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Europa, Lateinamerika ist sehr viel näher, als Du denkst

Eine von der FES in Auftrag gegebene Umfrage in Lateinamerika hat ermittelt: Europas soft power hat eine enorme Ausstrahlung auf dem lateinamerikanischen Subkontinent.


In diesen Tagen ist es nicht leicht, jenseits des Krieges in der Ukraine das Weltgeschehen wahrzunehmen. Wir erleben einen Paradigmenwechsel und den Beginn einer neuen Ära der Globalisierung, und daher ist es genau in diesen Tagen für die Europäische Union (EU) wichtig zu wissen, wo die Verbündeten und vor allem Gleichgesinnte stehen. Eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Auftrag gegebene Umfrage in Lateinamerika hat ermittelt, dass die lateinamerikanischen Gesellschaften, Menschenrechte, Demokratie, Wohlfahrt und die Bedeutung der Umwelt priorisieren. Sie hat auch ergeben, dass Europas soft power eine enorme Ausstrahlung und Kompetenzzuschreibung auf dem lateinamerikanischen Subkontinent hat: Man bevorzugt Europa gegenüber jedem anderen außerlateinamerikanischen Partner. Europa wird als in der Zukunft einflussreicher Akteur wahrgenommen, der sich für Menschenrechte, Frieden, Umwelt und die Bekämpfung der Armut einsetzt.

Die von Latinobarómetro durchgeführte repräsentative Umfrage (https://data.nuso.org/) wurde in 10 Ländern Lateinamerikas realisiert: In Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Venezuela, Costa Rica, Guatemala, Mexiko und Uruguay.¹ Der inhaltliche Schwerpunkt der Umfrage liegt auf der relativen Bedeutung und dem Stellenwert der Europäischen Union in den Beziehungen, Interessen und Wahrnehmungen der lateinamerikanischen Gesellschaften zu den vorherrschenden Themen der internationalen Agenda. Es wurde bewusst die Meinung und die Einschätzung des Durchschnittsbürgers gesucht.

Und die Wahrnehmung der durchschnittlichen Bürgerin Lateinamerikas scheint recht eindeutig. Fast die Hälfte – 49% der Befragten – präferiert Europa als bevorzugte Partnerregion und meint, dass es im Interesse des eigenen Landes sei, in Verbindung mit Europa zu stehen. In Bezug auf die kommenden Jahre wird die EU als einflussreicher Akteur in Lateinamerika wahrgenommen. Auf einer Skala von 1-10, liegt der Durchschnitt der Antwort bei 7,5. Eine Mehrheit der lateinamerikanischen Bürgerinnen und Bürger sieht Europa im Vergleich zu den USA und China führend in normativen und sozialen Fragen. Den USA werden mit großem Abstand eine Führungsrolle in militärischen Fragen sowie im Kampf gegen die organisierte Drogenkriminalität zugeschrieben. China wiederum liegt in der Wahrnehmung in den Bereichen Technologie, Digitalisierung und Wissenschaft weit vorne.

Die Ergebnisse der Umfrage greifen entscheidende Aspekte der aktuellen globalen Agenda auf, die durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine nochmals verändert wurde. In den verschiedenen Ländern Lateinamerikas besteht ein regionaler Konsens über die beiden vorrangigen globalen Anliegen in der Region: extreme Armut und Klimawandel. 7 von 10 Befragten benennen diese beiden Probleme als die relevantesten. China und die Vereinigten Staaten werden zwar als die einflussreichsten Länder in wirtschaftlicher Hinsicht angesehen, doch Europa ist die Region, mit der sich die Lateinamerikaner_innen am liebsten verbinden.

Nach der Umfrage gibt es in Lateinamerika eine starke Präferenz für die Demokratie mit einer deutlichen Meinungstendenz gegen den Autoritarismus oder autoritäre Modelle. Und in Bezug auf eine Einschätzung der Demokratie in anderen Ländern gibt es ebenfalls eine klare Tendenz: Die nordatlantischen Länder liegen an der Spitze, Russland im mittleren Bereich, China weit dahinter. Darüber hinaus gibt ein bemerkenswert hohes öffentliches Bewusstsein für die Europäische Union und eine klare Anerkennung der wachsenden Führungsrolle Deutschlands. Die USA und Deutschland genießen laut Umfrage eindeutig das beste Ansehen in Lateinamerika. 47% und 43% gegenüber 19% für China und 17% für Russland.

 

Die Umfrage macht deutlich, dass

  • Europas außenpolitische Glaubwürdigkeit auf seinem Modell der sozialen Kohäsion auf der Grundlage von Mitverantwortung und Pluralismus fußt
  • Europa als relevanter Akteur in den bedeutenden Zukunftsfeldern „sozialer Zusammenhalt“ und „Nachhaltigkeit“ wahrgenommen wird
  • die Bürger_innen Lateinamerikas sich als Teil des demokratischen Westens sehen
  • Lateinamerika das europäische Modell von Entwicklung allen anderen vorzieht

 

Sie macht aber auch klar, dass für globale entscheidende Zukunftsfragen wie digitale Transformation und Forschung eindeutig China die Hauptkompetenz zugesprochen wird. Im Bereich der militärischen Sicherheit sieht man die Kompetenz bei den USA und in Fragen von Wirtschaft, Handel und Investition sowohl bei den USA als auch China. Bündnisse und Partner müssen gepflegt werden, v.a. müssen sie sich als gleichwertig wahrgenommen und fair behandelt fühlen. Europa sollte das Potential, dass in den Beziehungen zu den vielen lateinamerikanischen Ländern steckt, besser nutzen. Denn, wenn die EU es nicht tut, dann werden andere Wettbewerber voranschreiten. Wettbewerber, die bereits heute in Handels- und technologischen Entwicklungsfragen vorne liegen: China, die USA und im Zweifelsfall Russland. Während der Pandemie konnten sich China und Russland als Helfer in der Not präsentieren. Noch bevor Lateinamerika ab März 2021 Vakzine über den globalen Verteilungsmechanismus COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) erhielten – allerdings in relativ zur jeweiligen Bevölkerung winzigen Mengen - , wurden den 2020 extrem Corona-geplagten Ländern der Region bereits in wesentlich größerem Umfang chinesische und russische Impfstoffe angeboten. Das kam gut an. Denn die soziale Spaltung innerhalb der Länder und die auch in den Mittelschichten kursierende Angst, durch unzureichende Gesundheitsversorgung zu sterben, wurde durch die Pandemie verstärkt.

Europa sollte die Chancen begreifen, die in der geopolitischen Partnerschaft zu Lateinamerika steckt, nicht nur die – durchaus vielen – Probleme der Region sehen. Dafür aber müsste es Lateinamerika mehr Alternativen anbieten, um attraktiv und wirkungsvoll zu sein. Fragen rund um das Entwicklungsmodell, Investitionen und die Handelsbeziehungen dürfen nicht allein der Privatwirtschaft überlassen werden. Kooperationen im Gesundheitswesen, in der Wissenschaft, in strategisch relevanten Bereichen der Industrie- und Landwirtschaft und in den neuen Sektoren rund um die erneuerbaren Energien sollten intensiviert und klug kommuniziert werden. Die Tatsache, dass die Lateinamerikaner_innen die extreme Armut, den Klimawandel und Verletzung der Menschenrechte als ihre Hauptprobleme ansehen, zeigt den Weg in die Partnerschaft auf allen Ebenen.

Die Entwicklung Lateinamerikas wird es ohne eine soziale Transformation nicht geben. Die Umfrage macht deutlich, wie sehr soziale und Umweltfragen in den Beziehungen zu Lateinamerika strategische Fragen sind, in denen Europa und Deutschland gefragt sind. Und die Tendenz, dass die Bürger_innen Lateinamerikas eindeutig Maßnahmen ablehnen, die ihre Freiheit, politischen und sozialen Rechte einschränken, ist ein Indiz für ein westliches Bündnis, das das südliche Amerika einschließt. Es sollte in einem Moment, das von einer Zäsur der internationalen Ordnung geprägt ist, nicht ignoriert werden.

https://data.nuso.org/

 

¹ Der Erhebungszeitraum lag zwischen dem 10. September und 4. Oktober 2021. Die Studie baut auf einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung von zehn lateinamerikanischen Ländern (mit einer durchschnittlichen Repräsentativität von 87%) auf. Insgesamt wurden 1.200 Interviews pro Land durchgeführt. Es wurden Quoten in Bezug auf Geschlecht, Alter, Schulbildung, soziale Schicht und Region berücksichtigt. Die Datenerhebung erfolgte durch eine Online-Umfrage unter Erwachsenen mit Sekundar- oder Hochschulbildung; sie unterlag hohen Qualitätskontrollstandards. Die Fragebögen wurden auf Spanisch und Portugiesisch verfasst. Inhaltlich und wissenschaftlich begleitet wurde die Umfrage von der Arbeitsgruppe Diálogo y Paz (Guadalupe Gonalez, Colegio de México, Mónica Hirst, Universidad T. diTella/Universidad do Estado Rio de Janeiro, Carlos Luján, Universidad de la República (Uruguay), Carlos Romero, Universidad Central de Venezuela, Juan G. Tokatlian, Universidad T. diTella).

 


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