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Christos Katsioulis

Nach der Zeitenwende: Aktuelles Sicherheitsempfinden der deutschen Bevölkerung

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine markierte eine Zeitenwende für Deutschland – nicht nur außenpolitisch, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Wie steht es aktuell um die deutsche Haltung zu Sicherheit, Russland und globalen Herausforderungen? Neue Umfragedaten aus dem Sicherheitsbüro unseres Wiener Regionalbüros.

Die „Zeitenwende“ – ein Begriff, der nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine tief ins deutsche Selbstverständnis einsickerte – hat nicht nur die Außen- und Sicherheitspolitik geprägt, sondern auch das Denken und Fühlen der Bevölkerung nachhaltig verändert. Doch wo steht Deutschland jetzt, fast drei Jahre nach Beginn dieser tektonischen Verschiebungen? Neue Daten des Sicherheitsradars 2024 des Wiener Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen, dass die deutsche Gesellschaft in einem Spannungsfeld aus Unsicherheit, Anpassung und traditionellem Wertesystem steht.

Die neue Realität: Russland als dauerhafte Bedrohung

Die Wahrnehmung Russlands hat sich in Deutschland grundlegend verändert. Fast drei Viertel der Deutschen sehen Russland mittlerweile als Gefahr für die europäische Sicherheit, ein klarer Anstieg gegenüber 2021. Auch die Ansicht, dass russische und europäische Interessen unvereinbar sind, hat sich verfestigt. Die Unterstützung für Sanktionen gegen Russland stieg, obwohl wirtschaftliche Belastungen spürbar sind. Dennoch bleibt eine Minderheit von etwa einem Viertel skeptisch: Diese Gruppe neigt zu Anti-Amerikanismus und vertritt oft divergierende Positionen zu Russland und China.

Dieses polarisierte Meinungsbild zeigt eine tiefgreifende Spaltung in der deutschen Gesellschaft: während die Mehrheit auf Abschottung gegenüber autokratischen Systemen setzt, plädiert eine nicht zu vernachlässigende Minderheit für eine offenere Haltung gegenüber Russland.

Ein Blick nach innen: Sorgen um die Gesellschaft

Die geopolitischen Umbrüche haben nicht nur außenpolitische Konsequenzen, sondern auch eine stärkere „Wendung nach innen“ bewirkt. Eine Mehrheit der Deutschen sieht die Gefahr eines Krieges in Europa als realistisch an, doch zugleich wächst die Sorge um den sozialen Zusammenhalt im eigenen Land. 65% der Befragten fordern, dass sich Deutschland auf die Stärkung der eigenen Werte und sozialen Systeme konzentrieren sollte.

Diese Haltung spiegelt sich in der Skepsis gegenüber militärischen Ausgaben wider: Während mehr Investitionen in Verteidigung mittlerweile klar befürwortet werden, wird eine Priorisierung gegenüber sozialen Ausgaben von einer Mehrheit abgelehnt. Hier zeigt sich, dass die Gesellschaft zwar bereit ist, auf die neue Realität zu reagieren, aber soziale Gerechtigkeit als unverzichtbare Grundlage für innere Stabilität betrachtet.

 

Ukraine-Unterstützung: Von Solidarität zu Ernüchterung

Die anfängliche Begeisterung für die Unterstützung der Ukraine hat einer gewissen Ernüchterung Platz gemacht. Waffenlieferungen und eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine stoßen 2024 auf weniger Zustimmung als in den Jahren zuvor. Eine knappe Mehrheit spricht sich dafür aus, den Krieg möglichst rasch zu beenden – selbst um den Preis territorialer Verluste für die Ukraine.

Diese Haltung deutet darauf hin, dass die emotionale Belastung durch den Krieg ihre Spuren hinterlassen hat. Zugleich zeigt sie die Notwendigkeit einer behutsamen Kommunikation seitens der Politik, um sowohl Solidarität als auch strategische Geduld in der Bevölkerung zu fördern.

 

Schlussfolgerungen: Balance zwischen Wandel und Stabilität

Die Analyse der Sicherheitsradar-Umfragen verdeutlicht die Herausforderungen und Chancen für die deutsche Politik:

  1. Verteidigungsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit verbinden: Deutschland muss seine militärischen Kapazitäten ausbauen, ohne den sozialen Zusammenhalt zu gefährden. Dies erfordert kreative Finanzierungsansätze, etwa durch Sonderabgaben für Wohlhabende, um breite Akzeptanz zu sichern.
     
  2. Europäische Zusammenarbeit stärken: Deutschland sollte seine Führungsrolle in der EU weiter ausbauen, um die europäische Sicherheit kollektiv zu stärken. Eine engere Abstimmung mit den europäischen Nachbarn wird entscheidend sein, um gemeinsame Antworten auf geopolitische Bedrohungen zu finden.
     
  3. Ernüchterung in der Ukraine-Politik entgegenwirken: Eine klare Kommunikation über langfristige Ziele in der Ukraine und die Bedeutung der europäischen Unterstützung sind notwendig, um die Solidarität in Deutschland aufrechtzuerhalten.
     
  4. De-Risking vorantreiben: Die Reduktion wirtschaftlicher Abhängigkeiten von autokratischen Staaten wie Russland und China wird gesellschaftlich mehrheitlich unterstützt. Diese strategische Neuausrichtung bietet die Chance, die wirtschaftliche Resilienz Deutschlands zu stärken.

     

Christos Katsioulis leitet das Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden der Friedrich-Ebert-Stiftung in Wien. Zuvor leitete er die Büros der FES in London, Athen und Brüssel.

 

 

Katsioulis, Christos

Nach der Zeitenwende, vor der zweiten Wende?

Wien, 2024

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