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von Anton Hemerijck und Robin Huguenot-Noël
Nachdem die Welt kaum Zeit hatte, die wirtschaftlichen und sozialen Nachbeben der Großen Rezession von 2007 bis 2009 zu absorbieren, erlebt sie nun einen Schock mit noch schwerwiegenderen Folgen: Die Covid-19-Pandemie bedroht Menschenleben und vernichtet Arbeitsplätze. Während sich das Krisenmanagement der Pandemie auch dahingehend auswirkt, dass Beschäftigungsmöglichkeiten für Millennials sinken, Niedriglöhne für wichtige Arbeitnehmer_innen weiter stagnieren und die doppelte Arbeitsbelastung für Frauen nur noch zunimmt, rückt die Widerstandskraft des europäischen Wohlfahrtsstaats richtigerweise in den Mittelpunkt.
Doch so offensichtlich eine Neubewertung resilienter Sozialfürsorge in der gegenwärtigen Lage erscheinen mag, kommen die neuen Lobeshymnen auf den Wohlfahrtsstaat doch überraschend; denn seit Ende der 1970er-Jahre agiert Sozialpolitik politisch wie intellektuell aus der Defensive. Immer wieder haben führende Ökonom_innen argumentiert, die europäischen Wohlfahrtsstaaten seien überfürsorglich und würden mit ihren hohen Steuern, großzügigen Renten, dem hohem Arbeitslosengeld, großen gewerkschaftlichen Einfluss und Bestandsschutz am Arbeitsmarkt einen wirtschaftlichen und politischen Niedergang begünstigen. Trotz mangelnder Beweise hielten sich diese Behauptungen zäh.
Wir möchten uns hier dafür aussprechen, dass die Covid-19-Pandemie, wie schon die Große Rezession, auch gegenteilige Argumente liefert, nämlich dass in Zeiten der Unsicherheit Sozialpolitik eine produktive Investition bedeutet. Zudem erleben wir Fortschritte hin zu einem stärker unterstützenden makroökonomischen E(W)U-Umfeld, in dem Wohlfahrtsstaaten florieren können. Aus den jüngsten positiven Entwicklungen ergeben sich drei miteinander verbundene, durch die Pandemie ausgelöste Gründe zur Hoffnung: (1) eine ausdrückliche Neubewertung starker (Wohlfahrts-)Staaten und resilienter Gesundheitssysteme; (2) ein Wiederaufleben des normativen Diskurses über soziale Gerechtigkeit, verbunden mit der existenziellen Erkenntnis menschlicher Verletzbarkeit; (3) ein Durchbruch bei der effektiveren Zusammenarbeit und (Haushalts-)Solidarität der EU.
Der Wohlfahrtsstaat als stiller Held der Großen Rezession
Öffentliche Gesundheitsversorgung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Arbeitslosenversicherung, später durch mehrere Kurzarbeitsmodelle ergänzt, haben zweifellos entscheidend dazu beigetragen, die Auswirkungen der Pandemie abzumildern. Als diese Sozialprogramme in der Bewältigung der akuten Gesundheitskrise und des wirtschaftlichen Schadens zum Tragen kamen, erwiesen sie sich auch als politisch effektiv im Hinblick auf generelles Abstandhalten und die Akzeptanz der Lockdown-Maßnahmen per se.
Bereits während der Großen Rezession hatte sich der Nutzen eines widerstandsfähigen Wohlfahrtssystems erwiesen. Rückblickend sollte Europas inklusiver Wohlfahrtsstaat als stiller Held dieser Zeit gelten. Makroökonomische Untersuchungen zu sozialpolitischen Entwicklungen seit 2000 zeigen klar, dass die inklusivsten, umfassendsten und teuersten Wohlfahrtsstaaten in Nord- und Westeuropa Haushaltseinkommen während des wirtschaftlichen Abschwungs bemerkenswert gut geschützt haben. Demgegenüber schnitten die stärker segmentierten Wohlfahrtsstaaten Südeuropas, insbesondere Länder mit hohen Rentenausgaben wie Griechenland und Italien, weniger gut ab – beim Abfedern von sowohl Schocks als auch sozialer Ungleichheiten.
Was war der Schlüssel zum Erfolg der nordwesteuropäischen Länder? Seit den 1990er-Jahren findet eine Verschiebung statt, weg von einem weitestgehend passiven Wohlfahrtsstaat, eng auf sofortige Umverteilung konzentriert, hin zu einem aktiveren System, geprägt durch soziale Investitionen und ein erneuertes Engagement für die zentrale Bedeutung bezahlter Arbeit. Entscheidend bei diesem Ansatz ist, dass die Weitergabe von Armut von Generation zu Generation unterbrochen werden soll: durch Interventionen, die Individuen, Familien und Gesellschaften befähigen, angemessen auf die veränderte Natur sozialer Risiken zu reagieren. Hierzu wird in die menschlichen Fähigkeiten investiert, von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter, und zudem die geschlechtergerechte Arbeitsteilung in Familien verbessert.
Die Covid-19-Pandemie hat die grundlegende Beziehung zwischen Gesundheit einerseits und sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe andererseits verdeutlicht. Für ein Beschäftigungsniveau, das ausreichend hoch ist, um einen Wohlfahrtsstaat zu finanzieren, müssen Arbeitnehmer_innen nicht nur gut ausgebildet, sondern auch gesund sein. Gesundheitsrisiken, prekäre Arbeitsplätze und Arbeitslosigkeit hängen zusammen. Der Wohlfahrtsstaat bietet nicht nur ein soziales Sicherheitsnetz, um Bürger_innen vor krankheitsbedingten Einkommensverlusten zu schützen; genauso wichtig ist eine Gesundheitsfürsorge, die körperliche und geistige Fähigkeiten ein Leben lang stärkt und schützt.
Menschliche Verletzlichkeit, soziale Gerechtigkeit und sichere Ressourcen
Der zweite Grund zur Hoffnung liegt in dem tiefen Gefühl sozialer Verletzlichkeit, das die Covid-19-Pandemie Anfang 2020 den europäischen Gesellschaften in Erinnerung gerufen hat. Hierdurch wurden normative Überlegungen zu sozialer Gerechtigkeit neu belebt. Es ist absehbar, dass die Pandemie soziale Nachteile weiter ballen wird, beschleunigt durch wirtschaftliche Verschiebungen in Bezug auf (weniger) Pendelverkehr, (mehr) Arbeiten von zu Hause, digitale Dienstleistungen und Bestellungen (und deren Ausweitung) sowie (weniger) internationale Reisen.
Aus der Perspektive sozialer Investitionen kann persönliches Wohlergehen nicht in Begriffen sozialer Arbeits- und Lebensbedingungen in einem bestimmten Moment definiert werden. Vielmehr müssen wir langfristig die Möglichkeiten aller Bürger_innen betrachten, ihr Wohlergehen über ganz unterschiedliche Änderungen ihrer Lebensbedingungen hinweg aufrechtzuerhalten.
Auf EU-Ebene begann das erneute Interesse an einer dynamischen Perspektive auf soziale Gerechtigkeit 2017, als der Europäische Rat die Europäische Säule sozialer Rechte einführte. Mit der Sozialen Säulewurden 20 wichtige Prinzipien aufgestellt, die mit Blick auf Rechte zur Unterstützung fairer und gut funktionierender Arbeitsmärkte und Wohlfahrtssysteme definiert sind und ein ausgewogenes Portfolio gleichberechtigter sozialer und beschäftigungsbezogener Maßnahmen umfassen. Verwaltungstechnisch gesehen stellt die Soziale Säule eine wesentliche EU-Unterstützungsstruktur für den Fortschritt (aktiver) Wohlfahrtsstaaten dar. Allerdings war dieses normative Rahmenwerk bislang durch die Gestaltung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWU) aus den 1990er-Jahren beschränkt, damals gedacht als „Disziplinierungsmittel“ für „verschwenderische“ Wohlfahrtsstaaten.
Schritte hin zu einem schützenden EWU-Umfeld für starke Wohlfahrtsstaaten
Der dritte Grund zur Hoffnung, die Entstehung eines neuen Umfelds wirtschaftlicher Verwaltung in der EU, könnte sich als Wendepunkt erweisen. Die Regeln der EWU wurden zu einer Zeit ausgehandelt, als in der Makroökonomie die Revolution der Angebotsseite hoch im Kurs stand, die die No-Bailout-Klausel und andere strenge Haushaltsregeln hervorbrachte. Im Nachhinein betrachtet waren für den Euro Probleme vorprogrammiert. Immerhin kann man EU-Politiker_innen zugutehalten, dass die Große Rezession nicht wie in den 1930er-Jahren zu einer tiefen Depression wurde; denn letztlich zeigten sie sich mutig genug, die in den Gemeinschaftsverträgen verankerte Doktrin zu durchbrechen.
Inspiriert von Mario Draghis paradigmatischem Sinneswandel reagierte die Europäische Zentralbank unter der Leitung von Christine Lagarde schnell auf die – besonders in Italien, Spanien und Frankreich – explodierenden Covid-19-Fälle, um die Zinsunterschiede innerhalb der Eurozone in Grenzen zu halten. Doch die wirkliche, tiefgreifende Neuerung besteht darin, dass nun die EU-Haushaltspolitik endlich zum Tragen kommt: Nach vier Tagen harter Verhandlung einigten sich die Staatsoberhäupter der EU am 22. Juli 2020 auf einen 750 Milliarden Euro starken Wiederaufbaufonds, in Form von Zuschüssen (in Höhe von 390 Milliarden Euro) und rückzahlbaren Krediten (360 Milliarden Euro), die weitgehend den schwächeren Mitgliedstaaten zugute kommen sollen. Für die EU ist diese Einigung ein historischer Durchbruch, ermöglicht sie es ihr doch, sich an den Kapitalmärkten Geld zu leihen, um gemeinsame Ausgaben zu finanzieren.
Zwischen sozialen Investitionen und Makroökonomie: Jetzt die Quadratur des Kreises schaffen
Wird das reichen? Als eine problematische Nachwirkung von Covid-19 wird der fiskalische Fußabdruck von Gesundheitsnothilfen und wirtschaftsfördernden Maßnahmen bleiben. Nach und nach werden hohe Schulden und Defizite bewältigt werden müssen, und einige Expert_innen werden sich zwecks Schuldenabbau für Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen einsetzen. Hier sollten soziale Investitionen als Alternative ins Spiel kommen. Gegenwärtig lindern niedrige Zinsen die Haushaltsbelastung durch kurzfristige Investitionen mit langfristigen Renditen, wodurch Regierungen produktivitätsfördernde Maßnahmen einführen können.
Vorschläge zugunsten einer größeren Solidarität innerhalb der EU oder dringend benötigter soziale Investitionsreformen werden zweifellos auf manchen innenpolitischen Widerstand treffen. Doch insoweit, als die große Bevölkerungsmehrheit so gut wie aller Mitgliedsländer in einer schützenden und wohlhabenden EU leben möchte, können die europäischen Bürger_innen sicherlich davon überzeugt werden, dass in einer voneinander abhängigen Union die (Markt-)Chancen der einen von den (Wohlfahrts-)Ressourcen der anderen abhängen.
Wie können nun aber Umweltpolitik und die Soziale Säule mit dem neuen makroökonomisch-politischen EWU-Konsens in Einklang gebracht werden? Wir schlagen vor, Ausgaben im Bereich der sogenannten Stock-Policies, also soziale Investitionen in Humankapital, von den Haushaltskriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts auszunehmen. Dadurch könnten jene Länder, die eine Reform ihrer sozialen Investitionen am dringendsten benötigen, ihre soziale Infrastruktur – etwa eine lebensbegleitende Ausbildung und öffentliche Gesundheitssysteme – nachhaltig finanzieren, ohne damit die Regulierungsvereinbarungen der Eurozone per se zu missachten.Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt.
Anton Hemerijck ist seit Januar 2017 Professor für Politikwissenschaft und Soziologie am Europäischen Hochschulinstitut (European University Institute, EUI).
Robin Huguenot-Noel ist Doktorand in vergleichender politischer Ökonomie am Europäischen Hochschulinstitut (European University Institute, EUI).
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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