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Ungarn wird häufig als Beispiel besonders großer Europaverdrossenheit gesehen. Das Gegenteil ist der Fall: Der Verdruss gilt vorrangig den heimischen Eliten, nicht Europa
Bild: Hungarian Parliament von Guillaume Speurt lizenziert unter CC BY-SA 2.0
Es gibt in Europa wohl kaum einen Regierungschef, der ausdauernder und ausfallender rhetorisch auf die Europäische Union reagiert als den ungarischen Regierungschef Viktor Orban. Da wird Europa rhetorisch schon einmal zum „Schlachtfeld“ oder es wird gewarnt, dass Brüssel das neue Moskau sei. Gerade im Zusammenhang mit der Quotenregelung für Geflüchtete suchte Orban gezielt die Konfrontation mit der europäischen Politik. Ist die Europäische Union in Ungarn daher besonders unbeliebt? Das Gegenteil ist der Fall.
Tatsächlich liegt in Orbans Ungarn die Zustimmung zur EU über dem europäischen Durchschnitt: 39 Prozent der Bevölkerung stehen der EU positiv gegenüber, 40 Prozent neutral und ein Fünftel der Bevölkerung bewertet die EU „negativ“. „Das sind überraschend positive Werte, allerdings ist die Tendenz klar negativ“, sagt Jan Niklas Engels, Leiter des FES-Büros in Budapest. Er analysierte die Lage Ungarns auf einer Work-n-Lunch-Veranstaltung der FES in Nordrhein-Westfalen.
In Ungarn scheint vor allem der Optimismus abhandengekommen zu sein: Nur 50 Prozent der Ungar_innen sehen die Zukunft Europas positiv. Derweil hat sich der Anteil derer, die selbige „sehr pessimistisch“ sehen, auf elf Prozent verdoppelt.
„Das Vertrauen in Europa sinkt“, sagt Jan Niklas Engels, „aber noch weniger als der EU vertrauen die Ungarn der eigenen Regierung“.
Tatsächlich lag der Anteil der Ungar_innen, die in Umfragen angaben, der EU ihr Vertrauen zu schenken, 2010 noch bei 55 Prozent. Heute würden das nur noch 41 Prozent sagen. Doch selbst diese Werte liegen weit über dem europäischen Durchschnitt: Da sagen nur 32 Prozent aller Bürger_innen, sie vertrauten der Europäischen Union und ihren Institutionen. Zerrüttet ist hingegen das Verhältnis der Ungar_innen zum eigenen politischen Personal: Nur 16 Prozent haben noch Vertrauen in die politischen Parteien, 30 Prozent würden selbiges über das Parlament sagen. „Ungarn steckt in einer Vertrauenskrise der Politik. Das gilt sicherlich nicht für Ungarn allein, aber in Kombination mit den Erwartungen an die Transformation und EU-Beitritt ist die Enttäuschung besonders hoch.“
Engels sieht als Ursache dafür eine ungarische Dreifachkrise:
wirtschaftlich, sozial und politisch. Zwar wachse die ungarische Wirtschaft stärker als viele andere Europas, doch stellten die einseitige Fokussierung auf die Autoindustrie und fehlende Investitionen in Bildung und Gesundheit massive Wachstumsrisiken dar. In Sachen Wettbewerbsfähigkeit läge Ungarn weit hinter einigen Nachbarstaaten. Damit einher gingen auch massive soziale Verwerfungen: Der Netto-Durchschnittslohn in Ungarn betrage 520 Euro, während fast vier der zehn Millionen Ungarn mit weniger als dem Existenzminimum von 280 Euro im Monat auskommen müssen. Der ungarischen Politik wird derweil kaum zugetraut, diese Probleme zu lösen.
„Ungarn ist ein armes Land“, sagt daher auch der ungarische Generalkonsul in Düsseldorf, Balázs Szabolcs Szegner. Er wirbt angesichts dessen auf der Veranstaltung mit Engels um Verständnis für die ungarische Geflüchtetenpolitik: „Ungarn ist ein Transitland und da sind wir unseren Verpflichtungen nachgekommen“. Um Verständnis geht es auch Birgit Sippel, die seit 2009 im Europäischen Parlament sitzt: „Die Kritik an der ungarischen Regierung darf nicht missverstanden werden als Kritik an den einzelnen Ungarn“, sagt sie. Ähnliche Äußerungen kommen bei der Work-n-Lunch-Veranstaltung auch aus der Reihe der Anwesenden.
„Verständnis für die Lage der Menschen in Mittelosteuropa bleibt unverzichtbar“, stellt Raycho Panchev fest, der für die FES in Düsseldorf die Veranstaltungsreihe organisiert.
Eines zeigt gerade die Lage in Ungarn ganz sicher: Das, was wie der Vertrauensverlust in Europa aussieht, ist zumindest hier auch eine nationale Vertrauenskrise.
Ansprechpartner in der Stiftung:
Raycho Penchev
Weiterführende Links:
Direktdemokratische Referenden als Machtinstrument der Regierung? Ein kritischer Blick nach Ungarn. Von Róbert László http://library.fes.de/pdf-files/bueros/budapest/12811.pdf
Flucht, Schlepperei und Fluchthilfe entlang der West-Balkan Route: Lösungen finden statt Festungen bauen. Von Prof. Andreas Schloenhardt
Enttäuschte Hoffnungen? Einstellungen der ungarischen Bevölkerung zur Europäischen Union. Von András Bíró-Nagy, Tibor Kadlót und Ádám Köves
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+49 (0)30 26935-7458Mirko.Herberg(at)fes.de
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Das Projekt „Gewerkschaften im Wandel 4.0“ wurde von der FES initiiert und hat zum Ziel, die Interessenvertretung von Beschäftigten im digitalen Kapitalismus zu verstehen. weiter