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Deutsche Gewerkschaften und Grundgesetz, 1945-1949. Teil 2: Gewerkschaftliche Neuordnungsvorstellungen und Verfassungsgebung

„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“ So wurde in Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes Existenz und Arbeit der Gewerkschaften in Deutschland nach 1949 verfassungsrechtlich abgesichert. Der Weg zu dieser Grundrechtsnorm, zur Absicherung der Position der Arbeitnehmer_innen überhaupt, wurde von den Gewerkschaften in der Nachkriegszeit aufmerksam begleitet. Zuerst in den einzelnen Besatzungszonen, später auch interzonal, achteten sie darauf, möglichst viele ihrer grundlegenden Neuordnungsvorstellungen umzusetzen. Dafür hinderlich erwiesen sich letztlich manche Vorbehalte der Besatzungsmächte, die politische Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates, der „Provisoriumscharakter“ des Grundgesetzes und letztlich auch der noch parallel laufende Konstituierungsprozess der deutschen Gewerkschaftsbewegung selbst. Viele nicht umgesetzte Forderungen wurden daher auf den Zeitpunkt „der Schaffung einer endgültigen Verfassung für Deutschland“ vertagt.

„Demokratie ist nur dort eine lebendige Wirklichkeit, wo man bereit ist, die sozialen und ökonomischen Konsequenzen aus ihren Postulaten zu ziehen. Dazu gehört, daß man den Menschen herausnimmt aus der bloßen Objektsituation - nicht nur im formaljuristischen Bereich, sondern auch und gerade dort, wo der Schwerpunkt seines Lebens liegt, nämlich im ökonomischen und sozialen Bereich." (Wulf-Mathies, Grundgesetz, S. 319)

So zitiert Monika Wulf-Mathies, damals Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV, 1989 Carlo Schmid, der so 1949 den Gehalt des Sozialstaatsprinzips gekennzeichnet hatte.

Der Weg von Neuordnungsvorstellungen auf Länderebene 1946 zur Verfassungsgebung auf Bundesstaatsebene 1949 wurde durch die deutschen Gewerkschaften begleitet. Für die britische Besatzungszone hatte der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes - Dachverband der Gewerkschaften dieser Zone - im August/ September 1947 im Papier Zur Verfassungsfrage die grundsätzlichen Forderungen der Gewerkschaften in den Abschnitten Arbeitsrecht und Wirtschaftspolitik in den Länderverfassungen formuliert. Im Vordergrund stand hierbei, dass „das Anrecht und die Forderungen auf eine gerechte Würdigung der Arbeit, der arbeitenden Menschen und eine demokratische Neugestaltung der Wirtschaft betreffen.“ In den ersten 21 Punkten bezog man Position zu künftig wünschenswerten Inhalten im Bereich Arbeitsrecht (z. B. Koalitionsfreiheit, Arbeitsrecht, Tarifwesen, Arbeitsbedingungen), in den folgenden 17 Punkten zu den gewerkschaftlichen Vorstellungen zur künftigen Gestaltung der deutschen Wirtschaft (z. B. Wirtschaftsdemokratie, Mitbestimmung, Gemeineigentum). Der Prozess des Staatsaufbaus Deutschlands nach 1945 auf Länder- wie Bundesebene war den unterschiedlichen Ordnungsüberlegungen der Westalliierten, wie auch dem Spagat zwischen CDU-präferierten Föderalismus- und SPD-unterstützten Zentralismus-Vorstellungen unterworfen.

Die Gewerkschaften und die Verfassungsgebung

Auf der in London stattfindenden Sechs-Mächte-Konferenz (Februar bis Juni 1948) einigten sich die westlichen Besatzungsmächte zusammen mit den Benelux-Staaten auf Schaffung eines föderalen Staates. Mit den am 1. Juli 1948 überreichten Frankfurter Dokumenten ermächtigten die Alliierten die westdeutschen Länderchefs, zum 1. September 1948 eine verfassungsgebende Versammlung einzusetzen. Auf der in Koblenz vom 8. bis 10. Juli 1948 stattfindenden Rittersturz-Konferenz entschärften jedoch die Ministerpräsidenten und Bürgermeister die alliierten Forderungen auf einen Parlamentarischen Rat (statt einer verfassunggebenden Versammlung) und ein Grundgesetz (statt einer Verfassung), was zu einer Verstimmung zwischen beiden Seiten führte.

Der Gewerkschaftsrat der vereinten Zonen hatte einen Verfassungsausschuss gebildet, der am 7. September 1948 das erste Mal tagte. Man erklärte hierbei, „daß die Grundrechte der Staatsbürger einheitlich durch das zentrale Grundgesetz bestimmt werden sollen. Im Grundgesetz müssen auch die Grundsätze für die Wirtschafts- und Sozialverfassung niedergelegt werden.“ Albin Karl (1889-1976) berichtete am 30. September 1948 von einer Besprechung des Ausschusses zwei Tage zuvor mit Walter Menzel (1901-1963), Carlo Schmid (1896-1979) und Georg August Zinn (1901-1976), alle SPD-Mitglieder im Parlamentarischen Rat. Diese hatten auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die von den Gewerkschaften zusammengestellten wirtschafts- und sozialpolitischen Grundsätze bei vorliegender politischer Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates in den künftigen Text einzubringen. Trotzdem wurde beschlossen:

„Der Verfassungsausschuß wird beauftragt, dem Gewerkschaftsrat Vorschläge für jene Forderungen zu unterbreiten, die zur Aufnahme in das Grundgesetz dem Parlamentarischen Rat als klassische Grundrechte und andere Forderungen der Gewerkschaften zu übermitteln sind. Diese Forderungen sollen nach Billigung durch den Gewerkschaftsrat allen Fraktionen des Parlamentarischen Rates überreicht und mit den größten Fraktionen besprochen werden. Weiterhin soll der Ausschuß die wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen ausarbeiten, die einer gewählten Volksvertretung als gewerkschaftliches Verlangen vorgetragen werden sollen.“ (Mielke, Gewerkschaften, S. 863)

Das Grundgesetz wurde auch von den Gewerkschaften als Provisorium verstanden, so dass an Stelle der für die Länderverfassungen noch ausführlich gelisteten arbeitsrechtlichen und wirtschaftspolitischen Forderungen zunächst nur allgemeine grundsätzliche Forderungen für eine Einfügung in den Text des Grundgesetzes vorgeschlagen wurden.

Ende Oktober 1948 schrieb Hans Böckler (1875-1951), zu dieser Zeit Vorsitzender des Gewerkschaftsrates der vereinten Zonen, an Konrad Adenauer (1876-1969), den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, und nannte wünschenswerte Abänderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes. Böckler nahm dabei aber zur Kenntnis, „daß die Fraktionen des Parlamentarischen Rates sich dahin gehend geeinigt haben, in den Grundrechtsteil des Grundgesetzes keine näheren Bestimmungen über die Wirtschafts- und Sozialverfassung des deutschen Volkes aufzunehmen.“ Nach eingehenden Beratungen fordere der Gewerkschaftsrat aber trotzdem die Aufnahme eines Artikels zum Wert der persönlichen Arbeit und deren Schutzes in den Grundrechtskatalog:

„Die Arbeit ist die persönliche Leistung für die Gesellschaft. Sie darf nicht als Ware gewertet werden. Die arbeitenden Menschen stehen unter besonderem Schutz. Dieser Schutz hat den Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes.“ (DGB-Archiv im AdsD, 5/DGAB000009, hier digital einsehbar)

Hinzu kamen Änderungswünsche bezüglich der Freizügigkeit, des Versammlungsrechts, der Gewerbefreiheit oder dem Eigentumsbegriff. Zentrale Bedeutung wurde auch dem Bereich Koalitionsfreiheit beigemessen, für den ein gewerkschaftlicher Gegenentwurf formuliert wurde:

„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeit und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Alle Maßnahmen und Abreden, die diese Freiheit einschränken oder zu verhindern suchen, sind rechtswidrig. Das Streikrecht der Gewerkschaften ist gewährleistet. Wer sich an einem gewerkschaftlichen nicht tarifwidrigen Streik beteiligt, handelt nicht rechtswidrig.“ (DGB-Archiv im AdsD, 5/DGAB000009)

Obwohl diese Formulierungen nicht in dieser Form Einzug in den Text des Grundgesetzes fanden, verlieh später der Artikel 9 des Grundgesetzes der Vereinigungsfreiheit, also auch dem Recht von Arbeitnehmer_innen, Gewerkschaften zu bilden, Verfassungsrang.

Eine Stellungnahme des Gewerkschaftsrates zur Verfassungsfrage bildete die Grundlage für eine Besprechung des Gewerkschaftsrates mit Fraktionen des Parlamentarischen Rates am 3. Dezember 1948 in Bonn. Hier findet sich auch eine Einschätzung, welche Rolle die Gewerkschaften im künftigen Bundesstaat spielen sollten:

„Die Gewerkschaften sind sich bewußt, daß ihnen als solche im demokratischen Staat nicht die Aufgaben einer politischen Partei zustehen. Sie erheben als Gewerkschaften keinen Anspruch, in den gesetzgebenden Körperschaften vertreten zu sein. Sie erheben aber diesen Anspruch für exekutive Organe zur Regelung der öffentlichen Angelegenheiten, soweit sie in das Interessengebiet der Gewerkschaften fallen und nicht rein behördlichen Charakter haben. Insbesondere kommt das in Betracht auf dem Gebiete der Sozialpolitik und Sozialversicherung wie der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftsverwaltung. Die Gewerkschaften nehmen Mitglieder aller politischen Parteien auf und erklären sich diesen gegenüber als neutral. Ihre Wünsche und Forderungen an die Gesetzgebung und den Staat stellen sie nach ihren gewerkschaftlichen Bedürfnissen und Interessen auf, ohne Rücksicht andersgearteter Auffassungen bei den politischen Parteien. Die Stellung der Gewerkschaften zu den einzelnen politischen Parteien wird bestimmt durch die Einstellung jeder Partei zu den gewerkschaftlichen Forderungen. Ihre parteipolitische Neutralität verbietet den Gewerkschaften, sich in die inneren Verhältnisse politischer Parteien einzumischen. Die Gewerkschaften können aber auch nicht dulden, daß politische Parteien sich in ihre inneren Verhältnisse einmischen.“ (Mielke, Gewerkschaften, S. 876 f.)

Dies zeigt einmal mehr, dass weder der provisorische Charakter des Grundgesetzes noch die fehlende Übernahme gewerkschaftlicher Forderungen durch den Parlamentarischen Rat eine Interessenlosigkeit der Gewerkschaften am Prozess der Verfassungsgebung bewirkte. Eine stärkere Ablenkung erzeugte jedoch wohl der Umstand, dass die ersten Bundestagswahlen bereits am 14. August 1949 anstanden. Die Gewerkschaften waren zu dieser Zeit bereits sehr daran interessiert, dass Parteien mit hoher programmatischer Übereinstimmung zu gewerkschaftlichen Politikinhalten auch stark im neuen Bundestag vertreten waren.

Die Gewerkschaften und der Geist der Verfassung

Das Grundgesetz hat seit 1949 ununterbrochen Bestand, weswegen auch die Gewerkschaften es in ihrer Arbeit seit 75 Jahren als staatliche Rahmensetzung verstehen dürfen. So beschrieb Eugen Loderer, Vorsitzender der IG Metall, 1974 in Der Gewerkschafter die Aufgaben der Gewerkschaften im Staat:

„Die Gewerkschaften sind an diesem fünfundzwanzigsten Jahrestag des Grundgesetzes aufgerufen, nicht nur im eigenen Interesse, sondern um der Zukunft unseres Staates willen das Grundgesetz vor denen zu schützen, die im Interesse der Freiheit der Profite die Freiheiten der arbeitenden Menschen abschaffen möchten. Deshalb lautet die Losung im Kampfe für längst überfällige Reformen: Mit der Verfassung für eine bessere Verfassungswirklichkeit.“

Hubert Woltering

Quellen im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)

Für die Erforschung der Rolle der Gewerkschaften für die Verfassungsgebung in Deutschland zwischen 1945 und 1949 sind zwei Beständen des DGB-Archivs im AdsD zentral: „Deutscher Gewerkschaftsbund (Britische Besatzungszone)“ [18,86 lfm] und „Gewerkschaftsrat der vereinten Zonen“ [4,14 lfm]. Ergänzt werden deren Materialien durch die Bestände einiger DGB-Landesbezirke, da sich dort die Überlieferung der Gewerkschaftsdachverbände der Gewerkschaften der Bundesländer in der amerikanischen oder französischen Zone (z. B. der „Bayerische Gewerkschafts-Bund“ in Bayern oder der „Freie Gewerkschaftsbund“ in Hessen) als Vorakten findet.

 

Literatur

Gerhard Beier, Der Demonstrations- und Generalstreik vom 12. November 1948. Im Zusammenhang der parlamentarischen Entwicklung Westdeutschlands, Frankfurt am Main, 1975.

Deutscher Gewerkschaftsbund (Brit. Besatzungszone), Zur Verfassungsfrage. Grundsätzliche Forderungen der Gewerkschaften zum Abschnitt „Arbeit und Wirtschaft“ in den neuen Länderverfassungen, Düsseldorf 1947 (digital vorhanden).

Eugen Loderer, Mit der Verfassung für eine bessere Verfassungswirklichkeit, in: Der Gewerkschafter, 22, 1974, S. 2-4.

Siegfried Mielke, Gewerkschaften in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, 1945 - 1949, Köln, 1991.

Monika Wulf-Mathies, 40 Jahre Grundgesetz - 40 Jahre Sozialstaat, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 40, 1989, S. 306-319.

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