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„Auf die Wirkung kommt es an“ – Der Gewerkschafter Heinz Kluncker (1925–2005)

Der langjährige Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV wäre am 20. Februar 2025 100 Jahre alt geworden. Hartmut Simon erinnert in einem Gastbeitrag an sein Wirken.

Er sitzt, sichtlich bewegt, an einem kleinen Tisch und signiert pausenlos den Interviewband „Auf die Wirkung kommt es an“ über sein Leben: Heinz Kluncker, Vorsitzender der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV, heute Teil von ver.di) von 1964 bis 1982. Es sind Delegierte des ÖTV-Gewerkschaftstags 2000 in Leipzig, die sich angestellt haben, um eine Widmung von ihm zu bekommen. Geduldig stehen sie an, nutzen die Mittagspause des Kongresses, harren aus, auch als die Beratungen bereits weitergehen. Was für eine Wertschätzung – 18 Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Gewerkschaftsleben.

Für die Kolleg*innen der Gewerkschaft ÖTV ist Heinz Kluncker eine Legende, ein Symbol für gewerkschaftliche Kraft und Durchsetzungsvermögen, aber auch für Klarheit, Ehrlichkeit und Nähe zu den Mitgliedern. Blickt man auf seinen frühen Werdegang bis Anfang der 1950er-Jahre zurück, deutet nichts darauf hin, dass er einmal zu einer solchen Persönlichkeit heranreifen würde. Doch Herkunft und Erfahrungen im Nationalsozialismus sind für ihn prägend, bestimmen sein weiteres Denken und Handeln.

Zwischen sozialdemokratischer Herkunft und NS-Ideologie

Heinz Kluncker wurde am 20. Februar 1925 als Sohn eines Schlossers und einer Hausfrau in Wuppertal geboren. Er wuchs in einem sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen Milieu auf und war Mitglied bei den sozialistischen „Kinderfreunden“. Kluncker erlebte die Machtübernahme der Nazis 1933 und ließ sich als Junge von der Nazi-Ideologie blenden. Im Rückblick sagt er: „Die naziorientierte Schulerziehung hat ihre Wirkung auf mich nicht verfehlt.“ Hin- und hergerissen sei er gewesen zwischen den Warnungen seiner Eltern und dem Einfluss des nationalsozialistischen Gedankenguts.

Heinz Kluncker machte im Krieg eine Lehre zum Kaufmannsgehilfen. Er begriff zunehmend den wahren Charakter des Regimes. 1944 wurde er als Frontsoldat nach Frankreich in die Bretagne verlegt – und desertierte. Er wollte keinen Schuss auf die Befreier abgeben, erklärt er später.

Neuanfang und Aufstieg in der ÖTV

Heinz Kluncker kam als Kriegsgefangener in die USA, wo er als Deserteur von den Wachleuten vor den noch immer überzeugten Nazis unter den Internierten geschützt werden musste. 1946 kehrte er zurück nach Wuppertal, arbeitete kurz als Polizist, danach als Jugendsekretär der SPD. Es folgten ein Studium an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg als Stipendiat des DGB und ein Praktikum in der Dortmund-Hörder Hüttenunion. Im April 1952 wurde er Volontär in der Tarifabteilung der Gewerkschaft ÖTV in Stuttgart.

1958 wurde Heinz Kluncker Bundesarbeitersekretär, 1961 Mitglied im geschäftsführenden Hauptvorstand und 1964 Vorsitzender der Gewerkschaft ÖTV. Er war zu diesem Zeitpunkt erst 39 Jahre alt und damit der jüngste Gewerkschaftsvorsitzende einer DGB-Gewerkschaft. Ohne den berühmten „Stallgeruch“ brauchte er nur 12 Jahre vom Volontär zum Chef.

Aussöhnung mit Osteuropa und internationale Zusammenarbeit

Heinz Kluncker wollte einen eigenständigen gewerkschaftlichen Beitrag zur „Aussöhnung mit den östlichen Nachbarvölkern“ leisten und suchte den „offensiven Dialog mit den Vertretern der kommunistischen Gesellschaftssysteme“. Im September 1965 fuhr er zu einem Kongress nach Karlsbad (CSSR). Hier traf er sich mit Gewerkschaftern aus der UdSSR, der CSSR und Polen – widerstrebend geduldet vom DGB-Bundesvorstand – und das auch nur unter der Prämisse, keinen Gewerkschaftsvertreter aus der DDR zu treffen. In Folge der Gespräche und Verabredungen in Karlsbad kam es 1966 zum ersten Besuch einer Gewerkschaftsdelegation der UdSSR in der Bundesrepublik Deutschland – als Gast der Gewerkschaft ÖTV.

Auch auf internationaler Gewerkschaftsebene war Heinz Kluncker aktiv. Von 1973 bis 1985 wirkte er als Präsident der Internationale der öffentlichen Dienste (IÖD), danach war er IÖD-Ehrenpräsident auf Lebenszeit. Israel lag ihm sehr am Herzen. Die israelische Gewerkschaft Histadrut würdigte ihn 1980 für seine „langjährige Freundschaft“, indem sie zu seinen Ehren 250 Bäume im „Wald der Gewerkschaften“ pflanzte.

Offenheit und Dialogbereitschaft in der Innenpolitik

Auch innenpolitisch suchte Heinz Kluncker den Dialog: Im September 1965 signalisierte er in der hitzigen Diskussion um die Notstandsgesetze der Bundesregierung Verhandlungsbereitschaft für Regelungen in Katastrophenfällen. Zudem war es ihm wichtig, das Verhältnis von Gewerkschaft und Militär zu normalisieren und die Bundeswehr im demokratischen Staatswesen verankert zu wissen. Er forderte deshalb für Zeit- und Berufssoldaten das Recht, sich gewerkschaftlich organisieren zu dürfen. Das gelang durch den „Gewerkschaftsbeschluss“ des Bundesverteidigungsministers im August 1966.

Heinz Kluncker gehörte zu einer neuen Generation von Gewerkschafter*innen, die ohne die bitteren Erfahrungen in der Weimarer Republik offener und unbelasteter neue Wege beschritten. Bei den meisten Älteren der Gewerkschaftsgarde war diese Politik nicht unumstritten. Doch Kluncker hatte das Vertrauen seiner Organisation und nutzte den Spielraum, den er als Vorsitzender der Gewerkschaft ÖTV hatte.

Kompromissbereiter Verhandler

Das wurde in der Tarifpolitik deutlich. Zeigte er für weitreichende Forderungen seiner Kolleg*innen Verständnis, blieb er aber Realist und konzentrierte sich auf das Durchsetzbare. Für ihn waren Tarifverhandlungen stets darauf angelegt, Kompromisse zu erreichen. Seine Tarifpartner lernten ihn als ruhigen, kompetenten und verlässlichen Verhandler kennen. Sein Ziel war es, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst an die Einkommen und Arbeitszeit in der Privatwirtschaft heranzuführen.

Diese Haltung, tarifpolitische Weichenstellungen über einen kompromissorientierten Verhandlungsweg zu erreichen, war erfolgreich: Für die Arbeitnehmer*innen im öffentlichen Dienst konnte 1966 eine betriebliche Altersvorsorge vereinbart werden, 1970 der Monatslohn für Arbeiter*innen. 1972 folgte die stufenweise Einführung der 40-Stunden-Woche und 1973 das 13. Monatseinkommen.

Der Streik im öffentlichen Dienst 1974

Doch war Heinz Kluncker auch bereit, Streik als „Instrument zur Konfliktlösung“ einzusetzen. So im Februar 1974. Die Gewerkschaft ÖTV forderte damals 15 Prozent mehr Lohn und Gehalt. Bundeskanzler Willy Brandt sprach sich öffentlich gegen ein zweistelliges Tarifergebnis aus. Für Kluncker war damit eine rote Linie überschritten; denn nicht der Bundeskanzler, sondern Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher war Verhandlungsführer der öffentlichen Arbeitgeber. Die Forderung von Brandt sah er als Lohnleitlinie, was nicht akzeptiert werden konnte. Es galt nun auch, „die Tarifautonomie zu verteidigen“.

Nach nur drei Tagen Streik konnte ein Kompromiss erzielt werden: 11 Prozent Entgelterhöhung. Willy Brandt war angeschlagen, aber auch Heinz Kluncker. Für viele Mitglieder war das Tarifergebnis nicht hoch genug, sodass er um deren Zustimmung in der Urabstimmung kämpfen musste. In den Medien wurde diskutiert, ob eine Gewerkschaft im Bereich der Daseinsvorsorge überhaupt streiken darf. Kluncker ging auf die Kritik ein und es kam zur ersten Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst. Dennoch: Als Willy Brandt im Mai 1974 wegen der Guillaume-Affäre zurücktrat, wurde Kluncker von einigen dafür verantwortlich gemacht und öffentlich gar als „Kanzlerkiller“ diffamiert. Mit diesem Vorwurf konfrontiert, pflegte Heinz Kluncker zu sagen, dass „Guillaume nicht auf der Gehaltsliste der ÖTV“ gestanden und er „stets zu Willy Brandt aufgeschaut habe“. Doch „wenn ein Regierungschef, wer immer das ist, sagt, 10 Prozent und keine zweistellige Zahl, dann muss eine Gewerkschaft, die etwas auf sich hält […] kämpfen.“

Rücktritt 1982

Die aufreibende Arbeit zehrte an seiner Gesundheit, 1982 musste Heinz Kluncker auf Rat seiner Ärzte zurücktreten. Zuvor stellte er noch die Weichen für seine Nachfolge: Erfolgreich setzte er sich für Monika Wulf-Mathies ein, die mit ihrer Wahl die erste Frau an der Spitze einer DGB-Gewerkschaft wurde. Bei seiner Verabschiedung erwiesen im Bundeskanzler Helmut Kohl und Alt-Kanzler Helmut Schmidt die Ehre. Sie würdigten damit nicht nur sein Wirken als Gewerkschafter, sondern auch seinen außergewöhnlichen Lebensweg. Eine Wertschätzung, die er zeitlebens erfahren durfte, die ihn aber besonders bewegte, wenn sie ihm von seinen Kolleg*innen entgegengebracht wurde. So, wie beim ÖTV-Gewerkschaftstag 2000 in Leipzig, als die Delegierten im Plenum bei der Präsentation des Buches ihm stehend langanhaltenden Beifall spendeten.

Heinz Kluncker blickt zurück

In seinen Interviews für das Buch „Auf die Wirkung kommt es an“ blickte Heinz Kluncker zurück, erzählte offen von seinem Werdegang und seinen Gefühlen. Eigentlich wollte er nie sein Leben und Wirken in Buchform aufgearbeitet wissen. Er sah sich stets nur als „erster Sprecher“ seiner Organisation, dessen Handeln und Stärke allein durch die Mitglieder bestimmt wurde. Für sie war er schlicht „der Dicke“, und nicht allein wegen seiner Körperfülle. Heinz Kluncker war ein souveräner und erfolgreich handelnder Vorsitzender. Herbert Mai, Nachfolger im Amt des Vorsitzenden, gelang es dann doch, ihn im Vorfeld seines 75. Geburtstags zu bewegen, von seinem Werdegang zu erzählen.

Offensichtlich hatte er in der Gewerkschaft ÖTV einen guten Ruf. Hans-Otto Hemmer, Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte, schrieb über Kluncker: „Er ist vital, durchsetzungsstark und autoritär, hat (bergischen) Scharm [!] und Charisma, ist ein belesener und begabter Redner, einfallsreich und schlagfertig.“

Heinz Kluncker hatte Hemmer gebeten, die Leitung des Buchprojekts zu übernehmen, das im April 1999 begann. Ihm zur Seite stand als Archivar der Gewerkschaft ÖTV der Autor dieses Blogbeitrags. Es sollte ein rund 200 Seiten umfassendes Buch entstehen, mit lebendigem Layout, Fotos, Dokumenten und Redeausschnitten. Heinz Kluncker öffnete dafür sein Privatarchiv. Von Juni bis September 1999 gab es vier Gesprächsrunden, die aufgezeichnet und sorgfältig transkribiert wurden. Bei der Auswahl der Gesprächsthemen legte er großen Wert darauf, dass seine Agenda als Gewerkschaftsvorsitzender deutlich wurde.

Heinz Kluncker starb 2005 kurz nach seinem 80. Geburtstag.

 

Hartmut Simon

 

Aus dem Archiv

Die Audiokassetten mit dem Kluncker-Interview und die Transkripte werden vom ver.di-Archiv in naher Zukunft dem Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) übergeben. Sie sollen zeitnah digitalisiert werden, um so gesichert der Forschung zur Verfügung zu stehen. Das Schriftgut der ver.di-Vorläufergewerkschaften sowie ein Konvolut von Kluncker-Akten befinden sich bereits seit geraumer Zeit im AdsD.

Literatur

Karl Christian Führer, Gewerkschaftsmacht und ihre Grenzen. Die ÖTV und ihr Vorsitzender Heinz Kluncker 1964–1982, Bielefeld 2017.

Hans-Otto Hemmer/Hartmut Simon (Hg.), Auf die Wirkung kommt es an. Gespräche mit Heinz Kluncker, Frankfurt am Main 2000.

Andrei S. Markovits, Der Pass mein Zuhause. Aufgefangen in Wurzellosigkeit, Berlin 2022.


Ansprechpartnerinnen

Susan Javad

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Susan.Javad(at)fes.de

Benjamin Schmidt

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