100 Jahre FES! Mehr erfahren

Der Critical Raw Materials Act der EU: Auswirkungen und Herausforderungen in Europa, Lateinamerika und Afrika

Das Europäische Gesetz zu kritischen Rohstoffen zielt auf Wettbewerbsfähigkeit – und trifft auf Widerstand rohstoffreicher Regionen, die faire Partnerschaft und ökologische Standards fordern.

Wir sprechen mit Beatriz Olivera, eine der Autorinnen der Publikation „The European Union´s Critical Raw Materials Act“ über den neuen Rohstoff-Deal der EU und dem Widerstand gegen Extraktivismus. Mit dem Critical Raw Materials Act will die EU Rohstoffe wie Lithium und Seltene Erden sicherer und nachhaltiger beziehen. Doch was bedeutet das für die Herkunftsländer?

 

Was hat dich als Autorin dazu bewogen, dich mit den Problemen des Extraktivismus in der Region und in Mexiko zu befassen?


Beatriz Olivera: Ich glaube, dass die Suche nach Gerechtigkeit und der Glaube daran, dass Forschung zu dieser Suche beitragen kann, entscheidend sind. Es scheint mir, dass Bergbau- und Kohlenstoffunternehmen – zumindest als ich anfing, sie zu untersuchen und den gesamten Prozess des Extraktivismus zu verstehen – in Gemeinden und Dörfern am schlimmsten agieren. Und es sind genau diese Unternehmen, die vom Staat als von öffentlichem Nutzen angesehen und geschützt werden, oder sogar von Universitäten unterstützt werden, die Forschung finanzieren, die die Interessen dieser Unternehmen schützt.

Als ich mit meiner Arbeit begann, konnte ich keine objektiven Forschungsergebnisse finden, die von den indigenen Völkern und Gemeinden genutzt werden könnten, um sich gegen diese Bergbau- oder Kohlenwasserstoffprojekte zu wehren. So entstand mein Interesse, vor allem an den komplizierteren Aspekten wie Besteuerung, lokale Entwicklung und öffentliche Finanzen, um zu verstehen, ob diese Projekte für diese Länder rentabel sind oder ob es nur um Ausbeutung geht. Ich habe den Eindruck, dass ich von dort aus zumindest ein wenig dazu beitragen konnte, einige Änderungen zu erreichen, wie beim jüngsten Bergbaugesetz in Mexiko. Aber mein wichtigstes Anliegen war die Suche nach Gerechtigkeit und deren Unterstützung durch Forschung.

 

Wie wird sich die Verordnung über kritische Rohstoffe (Critical Raw Materials Act) auf die Region Lateinamerika und die Karibik auswirken?


Es ist ein Gesetz, das den Extraktivismus in Lateinamerika weiter vorantreiben wird und das alle sozialen und ökologischen Auswirkungen des Abbaus auf bestimmte Länder wie Argentinien, Chile, Peru, Brasilien, Mexiko und vielleicht einige weitere verlagert, weil es darauf abzielt, eine gesicherte Versorgung mit Mineralien zu fördern, aber um den Preis, dass die sozialen und ökologischen Auswirkungen in der lateinamerikanischen Region bleiben. Für mich ist dies eines der Hauptprobleme und -auswirkungen der Verordnung. Zudem glaube ich, dass die bestehenden „sacrifice zones“ [Gebiete, die aufgrund ihrer Nähe zu Bergbaubetrieben in hohem Maße giftigen oder verschmutzenden Stoffen ausgesetzt sind] geschaffen oder erweitert werden könnten.

 

Mit Blick auf geopolitische Entwicklungen und die Rückkehr rechter Regierungen in den USA und der EU, die wieder versuchen, fossile Brennstoffe erneuerbaren Energien vorzuziehen: Wie wird sich diese Entwicklung auf die Region auswirken?


Ich denke, dass diese globale Neuordnung für Lateinamerika besorgniserregend und der Critical Raw Materials Act ein gutes Beispiel dafür ist. Aus meiner Sicht hat das Gesetz einen extraktivistischen und neokolonialen Charakter, da es den Abbau von Bodenschätzen zum Nachteil von Umwelt- und Sozialvorschriften fördert oder verstärkt. Mit anderen Worten, die Umwelt wird nicht als höchste Priorität betrachtet und es werden nur der wirtschaftliche Charakter und die Versorgungssicherheit von Mineralien gesehen, nicht aber die sozialen Auswirkungen oder die Folgen ihres Abbaus. Einige dieser Mineralien werden zum Beispiel in indigenen Regionen gewonnen, in denen es indigene Völker gibt, deren Leben sich durch diese Bergbauprojekte verändern kann.

Auf der anderen Seite gibt es die Rückkehr zu fossilen Brennstoffen. Ich halte es für wichtig, darauf hinzuweisen, da fossile Brennstoffe weiterhin gefördert und als Alternative für die Energieerzeugung angesehen werden, während die erneuerbaren Energien zumindest auf lokaler Ebene ins Hintertreffen geraten. Außerdem ist es besorgniserregend, dass selbst bei der Nutzung erneuerbarer Energien oder bei der Diskussion über eine groß angelegte Energiewende diese Auswirkungen oder diese „sacrifice zones“ nicht wahrgenommen werden.

Meines Erachtens kann diese Rückkehr zu rechten Regierungen für Lateinamerika sehr gefährlich sein, vor allem wegen dieses Abbaus von (Grund-) Rechten und der Vernachlässigung von sozialen und ökologischen Fragen, dieser Rückschritte in allem, was bereits erreicht wurde; und all das aufgrund der Rückkehr der neokolonialen und neoextraktivistischen Ansätze.

 

Kannst du aus deiner eigenen Erfahrung mit der Verbindung zwischen Extraktivismus und Frauen schildern, wie sich die Intensivierung von extraktiven Aktivitäten wie z. B. dem Bergbau speziell auf Frauen auswirkt?


Zunächst ist es wichtig, klarzustellen, dass der Bergbau Menschen und Gemeinschaften insgesamt betrifft, dass es aber auch wichtig ist, den Blick auf die Auswirkungen auf Frauen zu richten. Das ist etwas, was oft nicht beachtet wird, gerade aufgrund patriarchalischer Strukturen, die in unserer Region (und überall auf der Welt) verankert sind. Es gibt eine Tendenz, das Thema außer Acht zu lassen und unsichtbar zu machen. Was ich in einigen Fällen und während meiner Feldforschung festgestellt habe, ist, dass ein Projekt - insbesondere ein Bergbau- oder Kohlenwasserstoffprojekt -, wenn es in einer Region ankommt, dazu neigt, maskulinisiert zu werden. Was will ich damit sagen? Nun, es gibt eine größere Präsenz von Männern (z. B. von den Bergbau- oder Sicherheitsunternehmen eingestelltes Personal) in den Projektregionen, was sich wiederum auf Frauen auswirkt. Einige der Auswirkungen sind eine erhöhte Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen, die Zunahme von Prostitution oder auch die Anzahl von Bars an den jeweiligen Standorten. In Zacatecas, dem Standort des Bergbauunternehmens Peñasquito, hat sich beispielsweise die Zahl der Bars in einer ehemals ländlichen Gemeinde erhöht. Ebenso wurde dokumentiert, dass in einigen Gebieten der USA, in denen Fracking betrieben wird, die häusliche Gewalt und die Gewalt gegen Frauen sowie sexuell übertragbare Krankheiten zugenommen haben... Es gibt eine Reihe von Auswirkungen, die man versucht, unsichtbar zu machen.

Neben dieser Maskulinisierung der Gemeinschaften haben wir in letzter Zeit auch eine Feminisierung der territorialen Verteidigungsprozesse beobachtet. Mit anderen Worten, die Frauen beginnen, sich viel stärker zu organisieren, um die Territorien zu verteidigen, obwohl sie nicht die Eigentümer des Landes sind. Dies ist eine weitere Bedingung, unter der sie leben: Sie treffen im Allgemeinen keine Entscheidungen über die Territorien, da sie nicht konsultiert werden, bevor diese Projekte entwickelt werden, weil sie nicht die Eigentümer sind. Außerdem können sie häufig nicht an den Versammlungen teilnehmen, weil sie Pflege- und Fürsorgearbeiten erledigen müssen, weil sie keine Landbesitzer sind, usw. Ich will damit sagen, dass mit der Einführung dieser Projekte eine Maskulinisierung stattfindet, aber auch ein Reaktionsprozess, der in der Regel von Frauen ausgestaltet wird. Ich denke, das ist wichtig, damit wir die Frauen nicht als Opfer dieser Projekte sehen, sondern wie sie eine Antwort auf die Verteidigung dieser Gebiete geben, auch wenn sie durch diese Projekte verletzlicher werden.


Übersetzt ins Deutsche von Sina Musfeldt

 

 



Die Publikation in englischer Sprache können Sie hier herunterladen:
 

Detsch, Claudia; Olivera Villa, Beatriz Adriana; Mattheß, Manuela

The European Union's Critical Raw Materials Act

Implications and Challenges for Europe, Latin America and Africa
MexicoCity, 2024

Zum Download (PDF) (4 MB, PDF-File)


 

 

Über die Autor_innen

Claudia Detsch ist Direktorin von FES Just Climate. Zuvor war sie Chefredakteurin des IPG-Journals in Berlin und Redakteurin der in Buenos Aires ansässigen Zeitschrift Nueva Sociedad. Von 2008 bis 2012 leitete sie das FES-Büro in Ecuador und das regionale Energie- und Klimaprojekt der Stiftung in Lateinamerika. Sie ist Soziologin und studierte in Hamburg und Barcelona.

Beatriz Adriana Olivera Villa ist Direktorin der zivilgesellschaftlichen Organisation Engenera (Energie, Gender und Umwelt). Derzeit promoviert sie an der UAM-Xochimilco über ländliche Entwicklung und ist Mitglied des Kollektivs „Cambiémosla YA“, der mexikanischen Allianz gegen Fracking, der Gruppe „Territorium, Gender und Extraktivismus“ und des Nationalen Netzwerks Escazú Mexiko. In den letzten sechzehn Jahren war sie als Aktivistin und Forscherin in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Greenpeace, Oxfam und Fundar tätig. Sie hat Kampagnen zu den Themen Klimawandel, Energiewende und Rechte von Frauen auf dem Land in Mexiko und Lateinamerika koordiniert. Sie ist Autorin mehrerer Publikationen zu den Themen Klimawandel, Gender, Extraktivismus und dessen Auswirkungen auf Territorien und die Umwelt.

Manuela Mattheß ist seit 2013 in verschiedenen Positionen bei der Friedrich-Ebert-Stiftung tätig. Nach einem Auslandsaufenthalt als Projektassistentin im Senegal koordinierte sie fast sechs Jahre lang die internationale Arbeit der Stiftung im Bereich Klima- und Energiepolitik. Seit 2022 arbeitet sie als Beraterin im Referat Afrika der Stiftung und konzentriert sich hauptsächlich auf die Region Zentralafrika und Fragen im Zusammenhang mit Energie und Klimagerechtigkeit. Sie interessiert sich besonders für die Themen gerechter Übergang und Rohstoffpolitik.

Ansprechpartner_innen

National:
Susan Javad

030 26935-8313
susan.javad(at)fes.de

International:
Mirko Herberg

+49 (0)30 26935-7458
Mirko.Herberg(at)fes.de

Blanka Balfer

+49 (0)30 26935-7493
Blanka.Balfer(at)fes.de

weitere Ansprechpartner_innen
national
international

Kontakt

Yvonne Blos
+49 30 26935-7470
nach oben