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Sozialpolitik kann mehr als nur Geld verteilen: Im Sozialstaat garantieren sich die Bürger_innen ihre Würde gegenseitig.
Bild: Důstojnost - The Dignity von Jan Krömer lizenziert unter CC BY-NC-ND 2.0
Ist die EU doch nur ein schnödes (neo-) liberales „Projekt“, der Binnenmarkt, am Ende des Tages schlicht die größte Freihandelszone der Erde? Auf der Linken hört man diese Klage oft. Gleichzeitig mehren sich die Stimmen, die die sozialpolitische Dimension der Union gestärkt sehen wollen, unter anderem auch über die „Europäische Säule sozialer Rechte“. Derzeit macht der Sozialfonds ungefähr 10 Prozent des EU-Haushalts aus und liegt damit weit hinter den Etats für Agrar- und Regionalpolitik.
Seit 2013 setzt sich die Europäische Kommission für das Social Investment ein. Es wurde in der zweiten Barroso-Kommission von dem ungarischen Sozialisten László Andor, damals EU-Kommissar für Soziales und Beschäftigung, initiiert. Dazu schreibt die Kommission, dass die Mitgliedstaaten „aufgefordert [sind], Sozialinvestitionen prioritär zu behandeln und ihre Systeme der sozialen Sicherheit zu modernisieren.“ Diese sind Teil von „Europa 2020“, der Strategie für „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ in der EU. Das sogenannte „Europäische Semester“ überprüft halbjährlich, inwieweit die Mitgliedstaaten Fort- oder Rückschritte machen. Können Sozialinvestitionen Mittel und ein neuer Rahmen für ein sozial gerechteres, solidarischeres Europa werden?
Dazu hat unlängst die Bremer Politikwissenschaftlerin Silke Bothfeld für die Friedrich-Ebert-Stiftung ein Papier unter dem Titel „Social Investment – Impuls für eine moderne Sozialpolitik?“ vorgelegt. Zunächst: Es gibt wieder eine „soziale Frage“ in Europa. Die Arbeitslosigkeit in manchen Ländern wie Griechenland liegt bei weit über 20 Prozent, die Zahl der Jugendlichen ohne Einkommen oft noch darüber, die Vermögen der Reichen wachsen weitaus schneller als die Einkommen der Mittelschichten. Gleichzeitig sehen sich die meisten europäischen Staaten mit demographischen Herausforderungen, der internationalen Konkurrenz und dem technologischen Wandel („Automatisierung“) konfrontiert. Man kann also davon ausgehen, dass uns neue oder sich verstärkende gesellschaftliche Konflikten bevorstehen.
Der Sozialstaat, wie er seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt wurde, hatte nicht zuletzt die Funktion, Klassen- und andere Sozialkonflikte zu mildern, stellte aber auch ein Scharnier der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) dar: Er war ein Mittel, um gesellschaftlichen Aufstieg zu ermöglichen. Hier setzt auch der Gedanke der Sozialinvestitionen an: Sozialstaatliche Ausgaben haben demnach nicht nur eine korrektiv-ausgleichende, sondern auch eine investive Funktion, sie sind produktiv: das, was man hineingibt, bekommt man mit einer „Rendite“ heraus.
Doch genau hier sieht Silke Bothfeld auch einen kritischen Punkt des Konzepts. Denn Sozialinvestitionen sollten nicht primär oder sogar ausschließlich als „Fitmacher“ für den (Arbeits-) Markt verstanden werden. Ausgehend vom „Sozialstaatsgebot des deutschen Grundgesetzes [als] ein konstitutiver Bestandteil unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ versteht sie den Sozialstaat auch als Garanten der Verfassungsordnung und der Grundrechte inklusive der Freiheitsrechte. Und nicht zuletzt beruft sich auch die höchstrichterliche Rechtsprechung in Bezug auf die Sozialgesetzgebung auf Artikel 1 der Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Entsprechend fordert Bothfeld, die „normativen und historischen Begründungszusammenhänge“ der Sozialpolitik stärker zu betonen, denn diese erziele „vor allem in den Bereichen der sozialen Sicherheit, individueller Freiheit und sozialer Gleichheit Wirkungen, die sich nicht beziffern lassen.“ Der Sozialinvestitionsansatz ist also zu begrüßen, denn er stellt explizit „die Notwendigkeit und den Nutzen“ sozialstaatlicher Aktivitäten heraus und nicht nur deren Kosten. Die Ziele der Europäischen Union in diesem Bereich verdienen Unterstützung und eine kritische Begleitung.
Ansprechpartnerin in der Stiftung:
Ruth Brandherm
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