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von Adalbert Winkler
Die Geldpolitik gehört kaum zu den Feldern, die als fester Bestandteil „progressiver“ Wirtschaftspolitik gelten. Dies mag erklären, warum die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die in den vergangenen Jahren immer wieder Zielscheibe von Attacken aus dem konservativen Lager war, nicht jene stärkere Unterstützung aus dem progressiven Lager erhielt, die angebracht gewesen wäre. Entsprechend soll dieser Beitrag dazu genutzt werden, noch einmal zu verdeutlichen, dass die in den vergangenen Jahren, insbesondere in Deutschland immer wieder vorgebrachte Kritik an der EZB unbegründet ist.
Indem die EZB ihre Politik klar auf das Ziel Preisstabilität ausrichtete, verhinderte sie nämlich vor dem Hintergrund der vorherrschenden Rahmenbedingungen in Europa eine Wiederholung der größten Katastrophe der modernen Wirtschaftsgeschichte: die Deflation, die mit Massenarbeitslosigkeit sowie erheblichen Einkommensrückgängen einhergeht. Wäre die EZB anderen Konzeptionen gefolgt, die die Geldpolitik statt über klare Ziele über den Instrumenteneinsatz definieren, konkret über den Verzicht auf den Einsatz als Lender of Last Resort (Kreditgeber letzter Instanz) sowie den Verzicht auf den Kauf von Wertpapieren bei Erreichung der Nullzinsgrenze, hätte sich die wirtschaftspolitische und damit letztlich auch die gesellschaftspolitische Lage in Europa daher weiter deutlich verschlechtert.
Preisstabilität als primäres Ziel der Geldpolitik
Dem Ziel Preisstabilität liegen zwei grundlegende ökonomische Überlegungen zugrunde. Erstens kann die Geldpolitik über die mittlere und längere Frist nicht für mehr Wachstum und Beschäftigung sorgen, als es die Angebotsseite einer Volkswirtschaft zulässt. Zweitens kann und muss die Geldpolitik aber für mehr Wachstum und Beschäftigung sorgen, wenn die Nachfrage hinter dem Angebot zurückbleibt bzw. durch Schocks, wie z. B. durch die globale Finanz- und Eurokrise, aber auch durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung, quasi zusammenzubrechen droht. Beides wird durch eine Inflationsrate angezeigt, die sich entweder nach oben oder nach unten vom Zielwert von ungefähr zwei Prozent p. a. entfernt.
Sowohl ein Überschreiten als auch ein Unterschreiten des Inflationsziels stellt also ein Problem dar, dass die Zentralbank mit ihren geldpolitischen Instrumenten adressieren muss. Allerdings weiß niemand genau, ob und wann die Angebots-/Nachfragekonstellation so ausfällt, dass eine (verstärkt) restriktive oder eine (verstärkt) expansive Geldpolitik notwendig ist. Auch unabhängige Zentralbanken können sich also irren. Entsprechend ist es völlig legitim, kontrovers über geldpolitische Entscheidungen zu diskutieren. Das gilt für eine angeblich zu restriktive Geldpolitik als auch für eine vermeintlich zu expansive Geldpolitik.
Die EZB erfüllt ihr geldpolitisches Mandat
Die von der EZB für Europa betriebene Geldpolitik war gemessen am Ziel Preisstabilität ungemein erfolgreich: Seit 1999 lag die Inflationsrate im Euroraum bei durchschnittlich 1,7 Prozent; nur in wenigen Monaten stieg die Inflationsrate über drei Prozent bzw. fiel unter ein Prozent. Dennoch wurde die EZB in den vergangenen Jahren stark kritisiert, vor allem (wenngleich nicht nur – dazu später) von konservativer Seite. Die Gründe dafür lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Die EZB nimmt ihr Mandat ernst unabhängig davon, ob sich die Inflationsrate nach unten oder nach oben vom Zielwert von zwei Prozent wegbewegt. Sie ist nicht auf einem Auge blind. Dafür nimmt sie auch in Kauf, sich gegen ordnungspolitische Grundsätze zu stellen, weil diese von einer Zentralbank eben nicht Preisstabilität, sondern den Verzicht auf den Ankauf von Wertpapieren, insbesondere von Staatsschuldtiteln fordern.
Zudem erinnerte sich die EZB an die in den westlichen Ländern bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts praktizierte Zentralbankdoktrin, in einer Finanzkrise als Lender of Last Resort zu agieren und damit die Wirksamkeit der Geldpolitik zu erhalten. Geldpolitische Impulse werden nämlich immer über Banken und Finanzmärkte an die Realwirtschaft weitergegeben. Sie kann daher nicht tatenlos zusehen, wenn eine von ihr betriebene Zinssenkung auf dem Interbankenmarkt, dem Markt für Kredite an private Haushalte und Unternehmen sowie auf dem Markt für Staatsschuldtitel nicht nur verpufft, sondern sogar in das Gegenteil verkehrt wird, weil Anleger_innen, Sparer_innen, panikartig ihre Anlagen verkaufen und Geld nachfragen. Die deutsche Geschichte der Jahre 1929–1933 belegt dies eindrucksvoll. Wenn man sich die politischen Konsequenzen des damaligen geldpolitischen Nichthandelns vor Augen führt, sollte eigentlich klar sein, dass die EZB-Politik in den vergangenen Jahren nicht nur richtig, sondern auch progressiv war.
Leider ist dem nicht so, weil die EZB-Interventionen oft einerseits als Rettung der „bösen“ Banken und Finanzmärkte zulasten der Kleinsparer_innen (ein absurdes Argument angesichts der bitteren Erfahrungen, die Kleinsparer_innen in der Bankenkrise 1931 machen mussten!), andererseits als Vorbote einer neuen Krise interpretiert wurden. Denn Krisen – so die oft verbreitete, aber nicht belegte Auffassung – würden eben auch von einer zu expansiven Geldpolitik verursacht. So gehen Linke eine Allianz mit Konservativen und Neoliberalen ein, die den Lender of Last Resort als marktwidrigen Eingriff ansehen. Während aber Konservative und Neoliberale mit den einkommens- und beschäftigungspolitischen Folgen des Nichthandelns leben können, die sie verbrämt als „schöpferische Zerstörung“ bezeichnen, ist es irritierend, wenn vermeintlich „Progressive“ einer solchen Politik zumindest indirekt das Wort reden.
Der Streit um die EZB-Geldpolitik eskalierte in den vergangenen Jahren dann mit den Anleihekaufprogrammen, weil sie von den (insbesondere konservativen) Kritiker_innen nicht als Fortsetzung herkömmlicher Geldpolitik unter der Bedingung der Nullzinsgrenze, sondern als monetäre Staatsfinanzierung fehlinterpretiert werden. In der Tat verbietet ihr Mandat der EZB, Haushaltsdefizite des Staates direkt (über den sogenannten Primärmarkt) zu finanzieren, denn darin liegt ein Inflationsrisiko. Die EZB kauft aber nur bereits emittierte Staatsanleihen am sogenannten Sekundärmarkt. Unabhängig davon bleibt aus ökonomischer Sicht festzuhalten, dass das Ausbleiben der Inflation in den vergangenen Jahren trotz Anleihekäufen in beträchtlicher Größenordnung entweder belegt, dass die deflationären Kräfte sehr stark waren oder dass die inflationären Wirkungen von Anleihekäufen in der gegebenen Situation erheblich überschätzt wurden. Insgesamt hat die EZB daher keine monetäre Staatsfinanzierung betrieben, sondern ist schlicht ihrem Mandat gefolgt, Preisstabilität zu sichern. Darin folgte sie weitgehend dem Vorgehen von Zentralbanken in anderen Industrieländern, beispielsweise der US-amerikanischen Federal Reserve oder der Bank of England.
Fokussierung auf Preisstabilität beibehalten
Bisher war viel von Preisstabilität die Rede. Immer wieder wird aber gefordert, die EZB solle auch andere Ziele verfolgen, z. B. Finanzstabilität, die Verhinderung von Blasen bei Vermögenspreisen oder Verteilungsgerechtigkeit. Sicher sind dies Ziele, für die es sich zu streiten lohnt. Nur: Die Geldpolitik besitzt dafür nicht die richtigen Instrumente bzw. die negativen Nebenwirkungen des Einsatzes der Instrumente, die ihr zur Verfügung stehen, wären so stark, dass ein solcher Einsatz gerade aus einer progressiven Sicht nicht zu verantworten wäre.
Entsprechend gehören diese Ziele auch nicht zum geldpolitischen Mandat von Zentralbanken. Ein höherer Zins, der in diesem Zusammenhang immer wieder gefordert wird, würde nämlich vor allem Preisstabilität, Einkommen und Beschäftigung beeinträchtigen, während die Wirkungen auf die anderen Ziele zweifelhaft wären. Zudem gibt es Politiken, deren Instrumente besser eingesetzt werden können, um die genannten Ziele zu erreichen. Eine aktive Wohnungsbaupolitik wäre sicher zielführender, den Mietpreisanstieg zu begrenzen, als ein höherer Zins!
Schließlich wird seit Neuestem, auch von der EZB selbst, die Klimapolitik ins Spiel gebracht, zu der die Geldpolitik, z. B. im Rahmen ihrer Anleihekäufe einen Beitrag leisten sollte, indem sie vorzugsweise sogenannte „Green Bonds“ erwirbt. Auch hier gilt: Es gibt Politiken, die viel besser geeignet sind, einen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele zu leisten, als die Geldpolitik. Sie sollte dieses Ziel daher wirklich nur dann verfolgen, wenn außer Frage steht, dass es keinen Konflikt mit dem Ziel Preisstabilität gibt.
Geldpolitik in der Corona-Krise
Die Corona-Krise hat zu einem verstärkten Einsatz genau jener geldpolitischen Instrumente geführt, die zuvor heftig kritisiert wurden. Dies gilt insbesondere für den Ankauf von Wertpapieren. Vor diesem Hintergrund ist es etwas verwunderlich, dass die Kritik an der aktuellen EZB-Politik – gerade auch in Deutschland – seit Ausbruch der Corona-Pandemie bisher vergleichsweise moderat ausfällt. Dies mag an der weiterhin sehr niedrigen Inflationsrate liegen. Zudem fällt es möglicherweise leichter, eine vermeintlich zu expansive Geldpolitik zu kritisieren, wenn es dem eigenen Land – wie in den Jahren vor der Corona-Krise – verhältnismäßig gut geht, während nun auch Deutschland von einer schweren Rezession getroffen ist.
Umso wichtiger ist es zu betonen, dass die geldpolitischen Herausforderungen heute komplizierter sind als in den Finanzkrisen der Vergangenheit. Letztere waren nämlich „nur“ Vertrauens- und Nachfragekrisen, während die Angebotsseite der Volkswirtschaften nicht betroffen war. Entsprechend sicher konnte man Inflationsprophet_innen in die Schranken weisen, die ihre zum Teil apokalyptischen Prophezeiungen allein mit der vermeintlichen Liquiditätsschwemme begründeten, dabei aber übersahen, dass diese nur eine Reaktion auf die krisenbedingt dramatisch gestiegene Geldnachfrage der privaten Akteur_innen darstellt. Entsprechend bestand in den zurückliegenden Jahren in Europa nie Inflationsgefahr.
Die Corona-Krise hat nun aber auch Auswirkungen auf die Angebotsseite, wenngleich sie schwer einzuschätzen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn das Virus dazu beitragen sollte, die schon zuvor zu beobachtenden Tendenzen des Wirtschaftsnationalismus und der De-Globalisierung (Stichworte: Brexit, Trump-Administration) weiter zu verstärken. Denn dadurch könnten neue Konflikte zwischen Preisstabilität auf der einen und Einkommen und Beschäftigung auf der anderen Seite entstehen. Zu betonen ist, dass dies nur eine Möglichkeit ist, also bei Weitem nicht sicher ist. Insofern ist die aktuelle geldpolitische Ausrichtung richtig. Dennoch: Die Einschätzung der Angebots-/Nachfragekonstellation dürfte in den nächsten Jahren eher schwieriger als leichter werden. Man kann nur hoffen, dass diese Aufgabe weiterhin unabhängigen Zentralbanken übertragen bleibt, die unbeeinflusst von Politikzyklen die Kunst des „Central Banking“ ausüben.
Schlussfolgerungen
Geldpolitik ist nicht alles, aber sie hat einen erheblichen Einfluss auf jene Ziele, denen sich gerade progressive politische Kräfte verpflichtet fühlen: eine gute wirtschaftliche Entwicklung und ein hoher Beschäftigungsgrad. Die Erreichung dieser Ziele ist zudem eine Grundvoraussetzung, um darüber hinaus für mehr Verteilungsgerechtigkeit, eine vernünftige Klimapolitik und vieles mehr zu streiten. Denn das zeigt die Corona-Krise in aller Deutlichkeit: Wenn makropolitische Ziele, und dazu gehört das Ziel Preisstabilität, in Gefahr sind bzw. eklatant verfehlt werden, relativiert sich die Bedeutung vieler anderer Ziele, die progressive Politik erreichen will. Mit einer klaren Fokussierung auf das Ziel der Preisstabilität hat die EZB mit ihrer Geldpolitik zur Erreichung dieser anderen Ziele beitragen. Dies ist keine Garantie, dass dies auch in der Zukunft so sein wird. Insofern ist eine kritische Begleitung der Geldpolitik notwendig und sinnvoll. Für die vergangenen Jahre ist aber festzuhalten, dass weite Teile der immer wieder vorgetragenen EZB-Schelte unbegründet waren.
Prof. Dr. Adalbert Winkler ist Professor für International and Development Finance an der Frankfurt School of Finance & Management. Seine Veröffentlichungen konzentrieren sich auf die Bereiche Entwicklungsfinanzierung und Mikrofinanzierung sowie Geldpolitik und Finanzsystemstabilität.
Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die Langfassung des Textes ist als WISO direkt erschienen.
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