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Fokus NorD: Welche Auswirkung hat Migration auf den norwegischen Arbeitsmarkt? Ein Beitrag von Anne Mette Ødegård.
Bild: Mehrere Arbeiter in roter Arbeitskleidung hängen frischen Dorsch an ein großes Trockengestell in Svolvær (Norwegen). von picture alliance / Michael Narten
Seit den EU-Erweiterungen 2004 und 2007 erlebt Norwegen mehr Zuwanderung von Arbeitskräften als je zuvor. Bei einer Erwerbsbevölkerung von 2,8 Millionen arbeiteten 2019 fast 185.000 Menschen aus Mittel- und Osteuropa in Norwegen. Diese Zahl beinhaltet sowohl Menschen mit Wohnsitz in Norwegen als auch solche mit Hauptwohnsitz im Ausland, die in Norwegen arbeiten. Die letztere Gruppe umfasst jedes Jahr Zehntausende. Die Hauptgründe für diesen „Einwanderungsschock“ sind der Arbeitskräftemangel in Norwegen und das Lohnniveau, das zu den höchsten in Europa zählt.
Statistics Norway zufolge sind migrantische Arbeitskräfte seit 2007 für den größten Teil des Beschäftigungswachstums in Norwegen verantwortlich. Sie arbeiten hauptsächlich im Baugewerbe, gefolgt von der Fertigung und dem Gesundheitswesen, also weitgehend in Niedriglohnsektoren. Die große Mehrheit der migrantischen Arbeitskräfte kommt aus Polen und Litauen; Polen, Litauen und Rumänien machen etwa 80 Prozent aus. Anders als andere Einwandernde (insbesondere Geflüchtete) leben und arbeiten migrantische Arbeitskräfte in allen Teilen des Landes. Viele arbeiten auf Werften (westliches Norwegen) und in der Fischverarbeitungsindustrie(im Norden). Das durchschnittliche Monatsgehalt betrug 2019 NOK 47.290 (4.418€), während Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa durchschnittlich NOK 37.700 (3.522€) verdienten.
Nach allgemeiner Meinung hat die Arbeitsmigration nach Norwegen einen positiven Effekt auf die Wirtschaft. Arbeitskräftemangel gehört der Vergangenheit an, und Arbeitgeber haben jetzt die Möglichkeit, weitere Arbeitskräftestrategien anzuwenden. Ein Beispiel: ein norwegisches Unternehmen beauftragt ein Unternehmen aus Mittel- und Osteuropa als Subunternehmen, das eigene (entsandte) Arbeitskräfte mitbringt, um eine bestimmte Arbeit zu entrichten, anstatt dass das norwegische Unternehmen eigene Arbeitskräfte beschäftigt. Andere Arbeitgebende gründen Zeitarbeitsfirmen oder beauftragen eine lokale Zeitarbeitsfirma in einem osteuropäischen Land, um bei Bedarf Zeitarbeitskräfte einzustellen.
Aufgrund des vorherrschenden Arbeitskräftemangels ist es kaum zur Verdrängung norwegischer durch ausländische Arbeitskräfte gekommen. Dennoch ist es schwierig, junge Norweger_innen für das Bauhandwerk zu begeistern. Das hohe Maß an ausländischen Arbeitskräften im Baugewerbe in vielen Landesteilen hat es für sie weniger attraktiv gemacht, ins Baugewerbe einzusteigen, weil es ihrer Meinung nach „ausländisch“ geworden ist. Eine weitere Sorge besteht darin, dass die Zuwanderung von Arbeitskräften es Personen mit Herausforderungen wie geringer Bildung oder gesundheitlichen Problemen erschwert, Arbeit zu finden. Die Überlegung dahinter ist, dass es für einen Arbeitgebender einfacher sein könnte, eine Arbeitskraft aus dem Ausland einzustellen als eine Person auszubilden und weiterzubetreuen, die im Arbeitsalltag intensivere Aufmerksamkeit benötigt. Diese Faktoren sind Teil der öffentlichen Debatte. Diskussionen über das zukünftige Angebot an Arbeitskräften auf dem Bau haben hauptsächlich zwischen den Tarifpartner_innen stattgefunden.
Die Kooperation zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer_innenvertreter_innen auf der Unternehmens- und Sektorenebene ist ein Schlüsselelement des norwegischen Arbeitsmarktmodells. Eine Voraussetzung für dieses System ist ein hoher Grad gewerkschaftlicher Organisation. Eingewanderte Arbeitskräfte sind weniger geneigt, einer Gewerkschaft beizutreten, was in manchen Teilen des Arbeitsmarkts das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer_innen verändert.
Die Vergütung wird in Tarifverträgen festgelegt bzw., wo es keine gibt, im schriftlichen Arbeitsvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer_in. Obwohl es in Norwegen keinen allgemeinen Mindestlohn gibt, sind in manchen Sektoren Mindestlöhne eingeführt worden (flächendeckende Anwendung von Tarifverträgen auf alle Arbeitskräfte im Sektor): Bau, Schiffsbau, Landwirtschaft und Gartenbau, gewerbliches und privates Reinigungsgewerbe, Fischverarbeitung, Elektrogewerbe, Straßengüterverkehr, Reisebusfahrer_innen sowie Hotelgewerbe und Catering. Es ist wissenschaftlich belegt, dass die branchenweite Anwendung von Tarifverträgen im Bausektor die Vergütung der am schlechtesten bezahlten Arbeitskräfte erhöht. Gleichzeitig gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Einwanderung von Arbeitskräften negative Auswirkungen auf die Löhne besserverdienender Arbeitskräfte (meist Norweger_innen) hat. Dies bedeutet, dass das Lohnwachstum besser bezahlter Bauarbeitskräfte geringer ausgefallen ist als es ohne die Konkurrenz billigerer Arbeitskräfte gewesen wäre. Für andere Sektoren sind bislang keine Analysen dieser Art durchgeführt worden. Im Reinigungsgewerbe hat die branchenweite Anwendung von Tarifverträgen einen allgemein positiven Effekt auf das Lohnniveau gehabt. Dasselbe Muster ist in Hotels und Restaurants zu erkennen, wo der Anteil der Arbeitskräfte, die weniger als den im Tarifvertrag festgelegten Mindestlohn erhielten, zwischen 2017 und 2018 um mehr als die Hälfte zurückging.
Die wirksamste Maßnahme, um die Auswirkungen der Einwanderung von Arbeitskräften anzupacken, ist bereits genannt worden: die branchenweite Anwendung von Tarifverträgen in den am stärksten betroffenen Branchen. Das Gesetz über die branchenweite Anwendung von Tarifverträgen wurde 1993 verabschiedet, aber erst 2004 umgesetzt, nachdem die Einwanderung von Arbeitskräften aus den neuen EU-Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa gestiegen war. Das Gesetz soll vor allem gewährleisten, dass die Löhne und Arbeitsbedingungen der ausländischen Arbeitskräfte denen der norwegischen ähneln, und es soll verhindern, dass es zu unfairem Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt kommt. Die Arbeitsaufsicht hat die Befugnis, in von branchenweiten Tarifverträgen abgedeckten Bereichen die tatsächlich gezahlten Löhne zu überprüfen.
Eine weitere seit den EU-Erweiterungen eingeführte Maßnahme verlangt, dass Unternehmen, die auf Baustellen arbeiten oder Reinigungsdienstleistungen anbieten, ihren Arbeitskräften eine Gesundheits- und Sicherheitskarte ausstellen müssen, auf der Arbeitnehmer_innen und -Arbeitgeber angegeben sind. Die Kettenhaftung wurde 2010 eingeführt und basiert auf dem deutschen System. Dies bedeutet, dass alle Vertragsunternehmen in der Kette für nicht geleistete Lohn- und Urlaubsgeldzahlungen, die den Arbeitskräften weiter abwärts in der Kette zustehen, haften. Zusätzlich setzen manche Kommunen das öffentliche Beschaffungswesen ein, um anständige Konditionen für Unterauftragnehmer_innen zu verlangen.
Ein großer Anteil der migrantischen Arbeitskräfte hat sich mit seinen Familien in Norwegen angesiedelt. Dennoch bleibt die Sprache eine Herausforderung, mit Ausnahme derjenigen, die im Gesundheitswesen arbeiten. EU-Bürger_innen haben keinen Anspruch auf kostenlose Sprachkurse, und viele geben Kursen, die sie selbst bezahlen müssen, niedrige Priorität. Zudem fehlt es Migrant_innen oft an Wissen über Vorschriften, Gewerkschaften und Arbeitskultur (einschließlich Vertrauen zwischen Management und Arbeitskräften, Vertrauen in Gewerkschaften und Vertrauen in Behörden wie der Arbeitsaufsicht). Für diejenigen, die eher ausgeprägte Hierarchien und geringes Vertrauen in Behörden kennen, kann dies eine Herausforderung sein. Schlussfolgernd kann festgehalten werden, dass Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa derzeit nicht gut in das norwegische Modell der Tarifpartnerschaft integriert sind. Ihre mangelnden Norwegischkenntnisse beeinflussen auch ihre Fähigkeit, norwegische Freund_innen zu finden und sich in ihre Nachbarschaften zu integrieren.
Seit 2004 kommen Begriffe wie „Sozialdumping“ und „Arbeitsplatzkriminalität“, d.h. kriminelle Handlungen in Verbindung mit der Ausbeutung von Arbeitskräften und der illegalen Wettbewerbsverzerrung, in der öffentlichen Debatte häufig vor. Obwohl Politiker_innen und die Tarifpartner_innen sich nicht einig sind, wie Sozialdumping zu definieren und zu bekämpfen ist, teilen sie die Sichtweise, dass es Probleme gibt. Innerhalb der Gewerkschaften hat das Ausmaß der Arbeitsmigration Diskussionen veranlasst, die das EWR-Abkommen in Frage stellen. Obwohl es in der gesamten norwegischen Gesellschaft Unterstützung genießt, gibt es starke Stimmen, die argumentieren, dass ein gewöhnliches Handelsabkommen für das Land besser sei. Die allgemeine Einstellung in den vergangenen 16 Jahren ist, dass migrantische Arbeitskräfte willkommen sind, sofern sie gut behandelt werden und norwegische Gehälter verdienen. Probleme mit Sozialdumping bestehen weiter fort, aber die im letzten Jahrzehnt ergriffenen Maßnahmen haben offensichtlich Wirkung gezeigt. Dabei ist die wichtigste Maßnahme, dass die Arbeitsaufsicht die Befugnis hat, in von branchenweiten Tarifverträgen abgedeckten Bereichen die tatsächlich gezahlten Löhne zu überprüfen. Gleichzeitig haben Migrant_innen ihre dringend benötigte Arbeitskraft beigetragen, zum Beispiel in ländlichen Gebieten, die von Abwanderung betroffen sind. Diskussionen über Arbeitsmigration werden nicht mit der Frage der Aufnahme von Geflüchteten vermischt. Diese beiden Arten Migration werden in Norwegen separat betrachtet.
Autorin:
Anne Mette Ødegård ist Senior Researcher beim Fafo Institute for Labour and Social Research (Norwegen).
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