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»Produced in Georgia« Undercover in der georgischen Textilindustrie

Drohungen, Korruption, Nervenzusammenbrüche: Alltag in der georgischen Textilindustrie. Unsere Reportage zeigt unmenschliche Verhältnisse.

Bild: Blaue Staubschicht überall von Tamuna Chkareuli

Bild: Jeansberge von Tamuna Chkareuli

Bild: Überwachte Raucherpause von Dato Parulava / OC Media

Bild: Elektronische Chips, die einen Moncler-Mantel kennzeichnen von Tamuna Chkareuli

Bild: Viele verschlossene Toiletten ohne Toilettenpapier von Tamuna Chkareuli

Bild: Maschinenverschleiß durch Staubwolken von Tamuna Chkareuli

Bild: Alltag in der Fabrik von Dato Parulava / OC Media

Bild: Tamuna Chkareuli von OC Media / Tamuna Chkareuli

Drohungen, Korruption, Nervenzusammenbrüche und 4000-Dollar-Mäntel: In einer dreiteiligen Serie untersucht OC-Media die Zustände in der georgischen Textilindustrie. Im zweiten Teil recherchiert die investigative Journalistin Tamuna Chkareuli in der Geo-M-Tex-Fabrik in Tiflis undercover. Die Recherche wurde von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Georgien ermöglicht. Der Original-Artikel erschien am 7. Februar 2020 hier.

Es war einfach eine Stelle in der Geo-M-Tex-Fabrik zu bekommen. Die Personalchefin stellte nicht viele Fragen, sondern sie erklärte nur kurz, dass ich als Neuankömmling grundlegende Näharbeiten durchführen und diese Schritt für Schritt erlernen würde. Man sagte mir, man träfe mich am nächsten Tag beim Sicherheitsdienst und würde mich dann in eine der vier Werkstätten bringen, die es in der Fabrik gibt: Mäntel, Hosen, Zuschnitt und Mantelfüllung. Doch am ersten Tag erwartete mich niemand. Als ich ankam, sagte mir der Sicherheitsdienst nur, ich solle den Frauen in der unteren Etage der Fabrik folgen, in der sie Jeans herstellen. Meine Aufgabe bestand darin, die Stelle für die Knöpfe zu markieren und sie dann mit drei verschiedenen Pressen zu befestigen. Das ist eine gefährliche Arbeit, da die Presse im Handumdrehen zuschlägt. Wir arbeiteten an einer speziellen Schutzhose von Uvex , einer deutschen Sportbekleidungsmarke. Das dicke, jeansartige Material hinterließ eine blaue Staubschicht in der gesamten Werkstatt. Ich mag noch immer nicht daran denken, wieviel davon an den Innenseiten meiner Lungen haften blieb. Wir waren etwa 30 Personen im Raum, inmitten eines ständigen Lärms von Maschinen, der nur von den wütenden Schreien der Arbeiterinnen und Vorgesetzten übertönt wurde. Es war erdrückend und unmöglich zu atmen. Die Klimaanlage war eingeschaltet, aber sie konnte nur ein nutzloses, lauwarmes Keuchen ausstoßen.

Produce in Georgia

Das Programm Produce in Georgia wurde von der georgischen Regierung im Juni 2014 vorgestellt. Es soll Investitionen ins verarbeitende Gewerbe fördern, indem es Darlehen mitfinanziert und staatliches Eigentum zum symbolischen Preis von einem georgischen Lari (≙ 0,32 Euro) aushändigt. Mit dem Programm präsentiert sich Georgien als Wachstumsmarkt, mit zahlreichen Freihandelsabkommen und niedrigen Kosten - vor allem Lohnkosten. Laut der offiziellen Website ist der Sektor der Bekleidungsproduktion »durch […] extrem billige Arbeitskräfte (etwa 265 US-Dollar pro Monat) gekennzeichnet.« In einer Broschüre über das verarbeitende Gewerbe wird auch das »günstige Arbeitsgesetz« erwähnt. Weiter heißt es: »Das Land hat keine Mindestlohnvorschriften und die Arbeitsvergütung hängt allein von der Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ab.« Tatsächlich gibt es in Georgien einen Mindestlohn, der sich seit 1999 nicht geändert hat. Er beträgt lediglich 20 Lari (≙ 7 Euro) pro Monat: ein bitterer Streitpunkt für Gewerkschaften und Arbeitsrechtaktivisten. Produce in Georgia hat es geschafft das »Nearshoring« zu fördern. Das ist ein neuer Trend im Bekleidungssektor, der es großen Marken ermöglicht Versandkosten für die EU-Märkte zu sparen, in dem in Osteuropa, im Kaukasus und in der Türkei produziert wird. Gegenwärtig profitieren 13 Fabriken in Georgien von diesem Programm.

Die Begünstigten

Geo-M-Tex versteht meisterlich von Produce in Georgia zu profitieren. Die Firma erhielt ein Vorzugsdarlehen von 5,5 Millionen Lari (≙ 1,9 Millionen US-Dollar) und ein Gebäude für einen Lari, um eine Fabrik zur Herstellung westlicher Marken für den Export zu eröffnen. In 2015 eröffnet, befand sich bis 2017 mehrheitlich im Besitz zweier Personen, Lasha Bagrationi und Ramaz Sagharadze, die jeweils 42,5% der Aktien kontrollierten. Lasha Bagrationi ist der Sohn von Mukhran Bagrationi, einem einflussreichen Geschäftsmann, der drei große Einzelhandelszentren in Tiflis besitzt, sowie die Baufirma Ekometer, die zwei Luxus-Wohnprojekte und das Besiki Business Centre in der Hauptstadt gebaut hat. Lashas älterer Bruder, Giorgi Bagrationi ist Leiter der Abteilung für Sicherheitspolizei im Innenministerium und war Kommunalinspektionsleiter im Rathaus von Tiflis. Zuvor stand er auch der Bezirksverwaltung des Samgori-Distrikts vor. Der 72-jährige Ramaz Sagharadze ist der Schwiegervater von Grigol Morchiladze, ein wohlhabender Unternehmer und ein politisches Schwergewicht. Im April 2014 wurde Morchiladze von Wirtschaftsminister Dimitri Kumsishvili zum Berater des Vorsitzenden der Nationalen Agentur für Staatseigentum ernannt, genau der Institution, die Grundstücke und Gebäude an die Begünstigten von Produce in Georgia vergibt. Nur ein Jahr später wurde die Geo-M-Tex-Fabrik eröffnet.

Morchiladze ist auch der ehemalige Geschäftspartner des Ministers für Regionalentwicklung und Infrastruktur, Zurab Alavidze und ein regelmäßiger Parteispender, sowohl für die Oppositionspartei Vereinte Nationale Bewegung, als auch für die regierende Partei Georgischer Traum. Der ersten spendete er 60 000 Lari (≙37 000 US-Dollar) 2012, der letzteren 50 000 Lari (≙20 000 US-Dollar) 2016 und 60 000 Lari (≙22 000 US-Dollar) 2017. Nach einem Arbeits- und Qualitätskontrollskandal im Jahr 2017 wurde Ramaz Sagharadze rechtlich zum alleinigen Eigentümer von Geo-M-Tex. Trotz seines offiziellen Eigentums an der Fabrik wurde sie von den Arbeiterinnen bei Geo-M-Tex immer noch regelmäßig als »Morchiladze-Fabrik« bezeichnet. Viele von ihnen glauben, dass Morchiladze der eigentliche Besitzer ist und Sagharadze nur als Strohmann fungiert.

Verschlossene Türen

Wir arbeiteten von 9 bis 18 Uhr mit drei Pausen – zehn Minuten um 11 Uhr, 40 Minuten um 13 Uhr und zehn Minuten um 16 Uhr. Mir fiel auf, dass die Sicherheitsleute immer einige Minuten vor Ablauf der Zeit in den Pausenbereichen erschienen, um allen mitzuteilen, dass die Pause vorbei war. Technisch gesehen war sie es nicht, aber sie erklärten, dass der Rückweg in die Werkhalle zwei bis drei Minuten dauerte. Deswegen konnte sich niemand während einer zehnminütigen Pause entspannen oder in Ruhe eine Zigarette rauchen. Selbst wenn sie nicht immer zu sehen waren, spürten wir die Sicherheitsleute immer direkt hinter unserem Rücken. Das Haupttor der Fabrik ist den größten Teil des Tages verschlossen und war nur während der 40-minütigen Mittagspause geöffnet. In kurzen Pausen konnten wir die Fabrik nicht verlassen und durften nur in einem kleinen Bereich im Innenhof rauchen. Zum Mittagessen gingen wir in die Küche. Die Küche war für uns jedoch nur »Dekoration« – wir durften dort nicht kochen. Alle Frauen kamen mit ihrem eigenen Essen und aßen aus Plastikboxen. In den Toiletten waren zwei Drittel der Kabinen zugenagelt und in den anderen befand sich kein Toilettenpapier, so dass alle genötigt waren ihr eigenes mitzubringen.

Marina Blakunova

Fünf Monate nach der Gründung von Geo-M-Tex übernahm mit Eurotex Limited ein neu gegründetes Unternehmen, unter der Leitung von Marina Blakunova, das Management der Fabrik. Marina Blakunova ist in Lettland geboren, staatenlos und eine Vertreterin der Egeria-Gruppe. Ihre Tochter Veronika schloss sich ebenfalls dem Führungsteam an und gründete später ihre eigene Bekleidungslinie Movi, die derzeit bei Eurotex produziert. Die Egeria-Gruppe, offiziell als Egeria Limited registriert, ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz auf Zypern. Sie vermittelt zwischen der Fabrik und den Marken und liefert Stoffen und Spezifikationen für verschiedene Modelle. In der Zeit bei Geo-M-Tex schloss Eurotex Deals mit den Bekleidungsmarken Equiline, Dainese, Uvex und Moncler. Moncler gilt als hochwertige Marke. Die Wintermäntel kosten zwischen 252 und 4 587 US-Dollar. Bis zum Sommer 2019 wurden alle Waren von Moncler in Georgien unter Blakunovas Aufsicht produziert. Einige Produktionsprozesse waren in verschiedene Fabriken in Kutaisi und Rustavi ausgelagert. Geo-M-Tex in Tiflis war das Hauptproduktions- und Versandzentrum.

»Pass auf deine Finger auf«

Mein erster Tag war von zwei großen Ereignissen geprägt: Morgens fing eine Frau in meinem Arbeitsbereich an zu schreien, brach zusammen und begann zu krampfen. Sie hatte einen epileptischen Anfall. Nachdem die Frau weggebracht worden war, sprachen alle Arbeiterinnen darüber, wie stressig der Job sei, und dass sich niemand vor solchen körperlichen Reaktionen sicher fühlen kann. Kurze Zeit später kam Marina Blakunova und schrie alle an. Sie forderte, dass »wer auch immer dafür verantwortlich sei«, hervortreten solle. Sie sagte, dass die Schneiderinnen sich gegenseitig wie Tiere behandelten und diesen Vorfall eindeutig zu verantworteten. Die Verantwortung läge nicht bei ihr. Nachdem Marinas Predigt beendet war , verließ sie die Fabrik und an ihre Stelle trat ihre Tochter Veronika. Kurze Zeit später kam ein Firmenvertreter aus Italien – wir vermuteten von Moncler, konnten es aber nicht mit Sicherheit feststellen. Beide hielten sich den Rest des Tages mit uns in der Werkstatt auf. Dem Italiener schien es egal zu sein, dass es in dem Raum kaum möglich war zu atmen. Er redete meist nur mit Veronika. Aber wenn eine der arbeitenden Frauen zu laut sprach oder lachte, dann schrie Veronika die Frauen direkt vor den Augen des italienischen Besuchers an und sagte ihnen, sie würde sich für sie schämen.

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