „mit schwereren Erscheinungen verbunden“ (Vorwärts, 20.10.1918, S. 3). Insbesondere verlaufe die Grippe bei jüngeren Personen „ziemlich heftig“ und ende „nicht selten tödlich“, aber es handele sich nicht um die Lungenpest: „Bakteriologische Untersuchungen, die in zahlreichen Fällen vorgenommen worden sind, haben mit Sicherheit ergeben, daß jene Annahme unbegründet ist.“

Der Reichsgesundheitsrat empfahl zwar die Schließung von Schulen, verabschiedete aber keine konkreten Maßnahmen. Im Gegenteil, die Schließung von Veranstaltungsorten wie Kinos, Theatern und anderen hielt der Rat nicht für erforderlich, da sonst die Bevölkerung verunsichert werden könne. Die ökonomische und soziale Lage war schwierig und die Stimmung an der Heimatfront sollte nicht unterminiert werden. Allerdings sah man auch kaum Möglichkeiten, der Grippe entgegenzutreten, da diese sich leicht übertrage und „vorbeugende Maßnahmen auf erhebliche Schwierigkeiten“ stießen. Die Berichterstattung im Vorwärts machte deutlich, dass die Gesellschaft von der Regierung und den staatlichen Stellen mehr erwartete: „Die von der Öffentlichkeit geforderte Schließung der Schulen rechtfertigt sich zweifellos da“, so wird aus dem Reichsgesundheitsrat referiert, „wo unter Schülern und Lehrern die Krankheit herrscht oder wo nach Lage der Verhältnisse eine Einschleppung der Krankheit aus der Familie in die Schule zu befürchten ist.“ (Vorwärts, 20.10.1918, S. 3)

Trotz öffentlich geäußerten Unmuts über das staatliche Nichthandeln wurde die Seuchenbekämpfung seitens der Reichsregierung den lokalen Behörden überlassen. Diese reagierten sehr unterschiedlich. Während beispielsweise die Stadt Dresden unmittelbar mit der Schließung von Veranstaltungsorten reagierte, lief in Leipzig das Leben weiter. In Köln gelang es immerhin nach Kriegsende, also gegen Ende der Pandemie, die Schulen zu schließen. In manchen Städten wurden die Versuche, Theater und Schulen zu schließen, von den Innenministerien der Länder blockiert. Die Schulschließungen gehorchten schließlich dem Zwang des Faktischen: der Pandemie. Am 22. Oktober 1918 wusste der Vorwärts, dass in Berlin bereit 100 Schulen aufgrund der Grippewelle geschlossen waren (Vorwärts, 22.10.1918, S. 3). Nicht ganz zwei Wochen später berichtete das Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend, dass die Stadtverordnetenversammlung noch immer über die Schulschließungen streite, obgleich „von den 300 Gemeindeschulen bereits 216 geschlossen“ seien (Mitteilungs-Blatt, 3.11.1918, S. 3). Die Sozialdemokraten kritisierten, dass die „Seuche mit dem Kriege und der schlechten Ernährung in Verbindung“ zusammen hinge, was man von anderer Seite nicht wahrhaben“ wolle. Die Redakteure des Vorwärts und ganz allgemein die Arbeiter_innenbewegung unterschieden sich in ihrer Wahrnehmung der Spanischen Grippe nicht von bürgerlichen Akteuren. Trotz der vielen Toten erlebten die Menschen den Herbst 1918 nicht als Phase einer todbringenden Pandemie. Vier Jahre Krieg und seine Folgen dominierten das Leben. Aber, und das war durchaus ein Problem, auch die Medizin war noch nicht auf einem Stand, wo sie gegen eine virale Grippe hätte agieren können. Sie verstand sie noch nicht einmal.

Teil 3
Das Virus – eine vermeintlich Bekannte

Der Kampf gegen die Spanische Grippe stand 1918 vor einem zentralen Problem: Viren als Erreger waren zu dem Zeitpunkt noch nicht entdeckt. In den 1870er- und 1880er-Jahren wurden nicht zuletzt durch die Arbeiten Robert Kochs Bakterien als Krankheitserreger identifiziert. Damit wurde das „Zeitalter der Bakteriologie“ eröffnet. Mediziner_innen und Forscher_innen begaben sich auf die Suche nach Bakterien für all die Seuchen, von denen die Menschen heimgesucht wurden. 1892 entdeckte Richard Pfeiffer die kleinen Stäbchenbakterien und meinte, damit auch den Erreger der Influenza ausfindig gemacht zu haben. Da in der Folge dieses „Bacillus influencae“ aber nie bei allen Grippeerkrankten gefunden wurde, blieb die These Pfeiffers nicht unwidersprochen. Forscher_innen vermuteten, dass es noch kleinere, bislang nicht entdeckte „Keime“ geben müsse, die über die Luft verbreitet werden und die für viele Krankheiten verantwortlich waren. Diese Fachdebatten wurden in der Arbeiterbewegung aufmerksam verfolgt. In der Tradition der Aufklärung stehend und dem Motto Wilhelm Liebknechts folgend („Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“) füllten populärmedizinische und -wissenschaftliche Beiträge seit Jahrzehnten die Zeitungen der Arbeiterorganisationen. Kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs klärte der Vorwärts in seiner Unterhaltungsbeilage die Leser_innen über diese „unsichtbaren Krankheitsgifte“ auf (Unterhaltungsblatt/Beilage zum Vorwärts, 3.7.1914, S. 4). Es seien demnach etwa 40 ansteckende Krankheiten bekannt, die „durch so winzige Keime hervorgerufen werden, daß man ihrer auf dem gewöhnlichen Wege nicht habhaft werden kann“. Der Fachbegriff für diese Krankheitserreger sei „filtrierbares Virus“. Im September 1916 besprach der Vorwärts in seiner Beilage die Entstehung der alljährlichen Erkältungskrankheiten (Unterhaltungsblatt /Beilage zum Vorwärts, 17.9.1916, S. 1). Diese entstünden „durch ein im Nasensekret enthaltenes, filtrierbares Bakteriengift“, ein „lebendes Virus (Gift)“, wobei aber der „Beweis der Mikroorganismennatur dieses Virus noch erbracht werden“ müsse. Der Vorwärts referierte hier ein Experiment, in dem mit gezüchteten Bakterienkulturen „Einimpfungsversuche“ gemacht wurden, und die Tatsache, dass diese Impfkulturen noch nach 90.000-facher Verdünnung wirksam seien, belege das Vorhandensein eines „Ansteckungsgiftes“. Der wissenschaftliche Begriff des „filtrierbaren Virus“ selbst entstammte Versuchen, in denen aus infizierten Flüssigkeiten von Tabakpflanzen die Bakterien herausgefiltert wurden, diese Flüssigkeiten aber anschließend noch immer infektiös waren.

Robert Koch und Richard Pfeiffer

Deutsche Forscher_innen waren im ausgehenden 19. Jahrhundert führend in der Bakteriologie. Robert Koch erlangte seinen Ruhm durch die Entdeckung des Tuberkulose-Bazillus, für die er 1905 den Nobelpreis für Medizin erhielt. In der „Deutschen Biografie“ finden sich biografische Informationen zu Robert Koch und Richard Pfeiffer. Weitere Angaben zu Robert Koch bietet auch das Robert-Koch-Institut (RKI) auf seinen Internetseiten.

Die gestiegene Bekanntheit des RKI mit seinen regelmäßigen Pressekonferenzen zur Pandemieentwicklung in Deutschland haben den Namensgeber des Instituts in die Kritik rücken lassen. So behandelte Koch in der Kolonie Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, mit tödlichen Dosen eines arsenhaltigen Mittels Afrikaner_innen gegen die Schlafkrankheit. In Deutschland wären zu dem Zeitpunkt solche medizinischen Experimente nicht möglich gewesen. Der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer fordert aus diesen Grund die Umbenennung des RKI.

Die Frage des pfeifferschen Influenzabakteriums beherrschte auch die Diskussion über die Spanische Grippe 1918. Am 10. Juli trat der vom Reichsgesundheitsamt einberufene Reichsgesundheitsrat zusammen und diskutierte die Frage, ob die Grippe durch das Influenzabazillus ausgelöst werde. Trotz angebrachter Zweifel dominierte die pfeiffersche Annahme. Die „Bakteriologen“ in der deutschen Mikrobiologie waren dermaßen stark, dass das Bakterium trotz aller Zweifel auf der Verbandstagung 1920 offiziell als Erreger der Spanischen Grippe anerkannt wurde. Letztlich spielte es aber auch keine große Rolle. Da es keine wirksamen Schutzmaßnahmen gebe, so der Reichsgesundheitsrat, sah dieser von seuchenpolizeilichen Maßnahmen ab.

„Der beste Schutz bleibt neben peinlicher Sauberhaltung der Hände usw. sich Inachtnehmen vor Erkältung. Erkältung ist eine Störung der Hautfunktion, hervorgerufen durch Kälte.“ Vorwärts, 23.7.1918

In Presse las man nur wenig von dieser Sitzung. Allerdings referierte der Vorwärts am 12. Juli eine Diskussion in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift. Dort musste selbst Richard Pfeiffer eingestehen, dass er nicht in allen Fällen den Influenzabazillus habe nachweisen können und er insofern noch nicht in der Lage sei, „ein definitives Urteil zu fällen“ (Vorwärts, 12.7.1918, S. 8). Etwas über zehn Tage später griff der Vorwärts die widersprüchlichen wissenschaftlichen Ergebnisse erneut auf, ohne dass man eine Lösung wusste. Als Gegenmaßnahme empfahl die Zeitung: „Der beste Schutz bleibt neben peinlicher Sauberhaltung der Hände usw. sich Inachtnehmen vor Erkältung. Erkältung ist eine Störung der Hautfunktion, hervorgerufen durch Kälte.“ (Vorwärts, 23.7.1918, S. 5)

Ein wenig verwirrend in der Rückschau ist, dass der uns heute geläufige Begriffe des „Virus“ bereits verwendet wurde, aber eben einen anderen beziehungsweise unbekannten Inhalt hatte. Das gleiche gilt in ähnlicher Weise für die Begriffe Grippe, Influenza oder Erkältung. Heute kennen wir die Unterscheidung von Viren und Bakterien, während damals von unbestimmten Keimen gesprochen wurde. Die Verwirrung und die sprachlichen Ungenauigkeiten setzen sich bis heute fort, wenn wir beispielsweise von Krankenhauskeimen reden und damit eigentlich spezifische Bakteriengruppen meinen. Auch die Begriffe Grippe und Influenza enthalten eine historisch gewachsene Unschärfe, die bis heute im Alltagsgebrauch zu finden ist. Der Begriff der Grippe stammt aus dem Französischen (Laune, Grille), wird seit dem 18. Jahrhundert verwendet und beschrieb eine Vielzahl an Symptomen. Aus medizinischer Sicht ist die Grippe identisch mit der Influenza (lat. Einfluss), ein seit dem ausgehenden Mittelalter verwendetes Wort, mit dem der Einfluss der Sterne für die Grippe verantwortlich gemacht wurde. Wenn wir heute von der Grippe sprechen, ist in der Alltagssprache nicht immer klar, ob es sich um eine Erkältung, einen grippalen Infekt oder die Influenza handelt. Die umgangssprachliche Magen-Darm-Grippe kann wiederum durch Bakterien und Viren sowie selten auch Parasiten verursacht werden.

Viren sind um bis zu 100-mal kleiner als Bakterien. Dass es Mikroorganismen gibt, die kleiner sind als Bakterien, wurde (wie oben gezeigt) schon lange vermutet. Der wissenschaftliche Nachweis konnte aber erst in den 1930er-Jahren geliefert werden. Erstmals sichtbar machen konnte man Viren dann 1940 mit dem Elektronenmikroskop. Doch auch wenn man das Influenzavirus 1918 bereits gekannt hätte, hätte dies vermutlich wenig genützt. Es standen keine Therapien gegen die Krankheit zur Verfügung. Das Penicillin als Antibiotikum gegen die Lungenentzündung, eine häufige Folge der Spanischen Grippe, wurde erst zehn Jahre später entdeckt. Und auch die Versuche mit Impfstoffen, die aus Schnupfensekreten gewonnen wurden, führten nicht weit. Behandelt wurde die Grippe häufig mit Chinin-Derivaten und teilweise wurde sogar Strychnin eingesetzt. Ersteres kann erhebliche Nebenwirkungen haben, letzteres ist giftig. Die Ärzte jedenfalls rätselten und Heilmittel schossen überall empor. Inmitten der zweiten Welle referierte der Vorwärts Professor Oskar Loew aus München, der die „große Verbreitung der spanischen Krankheit auf die kalkarme Ernährung“ zurückführte und, da Käse und Milch nicht zu bekommen waren, „kristallisiertes Calcium“ aus der Apotheke empfahl (Vorwärts, 19.10.1918, S. 7).

Neben der Unklarheit über das pfeiffersche Bakterium und eine fehlenden Therapie verhinderte das fehlende Wissen über die Übertragungswege eine sinnvolle Bekämpfung der Spanischen Grippe. Während der ersten Welle im Juli diskutierte der Vorwärts die Geschichte von Grippeepidemien und der Maßnahmen gegen Pandemien. Es war zwar bekannt, dass sich die Grippeerreger im Nasensekret finden, allerdings wurde vermutet, die Keime würden sich über die Luft verbreiten. Der Vorwärts zitierte den Berliner Mediziner Paul Fürbringer: „Ihre Keime müssen zur Zeit der großen Epidemien in ungeheurer Menge die Luft über Ländern und Meeren, wie aus gigantischer Pandorabüchse, erfüllen.“ (Vorwärts, 4.7.1918, S. 3). Ferner referierte der Vorwärts die breit vertretene wissenschaftliche Auffassung, wonach hoher Luftdruck Epidemien begünstige. So werde hierdurch Ozon nach unten gedrückt, was die Atemwege reize und eine gute Vorbedingung für die Keime sei. Hinzu käme, „daß der dauernd absteigende Luftstrom die Atmosphäre nahe dem Erdboden wahrscheinlich mit Krankheitserregern anreichert, namentlich bei fehlendem Sonnenschein, während umgekehrt der bei niedrigem Luftdruck aufsteigende Strom die Bakterien hinwegführt“. Die Zeitgenoss_innen waren somit der Meinung, dass man kaum etwas gegen die Gruppe unternehmen könne. „Bettruhe und vorsichtige Diät haben sich als das einzige und beste Bekämpfungsmittel erwiesen.“ 

„Bettruhe und vorsichtige Diät haben sich als das einzige und beste Bekämpfungsmittel erwiesen.“ Vorwärts, 4.7.1918

Atemschutzmasken wurden zwar weltweit durchaus genutzt – man findet entsprechend viele Fotografien aus den USA – im Deutschen Reich wurden sie aber kaum getragen. Von manchen Ärzten wurde das Tragen eines Nase-Mund-Schutzes gar als Maßnahme verspottet, die aus der mittelalterlichen Pestbekämpfung stamme. Die Auffassung, die Erreger würden über die Luft verbreitet führte sogar vielfach zum Gegenteil sinnvoller Maßnahmen. Anstatt sich im Freien an der Luft aufzuhalten, schlossen die Menschen die Fenster.

Teil 4
„Alle Vorsichtsmaßregeln (…) sind durch die Ereignisse unmöglich gemacht worden“  – Die Revolution

Am 9. November 1918 stürzten das Kaiserreich und die preußische Herrschaft. Die Macht auf der Straße lag nun in den Händen von Arbeiter- und Soldatenräten. Als neue Regierung konstituierte sich der Rat der Volksbeauftragten aus Vertretern von SPD und USPD. 

Die zweite Welle der Influenzapandemie war zu dem Zeitpunkt zwar immer noch Teil katastrophaler Lebensverhältnisse einer Kriegsgesellschaft, aber sie war bereits im Abklingen. Im Vorwärts fanden sich den ganzen November über Todesanzeigen mit Verweisen auf die Grippe, eine größere Berichterstattung war sie jedoch nicht wert. Ende des Monats berichtete die Zeitung, dass das Statistische Amt nun erstmals wieder Todeszahlen veröffentlicht habe. Diese belegten für Berlin eine im Vergleich zum Vorjahr größere Sterblichkeit durch die Grippe um mehr als das Doppelte. Die schweren Auswirkungen der Influenza schrieb der Vorwärts aber nach wie vor den Kriegsbedingungen zu. „Sicherlich hätten Grippe und Lungenentzündung nicht diese furchtbaren Opfer gefordert, wenn nicht die Bevölkerung durch die Unterernährung von vier Kriegsjahren auf äußerste geschwächt und entkräftet wäre.“ (Vorwärts, 25.11.1918, S. 3) Besondere Furcht hatten die Menschen eher vor den klassischen Seuchen, die frühere Kriege mit sich brachten. Und tatsächlich brachen die Cholera und die Ruhr (zwei durch verseuchtes Wasser auftretende bakterielle Durchfallerkrankungen) in russischen Gebieten aus. Die Menschen im Reich blieben davon jedoch verschont. Fleckfieber oder Malaria traten ebenfalls auf, waren aber Probleme insbesondere in Kriegsgefangenenlagern. Der Umgang und die Meldepflicht seltener Krankheiten wie der Lepra, der Pocken oder der Beulenpest waren mit dem Reichsseuchengesetz aus dem Jahr 1900 geregelt.

Nicht geregelt war darin aber beispielsweise die Syphilis, eine im Wesentlichen durch Schleimhautkontakt übertragene bakterielle Erkrankung, die zur Zerstörung des zentralen Nervensystems führen kann. Zudem galt das Gesetz nicht für die Armee. Die Revolutionsregierung, also der Rat  der Volksbeauftragten, konzentrierte sich somit vor allem auf die Frage der Geschlechtskrankheiten.
Schon während des Kriegs war die Einschleppung von Geschlechtskrankheiten durch Soldaten, die in den besetzen Ländern Bordelle aufgesucht hatten, ein Thema. Da in Russland auch andere Infektionskrankheiten auftraten, blickte die Reichsregierung insbesondere auf die Ostfront. So beriet die Regierung seit 1916 darüber, wie die nach einem Frieden zurückkehrenden Truppen aus dem Osten unter Quarantäne gestellt werden könnten. Dieses Vorhaben scheiterte am Widerstand des Oberbefehlshabers Ost. Trotz intensiver Beratungen auf Reichsebene wurde bis zum Kriegsende ein Infektionsschutzgesetz mit Blick auf die Wehrmacht nicht verabschiedet. Im Sommer 1918 war zwar ein Gesetzentwurf weit vorangeschritten, aber der militärische Zusammenbruch überholte die Debatten. Kurz nach der Revolution wandte sich das Reichsgesundheitsamt an die Regierung und erinnerte an den im Sommer beratenen Entwurf und die darin angestellten Quarantäneüberlegungen. Wenige Tage später, am 20. November 1918, gab die Regierung eine im „Reichsamt für die wirtschaftliche Demobilisierung“ vorbereitete „Verordnung über die Verhütung von Seuchen“ heraus, mit der die Untersuchung aller Soldaten angeordnet wurde (Vorwärts, 23.11.1918, S. 2). 

Der Zusammenbruch der Westfront und die harschen Waffenstillstandsbedingungen vom 11. November – darunter der Rückzug aller Truppen aus den besetzten Gebieten im Westen innerhalb von 15 Tagen – machten ein organisiertes Vorgehen aus der Perspektive des Infektionsschutzes aber unmöglich. In der Ausgabe vom 23. November publizierte der Vorwärts den Brief eines Arztes und Sozialdemokraten, der hierüber seine tiefe Sorge ausdrückte. „Das aufgelöste Heer strömt von den Grenzen in die Heimat zurück. Alle Vorsichtsmaßregeln – Quarantäne, Entlausung, allmählicher Abschub der Truppen – sind durch die Ereignisse unmöglich gemacht worden. In den einzelnen Garnisonen ist man vielfach außerstande, die verschiedenen Truppentransporte zu entlausen usw. Durch die Einquartierung werden Krankheiten und Ungeziefer in den Behausungen der Bevölkerung verschleppt, kurz es besteht die Gefahr, daß jetzt am Schlusse des unheilvollen Weltkrieges noch Seuchen den Rest der Volkskraft verzehren.“ (Vorwärts, 23.11.1918, S. 2)

Den Revolutionären bliebt letztlich nichts anderes übrig, als auf Freiwilligkeit zu setzen und an die Einsicht der Soldaten zu appellieren. Am 16. November 1918 verabschiedete der Berliner Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte (der bis zum Reichsrätekongress im Dezember eine Kontrollinstanz der Regierung der Volksbeauftragten war) einen Aufruf, sich bei Verdacht einer Seuche untersuchen zu lassen.

„Männer und Frauen! Soldaten und Matrosen! Das höchste Gut des Volkes ist seine Gesundheit. Der Volksgesundheit droht schwerste Gefahr, wenn bei der schnellen Demobilmachung Seuchen und sonstige ansteckende Krankheiten auftreten oder gar sich häufen. Diese ungeheure Gefahr muß abgewandt werden. Jeder Soldat, bei dem der Verdacht einer ansteckenden Krankheit besteht, suche sofort einen Arzt oder das Lazarett auf und verbleibe so lange in der Behandlung, bis der Arzt ihm sagt, daß sein Leiden nicht mehr ansteckend ist. Die bewährten Maßnahmen der Heeresverwaltung sind aufs peinlichste zu befolgen. Wer verlaust ist, sorge für schleunige Entlausung. Ansteckende Krankheiten sind besonders Fleckfieber, Ruhr, Cholera, Typhus, Diphtherie und die Geschlechtskrankheiten. Wer sich nicht in Behandlung begibt, oder das Lazarett vorzeitig verläßt, versündigt sich schwer:
1. an sich selbst, weil sein Leiden später schwer oder gar nicht mehr zu heilen ist,
2. an seiner Familie und seinen Angehörigen, die er mit Ansteckung schwer bedroht,
3. an der Gesundheit des ganzen Volkes.
Das ist der Rat, den Euch erfahrene und um das Volkswohl besorgte Ärzte geben.“ (Gerhard Engel, Bärbel Holtz und Ingo Materna, Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution. Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revolution bis zum 1. Reichsrätekongreß, Berlin 1993, S.84-85)

Weder die Seuchenverordnung noch die Aufrufe zur freiwilligen Untersuchung hatten die Influenza im Blick. Dies lag zum einen an der sowieso fehlenden Aufmerksamkeit für die Grippe als pandemische Krankheit, zum anderen daran, dass die zweite Welle der Spanischen Grippe nun abklang. Da weitere Seuchen gleichfalls im großen Umfang ausblieben, lag der Fokus auf den Geschlechtskrankheiten. Am 17. Dezember 1918 gab die Regierung eine Verordnung über die Fürsorge geschlechtskranker Heeresangehöriger heraus, die Meldepflichten und Strafen beinhaltete und aus der rund neun Jahre später das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten wurde.
 

Ausdehnung der Krankenversicherung durch den Rat der Volksbeauftragten

Die zentrale gesundheitspolitische Maßnahme der Revolutionsregierung in der kurzen Zeit ihres Bestehens (am 19. Januar 1919 wurde die Nationalversammlung gewählt) war die Ausweitung der Krankenkassenpflicht auf größere Teile der Beschäftigten. Diese hatte mit der Spanischen Grippe nicht zu tun, soll aber hier nicht unerwähnt bleiben. Mit ihrer „Verordnung über die Ausdehnung der Versicherungspflicht und der Versicherungsberechtigung in der Krankenversicherung“ vom 22. November 1918 mussten sich nun Beschäftigte mit einem Jahreseinkommen von bis zu 4.000 anstatt zuvor 2.500 Reichsmark in der staatlichen Krankenkasse versichern. Und bis zu einem Jahreseinkommen von nun 5.000 Mark (zuvor 4.000) konnte man freiwillig der staatlichen Versicherung beitreten. Die Sozialdemokratie hatte diese Forderung bereits zu Kriegszeiten erhoben, um so die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung auszuweiten und auch mehr Kassenbeiträge zu generieren. Nicht zuletzt handelte es sich aber auch schlicht um eine Reaktion auf die Inflation und damit die nominell (nicht real) höheren Löhne im Krieg. Im Frühjahr 1918 hatte sich auch die Zentrumspartei dieser Forderung angeschlossen, sodass sich die Revolutionsregierung im November auf eine breite Basis für ihre Maßnahme stützen konnte. Dass der Rat der Volksbeauftragten sich die Organisationen der Ärzteschaft damit nicht zu Freunden machte, wundert nicht. Die Ärzte fürchteten um Einnahmen aus der Behandlung von Privatpatient_innen und sogar eine Verstaatlichung des Gesundheitswesens. Der Rat der Volksbeauftragten kam der Ärzteschaft durch eine Erhöhung der Entgelte bei kassenfinanzierten Leistungen entgegen, was aber keinen Stimmungswechsel in der Ärzteschaft herbeiführte. Diese blies bis 1933 konservativ. 

Die Pandemie hatte keinen unmittelbaren Einfluss auf die Politik des Rats der Volksbeauftragten wie beispielsweise in Form von Eindämmungsmaßnahmen der Seuche. Allerdings wurde die Grippe im Hinblick auf die Versorgungslage bewertet. So fand sie indirekt Eingang in die Politik der beiden sozialdemokratischen Regierungsparteien. 

Es ist belegt, dass insbesondere die zweite Influenzawelle auf dem Land zu wirtschaftlichen Problemen führte, da Arbeitskräfte bei der Ernte fehlten. Bereits in seiner ersten Erklärung, kurz nachdem ihm die Regierungsgeschäfte übertragen worden waren, sprach Friedrich Ebert von der Sicherstellung der Nahrungsversorgung als allererste Aufgabe. Mit der Leitung des Reichsernährungsamts wurde der auch unter den Mehrheitssozialdemokraten anerkannte USPD-Vertreter Emanuel Wurm  betraut. Am 15. November bildete dieser unter seiner Leitung einen interministeriellen Ausschuss zu Ernährungsfragen, dessen weitreichende Vollmachten sogar auf den Protest der Arbeiter- und Soldatenräte stieß. Noch zu Beginn des Dezember 1918 war die Versorgung mit Lebensmitteln dermaßen miserabel, dass mit einem Kollaps im Frühjahr gerechnet wurde. Neben der Grippe, die die Kartoffelernte verzögert hatte, kam gegen Ende November der Wintereinbruch in Westpreußen hinzu. Hierauf machte insbesondere die USPD aufmerksam (Freiheit, 22.11.1918, S. 4). Einige Tage später warnte Emanuel Wurm auf der Reichskonferenz der deutschen Bundesstaaten davor, „die Fehler der alten Durchhalte-Regierung zu beschönigen, der wirtschaftliche Zusammenbruch sei ohnegleichen.  Der Ausfall der Kriegsgefangenen bei der Ernte von Hackfrüchten [Kartoffeln, Rüben etc.], die Grippe und der Kohlenmangel hätten auf die Bearbeitung von Zuckerrüben, auf die Mühlenbetriebe usw. verheerend gewirkt.“ (Vorwärts, 27.11.1918, S. 1) Die Spanische Grippe bestimmte zwar nicht das Handeln der Politik 1918, fand aber aufgrund der schlechten Lebensverhältnisse, die durch die Pandemie verschärft wurden, Eingang in die Überlegungen und Analysen des Rats der Volksbeauftragten.

Teil 5
Machen Viren Geschichte?

Die Revolution in Deutschland fand inmitten der zweiten Influenzawelle statt. Auch wenn es an definitiven Belegen fehlt, ob und inwiefern die Pandemie auf den Zusammenbruch des Kaiserreichs und die Revolution wirkte, spricht doch einiges dafür, dass die Grippewelle zumindest die negative Gesamtstimmung in der Bevölkerung verstärkte. Der Influenzatod reihte sich zunächst ein in Hunger und Mangelerscheinungen, in Kälte und Armut, in Invalidität und Tod auf den Schlachtfeldern. Gegen Ende Oktober wurde die Pandemie aber so schwer, dass sie zumindest in den Augen einiger Zeitgenossen alles andere überlagerte. Am 20. Oktober 1918 schrieb der Heidelberger Mediävist Karl Hampe in sein Tagebuch: „Die städtische Bevölkerung steht gegenwärtig noch mehr unter dem Eindruck der bösartigen Grippe als unter den großen Niederlagen.“ (Reichert/Wolgast, S. 761). Der Münchener Privatgelehrte und spätere Nationalbolschewist Hans von Hentig führte gar die Forderung nach dem Achtstundentag auf fehlende Nahrung, Erschöpfung sowie die „toxischen Nebenerscheinungen der Grippe“ zurück (zitiert nach Manfred Vasold, S. 411). In beiden Fäll handelte es sich um sehr persönliche Eindrücke, bei von Hentig zudem um eine stark ideologisch vorgefärbte Haltung, sodass sie nicht als Belege für den Einfluss der Pandemie gelten können.

In der historischen Forschung jenseits der Medizingeschichte wird die Grippe bislang wenig beachtet. Die Geschichtswissenschaft misst ihr auch keine große Rolle beim Zusammenbruch des Kaiserreichs zu. Die Grippe wird als Teil der allgemeinen Not eingeordnet, die diese verschärfte. Abgesehen von den zitierten Einzelstimmen ist der Forschungsstand, dass die der Mehrheit der Zeitgenoss_innen die Influenzapandemie nicht als eigenständige Krise wahrnahm. Die Dominanz des Kriegsleids, die Ungleichzeitigkeit der Influenzaausbrüche und vor allem die unterschiedliche Intensität, mit der einzelne Regionen getroffen wurden, führten in den Jahren 1918 bis 1920 nicht zu einer einheitlichen Grippeerfahrung. Und hinsichtlich des Kriegs gilt, dass die Spanische Grippe nicht nur die deutschen, sondern auch die alliierten Truppen schwächte, nur eben zeitversetzt. Seitens der Forschung geht lediglich Manfred Vasold über diese Einschätzung hinaus und schreibt der Pandemie einen direkten Einfluss auf die Geschichte der Weimarer Republik zu. Da die Spanische Grippe insbesondere Menschen im mittleren Lebensalter von 20 bis 40 Jahren betraf und Kinder und alte Menschen in der Tendenz verschonte, habe sie zur Überalterung der deutschen Gesellschaft beigetragen, negative Auswirkungen auf die Produktionsleistung während der Weimarer Republik gehabt und einen innerdeutschen Konservativismus gefördert. Wirkliche Belege gibt es hierfür aber nicht und diese Einschätzungen scheinen spekulativ. 

In eine ähnliche Richtung geht aktuell eine ökonomische Studie an der Federal Reserve Bank of New York, die eine Korrelation von Influenzatoten der Spanischen Grippe und der Wahl der NSDAP sieht. So seien in den besonders betroffenen Städten die Sozialausgaben in den Folgejahren zurückgegangen, was die Sympathien für den Nationalsozialismus befördert habe. Aber auch hier gilt, dass statistische Korrelationen noch keine Kausalitäten (Ursachen) darstellen.

Die Rückkehr der Seuchen (Is there glory in prevention?)

Die Identifizierung des Virus der Spanischen Grippe (A/H1N1) in den 1990er-Jahren und dessen Rekonstruktion in den 2000er-Jahren brachten die Grippe sowie durch Erreger ausgelöste Pandemien zurück in das Bewusstsein von Öffentlichkeit und Politik. Große Aufmerksamkeit erhielt die 1997 erstmals in Hongkong aufgetretene und sich seit 2003 über Asien und Europas verbreitende sogenannte Vogelgrippe. Hierbei handelt es sich um einen unter Vögeln verbreiteten Influenzavirus, der aber gelegentlich auch Menschen infiziert und dann tödlich ist. Die WHO und einzelne Regierungen haben daraufhin Pandemiepläne erstellt. Die Spanische Grippe wurde nun gelegentlich als historische Warnung genannt. Die Sorge besteht darin, dass das Virus (wie es generell bei Viren möglich ist) nicht mehr nur von Tier zu Mensch übertragbar ist, sondern mutiert und sich schließlich auch Menschen gegenseitig infizieren können. In einem Gutachten für den Deutschen Bundestag aus dem Jahr 2005
heißt es, dass eine „derartige Mutation […] ggf. einer weltumspannenden Epidemie (Pandemie) den Boden bereiten [würde], deren Auswirkungen die der Spanischen Grippe, der zwischen 1918 und 1920 weltweit bis zu 40 Millionen Menschen zum Opfer fielen, noch übertreffen könnten“. Eine Folge der Vogelgrippe war 2005 die Gründung des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten. Der Ausbruch des SARS-CoV-Virus 2002/2003 in China brachte die Bedeutung einer globalisierten Ökonomie mit ihrer durch transnationale Verkehrswege enorm beschleunigten Verbreitung von Erregern ins Bewusstsein.  Außerhalb Asiens starben zwar nur wenige Dutzend Menschen, aber Pandemien gelten zumindest in Kreisen der Expert_innen seitdem als sehr wahrscheinlich. In der Bundesrepublik befasste sich 2007 die dritte bundesländerübergreifende Krisenmanagementübung (LÜKEX 2007) mit einer Influenzapandemie und ihren möglichen schwerwiegenden gesellschaftlichen Folgen. In der Auswertung von LÜKEX 2007 heißt es – die Entwicklungen des Jahres 2020 prognostizierend –, dass vorausschauende strategische Entscheidungen in den Krisenstäben fehlten und auch die Bund-Länder-Koordination verbessert werden könne.
 

Mit der sogenannten Schweinegrippe meldete sich im Jahr 2009 die Spanische Grippe zurück. Sie wurde wie die Pandemie 1918 durch einen Subtyp des Influenzavirus A/H1N1 ausgelöst. Man befürchtete 2009 eine gewaltige Pandemie und war am Ende überrascht, dass ältere Menschen weniger stark betroffen waren und aus diesem Grund die Pandemie auch nicht so tödlich verlief wie befürchtet. Die anfänglichen negativen Prognosen der Forschung führten zu einem Unbehagen in Teilen der Bevölkerung. Verbreitet war die Annahme, dass kommerzielle Interessen der Pharmaindustrie hinter den von Forscher_innen entworfenen Katastrophenszenarien standen. Es stellte sich aber erst im Verlauf der Pandemie heraus, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen über ein sogenanntes immunologisches Gedächtnis an den Erreger der Spanischen Grippe verfügten und eine Kreuzimmunität zwischen den beiden Viren bestand. Diese Bevölkerungsgruppen waren gegenüber der „Schweinegrippe“ gewappnet. Und man war nun auch in der Lage, die Geschichte des Virus selbst zu schreiben. Das Virus der Spanischen Grippe zirkulierte bis zum Jahr 1957, wo es auf globaler Ebene mit der Asiatischen Grippe durch einen anderen Virus abgelöst wurde. 20 Jahre später tauchte A/H1N1 aber unvermittelt in einer Pandemiewelle wieder auf (Russische Grippe 1977/1978). Anschließend ging man davon aus, dass das Virus nun tatsächlich verschwunden war. Allerdungs muss sich die „Spanierin“ an bislang unbekannten Orten der Welt versteckt gehalten haben, sodass sie im Jahr 2009 – also weitere 30 Jahre später – die „Schweinepest“ verursachen konnte. Die geringe Letalität 2009 rührte nun daher, dass ausreichend viele Menschen über 52 Jahre alt waren, also vor 1957 geboren waren und ihre grippale Ersterfahrung mit einem Subtyp des Virus der Spanischen Grippe gemacht hatten. Insofern verfügten viele ältere Menschen (neben den Jahrgängen um 1978/1978) über ein immunologisches Gedächtnis an die Spanische Grippe.

Kehren nun die Seuchen zurück? In historischer Perspektive muss man sagen, dass sie nie verschwunden waren. Das 20. Jahrhundert war in epidemiologischer und virologischer Perspektive eine Epoche der Grippepandemien. Die Geschichte der Spanischen Grippe und die Erinnerungen an diese und andere Pandemien des 20. Jahrhunderts zeigen, dass die Wahrnehmung und Wertung der Seuchen nie alleine von Fall- oder Todeszahlen abhing. Wenn die Angst vor Krebs, vor dem Atomkrieg oder wie im Westen die Furcht vor dem Kommunismus die Deutungen der Welt dominieren, verschwinden die Pandemien trotz ihre Millionen Toten. Das tödliche Virus der Spanischen Grippe war – Achtung! – das gesamte Jahrhundert über virulent, aber das Bewusstsein für und die Wahrnehmung von pandemischen Gefahren war gering ausgeprägt. Dies änderte sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Die zumindest in Europa und den USA sich immun glaubenden Gesellschaften sehen sich seit etwa 20 Jahren vermeintlich neuen Gefahren gegenüber. Diese gewandelten Wahrnehmungen zu erklären, müsste Anspruch einer Gesellschaftsgeschichte der Gegenwart sein. Gefragt werden kann hier, welche Rolle die Globalisierungsdynamik der vergangenen Jahrzehnte spielte und welche Bedeutung dem Ende des Systemkonflikts mit seinem „Eisernen Vorhang“ zukommt. Gefragt werden kann nach der Rolle von Wissenschaft als Erklärung und Stichwortgeberin für Lösungen gesellschaftlicher Probleme. Geschrieben werden muss vielleicht auch eine Zeitgeschichte der Zuversicht oder des Verlusts an Zukunftshoffnung.

„Veranstaltungsstopp und Schulschließungen in Kombinationen sind extrem effizient – vor allem, wenn man das mehr als vier Wochen durchhält.“ Christian Drosten, 12.3.2020

In der aktuellen Coronakrise führen Erinnerungen an und Forschungen über die Spanische Grippe – geht man vom Alltagsverständnis aus – zu so einleuchtenden wie zugleich schlichten Erkenntnissen: Die Einschränkung von physischen Kontakten und das Tragen eine Mund-Nase-Schutzes verringern die Ansteckungsfahr und können die Pandemie sogar zum Stillstand bringen. Eine Forscher_innengruppe verglich 2007 die sehr unterschiedliche Entwicklung der Spanischen Grippe in 43 US-amerikanischen Städten und stellte fest, dass das frühe Schließen von Schulen und die Absage von Großveranstaltungen die pandemische Welle abflachte und zu weniger Todesfällen führte. Der aktuell wohl bekannteste deutsche Virologe, Christian Drosten, äußerte selbst in seinem Podcast, dass er diese Studie bis vor kurzem nicht kannte und die Erkenntnisse für relevant hält. „Die Konsequenz des Papers ist: Es nützt extrem viel, zwei oder mehr Maßnahmen zu kombinieren. Veranstaltungsstopp und Schulschließungen in Kombinationen sind extrem effizient – vor allem, wenn man das mehr als vier Wochen durchhält.“ (Christian Drosten, S. 2) Dies war kurz vor dem Lockdown in Deutschland. Heute – einige Monate später – können wir mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen großen Schaden von uns abgewendet haben. Insofern kann man sagen: (Medical) history matters.


Stefan Müller, Bonn 2020

Literatur

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