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Es ist einfach, am Tag der Pressefreiheit mit dem Finger auf andere zu zeigen. Es überrascht leider kaum, wenn Autokratien eine gesellschaftliche Ausnahmesituation zur Unterdrückung nutzen. Aber die Corona-Krise forciert auch in Demokratien Entwicklungen, die die Digitalisierung angestoßen hat. Am Ende dürfte ein neues Verhältnis von Staat und Medien stehen und damit ein neues Verständnis von Pressefreiheit.
Die Krise ist Zeit der Exekutive. Dieser politische Leitsatz bewahrheitet sich in der Corona-Krise wieder einmal. Wer in Deutschland Regierungsverantwortung trägt, steht in den Rankings der beliebtesten Politiker_innen ganz oben. In repressiv regierten Ländern klingt der Satz für Journalistinnen und Journalisten wie eine Drohung. „Durchregieren“ hieß in China und Iran von Beginn an, Medien zu zensieren. In Honduras setzte der Präsident das Grundrecht auf Pressefreiheit kurzer Hand außer Kraft und in Armenien müssen Medien das berichten, was ihnen die Behörden vorgeben.
Doch nicht alles, womit Medien im Zuge des Lockdowns zu kämpfen haben, lässt sich mit der Unterscheidung Demokratie/Diktatur erklären. Im Gegenteil: Es scheint, dass die Krise gerade in Demokratien an einigen Säulen rüttelt, die in einer demokratisch verfassten Ordnung als zementiert galten. Es dreht sich um das Verhältnis von Staat und Medien, den Kern der Pressefreiheit, und immer ist die Digitalisierung der Treiber. Es geht um die Finanzierung journalistischer Arbeit, die Bekämpfung von Falschnachrichten im Internet und die Akzeptanz von Überwachung in der Gesellschaft.
Keines der Themen ist neu für den Journalismus. Spätestens mit dem Smartphone brachen Print-Auflagen ein und damit üppige Einnahmen auf den Leser_innen- und Werbemärkten. Dass soziale Medien Schattenseiten haben, bewiesen spätestens die Falschnachrichten im US-Wahlkampf 2016, die Donald Trump zumindest nicht schadeten. Die USA bauen mit ihren Verbündeten seit den Terroranschlägen 2001 ein globales System der Massenüberwachung auf, wofür Edward Snowden 2013 Beweise lieferte.
Medien stehen den Themen ambivalent gegenüber, pochten in den Debatten bisher aber zumeist weiter auf die strikte Trennung von Staat und Medien: „Ich persönlich finde es inakzeptabel, wenn die strikte Trennung zwischen privater Presse und Staat in einer solchen Krise aufgelöst oder auch nur verwässert wurde“, sagte etwa Springer-Chef Mathias Döpfner, der auch Präsident des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) ist. „Fake News“ erhöhen auch für etablierte Qualitätsmedien das generelle Glaubwürdigkeitsproblem im Netz, dennoch warnte beispielsweise die OSZE vor starken Direkteingriffen der Staaten in die Meinungsfreiheit, weil Zensur und Einschüchterungseffekte drohten. Und auch beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus stellt wohl niemand in Frage, dass Staaten hier die Sicherheit ihrer Bürger_innen gewährleisten müssen, aber bei geheimdienstlicher Massenüberwachung zur Erkennung etwaiger Gefahren sorgen sich Journalistinnen und Journalisten eben auch um Vertraulichkeit und Quellenschutz. Solche „Ja, aber…“-Argumentationen versuchen, sich gesamtgesellschaftlichen Entwicklung nicht zu versperren und dabei bewährte Konzepte der journalistischen Unabhängigkeit zu verteidigen. Bis Corona konnte man glauben, dass diese Strategie die Pressefreiheit als Ganze wirksam in die digitale Gesellschaft transformieren konnte.
Krisen aber sind Brandbeschleuniger und legen Defizite schonungslos offen. 80 bis 90 Prozent der Verlage hatten Mitte April Kurzarbeit angekündigt oder eingeführt, wie der BDZV mitteilte. Das Problem mit Falschnachrichten wurde so dramatisch, dass selbst der UN-Generalsekretär von einer „Epidemie der Desinformation“ sprach. Und Corona bewies auch, dass breite Teile der Bevölkerung gerne einer massenhaften Datenerfassung zustimmen, wenn der Zweck das Mittel heiligt. Der Glaube an die Heilskraft digitaler Überwachungstechnologien ist so hoch, dass wir die Corona-App geradezu herbeisehnen – vorsorglich haben über 400.000 Menschen schon intimste Daten als Datenspende hochgeladen, obwohl der Nutzen fraglich ist und der Chaos Computer Club auf Probleme bei der IT-Sicherheit hingewiesen hat .
Journalist_innen und ihre Interessenverbände tun gut daran, sich weiter gegen staatliche Einflussnahme einzusetzen, indem sie zum Beispiel Vorschläge für eine staatliche Direktinvestition wegen Corona bei Medien zurückweisen oder bei Tracing-Apps auf den Quellenschutz hinweisen. Eine Trennung von Staat und Medien bleibt Kern der Daseinsberechtigung des Journalismus in einer Demokratie, daran ändern weder Corona noch die Digitalisierung etwas. Die Krise zeigt jedoch, dass die digitale Gesellschaft eine der allumfassenden Kontrolle ist, mit fundamentalen Auswirkungen für Geschäftsmodelle, Glaubwürdigkeit und Vertraulichkeit. Pressefreiheit muss sich in dieser neuen Umwelt bewähren und dafür muss sie in Teilen neu verhandelt werden.
Erkennt man an, dass das Internet mehr ist als ein neuer Übertragungskanal neben anderen, dann hat dies Folgen für die Pressefreiheit. Einflussreiche Gesellschaftstheoretiker wie der Soziologe Dirk Baecker sprechen von der vierten Medienrevolution nach Sprache, Schrift und Buchdruck. Jede brachte eine neue Gesellschaftsform hervor. Demnach erleben wir nun den Übergang von einer funktionalen zu einer Netzwerkgesellschaft. Was sperrig klingt, ist für das Verständnis von Staat und Medien zentral: In einer funktional organisierten Gesellschaft sind Politik, Wirtschaft, Religion oder Journalismus relativ klar voneinander abzugrenzen. Alle sind aufeinander angewiesen, aber bilden eine eigene Identität heraus. Journalist oder Journalistin war dann, wer bei Presse oder Rundfunk arbeitete.
Der Buchdruck steigerte die Möglichkeiten, Kritik zu üben: Man konnte Bücher vergleichen und einfacher sehen, dass manche Menschen den Dogmen von Kirche und Staat widersprachen. Das Bezugsproblem der Gesellschaft war also ein Kritiküberschuss und als Lösung differenzierte sie sich aus. Seitdem können verschiedene Narrative co-existieren: Was in der Politik rational ist, kann wirtschaftlich kontraproduktiv sein und umgekehrt. Es ist ein Weg, zu viel Kritik und Inkonsistenz auszuhalten. Mit elektronischen Medien ändert sich nun nicht nur die Kommunikationstechnik der Gesellschaft, sondern es kommt ein neues gesamtgesellschaftliches Bezugsproblem hinzu.
Die neue Gesellschaft wird eine Netzwerkgesellschaft und sie sieht sich nicht mehr nur mit einem Kritiküberschuss konfrontiert, sondern vor allem mit einem „Kontrollüberschuss“ – wiederum ein Begriff von Dirk Baecker. Jede Regung der Menschen wird verdatet, selbst Maschinen kommunizieren untereinander. Wir könnten ganz praktisch alles kontrollieren, aber wir müssen selektieren, welche Kontrolle sinnvoll ist. In der Netzwerkgesellschaft ist alles miteinander verbunden und steht in einem gegenseitigen Kontrollverhältnis zueinander. Jede_r könnte kontrollieren und jede_r könnte kontrolliert werden.
Es gibt nun „Datenjournalismus“, weil es digitale Daten gibt. In Newsrooms hängen nun Monitore mit Live-Statistiken über die Website-Nutzung, weil das Publikum detailliert getrackt wird. Fehler in Artikeln werden korrigiert und als solche benannt, weil Leser_innen die Inhalte selbst überprüfen können. Es gibt viele Facetten, die im Journalismus als nützlich angesehen werden, wenn es um digitale Kontrolle geht. Pressefreiheit wird bis heute allerdings zumeist gedacht als Abwehrrecht der Medien gegen einen übergriffigen Staat, so formuliert es beispielsweise das Grundgesetz. Pressefreiheit ist also dann gegeben, wenn Journalistinnen und Journalisten den Staat kontrollieren – aber ja nicht umgekehrt. Dieses Verständnis war gewiss immer schon idealistisch, aber in der Netzwerkgesellschaft ist es geradezu naiv.
Es gibt kein Leben mehr ohne digitale Kontrolle. Eine Beobachtung der Corona-Zeit ist doch, dass politisch kaum darüber diskutiert wird, ob eine Tracing-App im Grundsatz als Mittel gerechtfertigt sein kann, sondern nur, wie sie gebaut sein muss. Und das, obwohl sich laut ARD-Deutschlandtrend über 40 Prozent der Deutschen aus Sorge um Datenschutz und Überwachung dagegen aussprechen. Der soziale Rechtfertigungsdruck dürfte dennoch künftig bei ihnen liegen, da sie nicht bereit sind, mit ihren Daten bei der Bekämpfung der Pandemie mitzuhelfen. Eine andere Beobachtung ist, dass Verlage in Existenznöte geraten, obwohl die Klickzahlen in die Höhe schnellen. Die Pressefreiheit der digitalen, demokratischen Gesellschaft wird eine sein müssen, in der Medien weiterhin ihre aufklärerische Funktion erfüllen können, obwohl sie allumfassend kontrolliert werden können.
Wie wird sich dieses Verhältnis zur Kontrolle einpendeln? Es scheint zumindest erkennbar, dass ehemals starre Grenzen durchlässiger werden. Identitätsbildung bleibt wichtig, Staat bleibt Staat und Journalismus bleibt Journalismus. Aber wenn sich Gesellschaftsteile gegenseitig immer stärker kontrollieren können, dann steigt der Drang, in manchen Feldern zu kooperieren. In Österreich förderte die Regierung in der Corona-Krise einige Zeitungen mit Millionen und Proteste dagegen regten sich kaum. In Deutschland warnte das Gesundheitsministerium per Twitter vor „Fake News“, die bei genauer Recherche gar keine waren und dennoch übernahmen etliche Medien die Warnung. In Großbritannien wird seit einigen Jahren diskutiert, ob Geheimdienste nicht freiwillig Foren für vertrauliche Gespräche von Beamt_innen mit Medien schaffen sollten, weil Quellen bei geheimer Kontaktaufnahme wegen der Massenüberwachung ohnehin auffliegen würden.
Vielleicht beschreibt das Wort „Kooperationsprojekt“ am besten, was im Netzwerk ein Äquivalent zur vorigen starren Trennung sein könnte. Medien und Staat kooperieren, aber nur so lange, wie es sich rechtfertigen lässt – dann ist das Projekt vorbei. Staatliche Stellen etwa gewöhnen sich daran, dass kaum ein digitales Dokument lange geheim bleibt. Die EU-Kommission „leakt“ nun seit einiger Zeit ihre eigenen Entwürfe an Medien. Man mag da (zu Recht) die Gefahr der Instrumentalisierung sehen, gleichwohl öffnet sich die Politik durch die Kooperation früher einer öffentlichen Diskussion über Ideen, was für die Demokratie keine schlechte Entwicklung sein muss. Ungewöhnlicher ist der Wille zur zeitlich und thematisch begrenzten Kooperation noch für Medien, doch auch hier werden die Beispiele zahlreicher, wie Corona zeigt. Medien nehmen Geld, aber nur in der Krise. Ministerien dürfen Richter über die Wahrheit spielen und vor „Fake News“ warnen, aber nur in Bezug auf Corona. Medienschaffende wehren sich gegen Massenüberwachung, außer es geht um die Gesundheit aller.
Das Paradoxe ist, dass Journalismus in der Netzwerkgesellschaft erkennbar bleiben muss, indem er sich abgrenzt und nur so als eigenständiger Teilnehmer in einem Projekt kooperieren kann, in dem die Grenzen dann zu verschwimmen drohen. Ein Verständnis von Pressefreiheit kann sich damit weniger an tradierten Grenzen orientieren, sondern fordert Projekt für Projekt eine Abschätzung, ob das gegenseitige Maß an Kontrolle die gesellschaftliche Funktion der Medien fördert oder schwächt.
Als Journalist arbeitet Daniel Moßbrucker zu den Themen Überwachung, Datenschutz und Pressefreiheit. Darüber hinaus ist er Trainer für digitale Sicherheit, auch bei der FES-JournalistenAkademie. Zuvor arbeitete Moßbrucker bis 2019 als Referent für Internetfreiheit bei Reporter ohne Grenzen. An der Universität Hamburg schreibt er an einer Dissertation zum Thema „Journalismus und Überwachung“.
Mit einer Virtual-Reality-Brille auf dem Kopf lassen sich immersiv aufbereitete journalistische Beiträge beinahe hautnah erleben. Journalist_innen…
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