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Eine digitale Agenda für Europas Wirtschaft

demokratisch • nachhaltig • gerecht - Blogbeitrag von Justin Nogarede und Stefanie Moser

Dieser Beitrag ist Teil der Blogreihe zum #DigiCap-Kongress vom 15. Bis 19. November 2021 Digitale Agenda für Europas Wirtschaft: – demokratisch • nachhaltig • gerecht.


Europas Wirtschaft am Scheideweg

Das aktuelle Jahrzehnt soll Europas digitale Dekade werden. Die europäische Wirtschaft steht allerdings gleich vor einer doppelten Transformation: sie soll digital und grün werden. Sollte dieser zweifache Umbruch gelingen, wird er unsere Wirtschaft radikal verändern. Während das Ziel der Nachhaltigkeitswende von Seiten der EU klar definiert ist – Klimaneutralität bis 2050 – ist das Ziel der Digitalwende weit weniger eindeutig. Wie muss eine europäische Wirtschaft für das digitale Zeitalter gestaltet sein? Und in wie weit wird sich Europas Wirtschaftsmodell der Zukunft nicht nur von der Gegenwart abheben, sondern auch vom amerikanischen bzw. chinesischen Modell eines digitalen Kapitalismus unterscheiden? Obwohl die EU unzählige Strategiepapiere für den digitalen Wandel produziert hat, fehlen noch immer Antworten auf diese zentralen Fragen.

Digitalisierung ist kein Selbstzweck, wird aber zu oft von Entscheidungsträger_innen als solcher behandelt. Für viele scheint „digital“ nicht nur für eine effizientere Gestaltung der Wirtschaft zu stehen, sondern für den gesellschaftlichen Fortschritt selbst. So drängt die Strategie der Europäischen Kommission, der Digitale Kompass 2030, auf eine rasche Digitalisierung von Unternehmen und Behörden, ohne dabei ernsthaft auf ökologische oder soziale Fragen einzugehen. Dabei sind die Effekte der Digitalisierung gerade in dieser Hinsicht bestenfalls ambivalent: Internetplattformen und algorithmische Systeme schränken die Autonomie von Bürger_innen und Arbeitnehmer_innen oft ein und es scheint, als würden Rechenzentren, Künstliche Intelligenz (KI) und Blockchain-Technologie den Verbrauch knapper Ressourcen eher steigern, als die Produktion auf nachhaltigere Gleise zu lenken. Es ist deshalb höchste Zeit, dass Europas progressive Kräfte ein Modell für die Wirtschaft der Zukunft entwickeln, in dem der digitale Wandel dem Gemeinwohl dient, das demokratisch, nachhaltig und gerecht ist.

Die Digitalisierung ist nicht neu, sondern bereits jetzt integraler Bestandteil der Wirtschaft und des täglichen Lebens. Große Technologiekonzerne führen global die Listen der Unternehmen mit den höchsten Börsenbewertungen an und sie kontrollieren wichtige Ressourcen: von der Rechenleistung über die Datenspeicherung und Datenanalyse (Cloud und KI), bis hin zu wichtigen Verbraucherdiensten (Internetsuche, App-Stores). Die EU arbeitet gegenwärtig an verschiedenen Gesetzen, mit denen die Vormacht bzw. der Machtmissbrauch von Big Tech adressiert werden soll. Doch auch diese Regulierungsansätze werden bestenfalls das aktuelle System zu mehr Rechenschaft und Transparenz verpflichten, zu einer echten Neuausrichtung wird es nicht kommen. Das bedeutet, dass die großen Technologieunternehmen weiterhin das Tempo und die Marschrichtung des technologischen Wandels – unseres kollektiven technischen Vorstellungsvermögens, wenn man so will – bestimmen werden und zwar in eine Richtung, von der vor allem das Kapital profitiert.

Wenn wir eine Transformation wollen, die die Rechte von Arbeitnehmer_innen stärkt, den Klimazielen dient und dem Gemeinwohl, müssen wir uns aktiv in die Entwicklung und Governance von digitalen Technologien einbringen. Die EU steht kurz davor Hunderte von Milliarden Euro zu investieren, um sicherzustellen, dass die sozial-ökologische Transformation und somit auch das Comeback Europas nach der Covid-19-Krise gelingt. Jetzt ist der Moment, den Diskurs über das digitale Europa in eine progressive Richtung zu lenken. Ansonsten müssen wir uns möglicherweise mit einer technologischen Revolution abfinden, die an anderer Stelle gestaltet wird und die die gesellschaftlichen und ökologischen Fehlentwicklungen der Gegenwart weiter verschärft.

Wenn wir es ernst meinen mit der Entwicklung eines Wirtschaftsmodells für das digitale Zeitalter, das sowohl europäischen Werten als auch progressiven Zielen Rechnung trägt, müssen wir uns folgenden Fragen und Herausforderungen stellen:

 

Schöne neue Welt oder die Fortsetzung des Kapitalismus mit anderen Mitteln?

Viele behaupten, dass die Digitalisierung, also auf Rechenleistung und Daten gestützte technologische Innovationen in Industrie und Wirtschaft, beispiellose ökonomische Möglichkeiten birgt. Manche sprechen sogar davon, dass sie das Wesen des Kapitalismus selbst verändere – man siehe nur die Flut an Büchern über “kognitiven”, “Informations-“ oder “Datenkapitalismus“. Aber was genau ist neu an Daten, dem Internet der Dinge und KI, und wie kann die Digitalisierung der Wirtschaft in Europa die Grundlage für ein gutes Leben darstellen? Sind die Herausforderungen wirklich neu, oder sind die alten Debatten um Profit und Macht und die Rolle des Staates in der Wirtschaft genauso relevant wie eh und je?

 

Arbeitsbeziehungen im digitalen Zeitalter

Im Vergleich mit anderen Wirtschaftsmodellen zeichnet sich Europa dadurch aus, dass Demokratie und Mitbestimmung nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft ihren Platz hat: Beschäftigte haben ein Mitspracherecht bei der Organisation ihrer Arbeit. Indem sie Arbeit räumlich und zeitlich fragmentiert, setzt die Digitalisierung die Institutionen der organisierten Arbeitnehmerschaft jedoch unter Druck. Insbesondere die Arbeit in der Plattformökonomie ist häufig durch Qualifikationsrückgang, Fragmentierung und Ausbeutung gekennzeichnet. Auf der anderen Seite führt die Digitalisierung für Beschäftigte in kreativen Branchen, im IT-Sektor selbst und bei Plattform-Genossenschaften auch zu mehr Autonomie. Plattform-Kooperativen sind auch ein gutes Beispiel dafür, wie Arbeitnehmer_innen und Nutzer_innen an Eigentum und Führung von Unternehmen in der Plattformökonomie beteiligt werden und eine Alternative zu den Geschäftsmodellen von Big Tech aussehen kann. Noch sind digitale Genossenschaften eine Ausnahmeerscheinung, aber können sie eine Art Avantgarde bilden, die den Weg für mehr Teilhabe für die breite Arbeitnehmerschaft bereitet? Und wie kann der digitale Wandel auch auf andere Weise genutzt werden, um Informations- und Machtungleichgewichte am Arbeitsplatz zu beseitigen und autonomer zu arbeiten?

 

Wie wird Digitalisierung nachhaltig?

Die Digitalisierung wird oft als Antwort auf die Klimakrise gepriesen. Daten sollen eine weniger materiell geprägte Wirtschaft ermöglichen und für einen rationalen Einsatz knapper Ressourcen sorgen. Tatsächlich basiert auch der Digitale Kompass 2030 der EU auf der Annahme, dass die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu mehr Nachhaltigkeit führt. Diesen Anspruch realisiert die digitale Transformation bisher allerdings eher anekdotisch als in Fakten und Zahlen. Technologien wie Blockchain und KI benötigen Unmengen an Ressourcen – und das oft für unklare oder spekulative (Effizienz-)Gewinne. Macht es für die EU Sinn, diesen Weg weiter zu verfolgen, oder sollte sie sich eher kritischen Herangehensweisen an Technologie widmen, die Low-Tech vor High-Tech stellen, und eine langsame, maßvolle Technologieanpassung gegenüber dem derzeitigen Modell bevorzugen, bei dem schnell hochskaliert wird und negative Folgen erst dann berücksichtigt werden, wenn sie bereits eingetreten sind?

 

Für ein eigenständiges EU-Modell

Das Ökosystem digitaler Dienstleistungen gehört mittlerweile zu den grundlegenden Infrastrukturen unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Einige wenige privatwirtschaftliche Akteure, vor allem in den USA, dominieren dieses System und haben damit einen unverhältnismäßig hohen Einfluss darauf, wie die Bürger_innen der EU online arbeiten, Kontakte pflegen und öffentliche Dienste nutzen. Die Probleme, die sich daraus ergeben, wenn unverzichtbare Infrastrukturen privatwirtschaftlich organisiert und überwiegend auf Profit ausgerichtet werden, sind offensichtlich. Ein solches Model untergräbt Bürgerrechte wie Privatsphäre und Selbstbestimmung ebenso wie progressive Werte wie Transparenz, Gleichberechtigung, Sicherheit und Demokratie. Die EU muss eine gewisse Kontrolle über digitale Technologien erlangen, wenn sie ihre eigene Vision einer digitalen Wirtschaft und Gesellschaft verwirklichen will. In der Praxis bedeutet dies auch ein selbstsichereres Auftreten gegenüber den USA,

wo viele der Technologien ihren Ursprung haben, sowie auch gegenüber der im Silicon Valley vorherrschenden Philosophie des „move fast and break things“ und des Strebens nach Dominanz durch schnelles, von den (Finanz)Märkten getriebenes Skalieren. Kann Europa, nach dem Schock der Corona-Pandemie und den in der Folge geplanten Investitionsplänen, ein neues und nachhaltiges Modell entwickeln, das das Leben der Bürger_innen besser macht, anstatt weiteres Phantomwachstum zu erzeugen? Sind die Konjunkturpläne und der Digitale Kompass 2030 die richtige Strategie für die Zukunft?

 

Vom 15. Bis 19. November geht der Kongress Digitaler Kapitalismus in seine 5. Ausgabe. In diesem Jahr wollen wir die oben genannten Herausforderungen aufgreifen und über Ideen, Konzepte und politische Projekte sprechen, um eine progressive digitale Agenda für Europas Wirtschaft: demokratisch, nachhaltig und gerecht zu gestalten. Seid dabei und diskutiert mit!

 


Zu den Autoren

Stefanie Moser ist Referentin für Digitalisierung in der Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Berlin.

Justin Nogarede ist Referent für Digitalisierung bei der Foundation For Progressive European Studies (FEPS) in Brüssel.



Dr. Johannes Crückeberg

030 26935-8332
Johannes.Crueckeberg(at)fes.de

Marcus Hammes

0228 883-7149
Marcus.Hammes(at)fes.de

Jan Engelmann; Philipp Otto

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