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Nationale Sicherheitsstrategie und Nationaler Sicherheitsrat

Beitrag von Marius Müller-Hennig und Peer Teschendorf


Angesichts der Zeitenwende in der Außen- und Sicherheitspolitik bekommt der Prozess zur Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie mehr Aufmerksamkeit als im Vorfeld erwartet. Das ist gut so, denn der Prozess ist ebenso wichtig wie die aktuelle Kritik berechtigt.

Nationale Sicherheitsstrategie und Nationaler Sicherheitsrat
Drei Lehren aus dem aktuellen Streit

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AUF EINEN BLICK

Der Prozess zur Erstellung der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands wird zu Recht kritisiert. Die Bundesländer hätten von Beginn an in den Prozess einbezogen werden sollen. Eine multiperspektivische Risikoanalyse als Referenzpunkt für die Diskussion über die Sicherheitsstrategie, wie sie bspw. in den Niederlanden erstellt wird, fehlt ebenso wie ein regelmäßiger Strategiezyklus. Der Anspruch eine Dachstrategie zu entwickeln, die sowohl Fragen der inneren als auch der äußeren Sicherheit behandelt, ist begrüßenswert. Jedoch zeigen die aktuellen Probleme, dass ein solcher Prozess vom Kanzleramt gesteuert werden sollte.

Das Anliegen, eine Reform der Sicherheitsarchitektur bereits in der Strategie selbst festzulegen überzeugt indes nicht. Allenfalls die Einrichtung eines Strategiestabs im Kanzleramt – als ein Nukleus eines Sekretariats für den zukünftigen Nationalen Sicherheitsrat – wäre bereits jetzt geboten: Damit die Entwicklung einer nationalen Sicherheitsstrategie zukünftig regelmäßig erfolgt und ihre Umsetzung systematisch evaluiert wird.

 

Die Entwicklung der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie traf zuletzt auf Kritik aus verschiedenen Richtungen. Dabei ist es schwer zu sagen, ob die inhaltliche Kritik gerechtfertigt ist, die in den Medien kolportiert wurde (so z.B. in der Welt vom 30.12.2022 oder bei SPIEGEL+ am 18.01.2023). Denn der Textentwurf selbst ist bisher als Verschlusssache für die Öffentlichkeit unzugänglich. Somit kann an dieser Stelle nur der Prozess selbst beurteilt werden insoweit er öffentlich nachvollziehbar ist.

 

Nationale Sicherheitsstrategie: Anspruch gut, Prozess und Methodik unklar

Es ist begrüßenswert, dass sich die Ampelkoalition darauf verständigt hat erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie für Deutschland zu entwickeln. Nachdem die Federführung für die Entwicklung der Strategie an das Auswärtige Amt fiel, konnte man vermuten, dass es bei der Strategie vor allem um Fragen der internationalen Sicherheit gehen würde. In ihrer Auftaktrede machte die Außenministerin indes deutlich, dass diese Trennung in innere und äußere Sicherheit sie nicht überzeugt und bspw. auch Fragen im Bereich Cybersicherheit eine zentrale Rolle in der Strategie spielen sollten. Dieses umfassendere Verständnis von nationaler Sicherheit ist im Grundsatz richtig. Doch dann wäre es im nächsten Schritt erforderlich gewesen, die Länder von Beginn an systematisch in den Strategieprozess einzubeziehen, da ja auch für ihre thematischen Zuständigkeiten strategische Vorgaben entwickelt werden sollten. Die Kritik der Länder ist in dieser Hinsicht nachvollziehbar.

Ein weiteres Defizit im Prozess ist seine methodische und inhaltliche Intransparenz. Zwar gab es eine ganze Reihe von fachöffentlichen und öffentlichen Veranstaltungen, in denen externer Input abgefragt wurde. Über Online-Portale wie 49 Security und den Verfassungsblog wurde zudem ein breites Spektrum fachlicher Impulse für die Strategiedebatte veröffentlicht. Gleichwohl stellt sich die Frage, wann und wie diese Einsichten Eingang in den Prozess finden und vor allem wie aus den komplexen und heterogenen Teilanalysen ein stimmiges Gesamtbild generiert werden soll. Statt einer reinen Addition von Forderungen, sollte die Strategie ja gerade die Abwägung und Priorisierung über alle Aspekte hinweg gewährleisten.

 

Nationale Sicherheitsstrategie als prozess – die Niederlande zeigen, wie es geht

Der Blick in die Niederlande zeigt, wie dies funktionieren kann. Dort ist die Nationale Sicherheitsstrategie Teil eines regelmäßigen strategischen Zyklus. Dieser beginnt alle drei Jahre mit der Erstellung einer umfassenden Risikoanalyse, die als Referenzpunkt für den Strategieprozess dient. Diese Analyse wird nicht von der Regierung erstellt, sondern durch das Analystennetzwerk für nationale Sicherheit (ANV), in welchem neben Forschungsinstitutionen bzw. Think Tanks verschiedener Fachrichtungen und Politikbereiche auch die Nachrichtendienste der Niederlande mitwirken. Die Risikoanalyse, die hier verfasst wird analysiert eine Vielzahl von Bedrohungen anhand von Szenarien. Sie bewertet sie dann mit Blick auf die Eintrittswahrscheinlichkeit einerseits und den Umfang der Auswirkungen andererseits und setzt die verschiedenen Bedrohungen zueinander ins Verhältnis.

Im aktuellen Strategieprozess der Niederlande wurde die Risikoanalyse im ersten Halbjahr 2022 erstellt und im Sommer veröffentlicht. Somit verfügen sowohl die (Fach‑)Öffentlichkeit als auch die Regierung über einen soliden Referenzpunkt für die Entwicklung der Strategie und die sicherheitspolitische Debatte hierüber. Ein solcher Referenzpunkt hätte auch der deutschen Strategiediskussion gutgetan. Nach anderthalb Jahren, also zur Halbzeit des Strategiezyklus analysiert das ANV-Netzwerk Veränderungen der Bedrohungslage, während die Regierung eine Zwischenbilanz zur Umsetzung der Strategie vorlegt. Nach drei Jahren wird der nächste Strategiezyklus mit einer neuen Risikoanalyse eingeläutet. Dieser regelmäßige Strategiezyklus und das Analystennetzwerk für nationale Sicherheit dürften wesentlich dazu beitragen, eine multidisziplinäre epistemische Gemeinschaft – im Sinne einer „strategic community“ – zu entwickeln. Der wichtigste Mehrwert dürfte darin liegen, dass vermittelt durch das ANV nicht nur unterschiedliche fachliche Inputs für den Strategieprozess generiert werden, sondern dass diese zu einem kohärenten Gesamtbild verdichtet werden, in dem die unterschiedlichen Risiken und Bedrohungen in einem gemeinsamen Raster bewertet und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Genau dies könnte auch im Falle Deutschlands helfen, um von einer langen Auflistung von Einzelanliegen zu einem stimmigen Gesamtbild zu kommen.

 

Von der Sicherheitsstrategie direkt zur Sicherheitsarchitektur?

Ein weiteres Problem in der Diskussion zur deutschen Sicherheitsstrategie liegt darin, dass grundsätzliche politische Strukturfragen mit der Strategieformulierung vermengt werden. So formulierte die Außenministerin in ihrer ersten Rede zu Beginn des Prozesses den Anspruch, die Trennlinien des Grundgesetzes zwischen innerer und äußerer Sicherheit im Rahmen dieses Prozesses zu hinterfragen. Das ist gleich in dreifacher Hinsicht problematisch:

-     Erstens ist eine Dachstrategie nicht der geeignete Ort, um organisatorische und verfassungsrechtliche Strukturfragen zu klären. Hier sollten Bedrohungen und Risiken analysiert, zueinander ins Verhältnis gesetzt werden und eine Priorisierung erfolgen. Welche Reformen der Sicherheitsarchitektur zur Erreichung der strategischen Ziele erforderlich sind, sollte in einem separaten Prozess geklärt werden.

-     Einen solchen Prozess sieht der Koalitionsvertrag auch explizit vor: „Gemeinsam mit den Ländern wollen wir die Sicherheitsarchitektur in Deutschland einer Gesamtbetrachtung unterziehen und die Zusammenarbeit der Institutionen für die Sicherheit der Menschen effektiver und wirksamer gestalten.“

-     Drittens zeigt sich erneut das grundlegende Problem des Strategieprozesses, dass nämlich die Länder, auf die es bei einer Umgestaltung des föderalen Sicherheitsgefüges essentiell ankäme, eben nicht systematisch einbezogen sind.

 

Ein Nationaler Sicherheitsrat gehört ins Kanzleramt

Die einzige Frage zur Sicherheitsarchitektur die tatsächlich schon mit der Sicherheitsstrategie selbst verbunden werden sollte, ist die Einrichtung eines Strategiestabes im Kanzleramt. Dieser sollte die regelmäßige Erstellung und Evaluierung von Risikoanalysen und Sicherheitsstrategien koordinieren und deren Qualität sicherstellen. Ein solcher Strategiestab könnte in einem weiteren Schritt auch zu einem Kern eines Nationalen Sicherheitsrates werden, um den derzeit offenbar intensiv gerungen wird.

Die aktuelle Diskussion ob das Sekretariat für einen Nationalen Sicherheitsrat im Kanzleramt oder im Auswärtigen Amt angesiedelt werden sollte ist wenig nachvollziehbar. Wenn die viel zitierte Richtlinienkompetenz des Kanzlers in einem Politikfeld geboten ist, dann bei Grundsatzfragen der nationalen Sicherheit und in gravierenden Krisen. Will man zudem die Dominanz der Ressortlogiken überwinden und die Länder in die Arbeit eines solchen Rates angemessen einbeziehen führt ebenfalls kein Weg am Kanzleramt vorbei. Und mit der Zuständigkeit für den BND sowie für die Koordinierung der Nachrichtendienste des Bundes sind zentrale Fähigkeiten zur Lagebeurteilung für strategische Grundsatzfragen ebenso wie für das Management schwerwiegender Sicherheitskrisen ohnehin bereits beim Bundeskanzleramt angesiedelt.

 

Fazit

Die Bundesregierung sollte aus dem Streit um die Nationale Sicherheitsstrategie drei Schlüsse ziehen und:

1.   Die Grundlagen für einen Strategiezyklus legen, der alle relevanten Stakeholder einbezieht und somit zur Entwicklung einer multidisziplinären epistemischen Gemeinschaft beiträgt, wie die Niederlande beispielhaft zeigen.

2.   Sie sollte Fragen der Sicherheitsarchitektur nicht zum Gegenstand der Sicherheitsstrategie machen. Um hier nachhaltige Reformimpulse zu generieren, bedarf es zuerst einer systematischen Analyse der aktuellen Praxis und ihrer Probleme, so wie im Koalitionsvertrag vorgesehen.

3.   Einzig die Einrichtung eines Strategiestabes im Bundeskanzleramt sollte im Rahmen der Strategie vorgesehen werden. Denn ihren eigentlichen Mehrwert entfaltet eine solche Strategie erst dadurch, dass sie als Teil eines strategischen Zyklus gefasst wird in dem neben den verschiedenen Ressorts auch die Bundesländer systematisch einbezogen werden. Hierfür solte die Federführung nicht bei einem Fachressort, sondern im Bundeskanzleramt liegen.

 

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AUTOREN

Marius Müller-Hennig ist Referent für Freiheit, Recht und Sicherheit im Referat Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung

Peer Teschendorf ist Referent für Europäische Außen- und Sichhrheitspolitik im Referat Globale und Europäische Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung

 

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Ansprechpartner in der FES: Marius Müller-Hennig / Peer Teschendorf
 


Dr. Johannes Crückeberg

030 26935-8332
Johannes.Crueckeberg(at)fes.de

Marcus Hammes

0228 883-7149
Marcus.Hammes(at)fes.de

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