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In Polen droht eine Regierungskrise, Verfassungsgericht und Regierung belagern sich gegenseitig. Doch die EU hat wenige Einflussmöglichkeiten. Warum es auf die Bürger_innen ankommt und was Europa dennoch tun kann.
Bild: Bild: Polish Sejm Urheber: Ministry of Foreign Affairs oft he Republic of Poland Lizenz: CC BY-ND 2.0
Wenn es die Regierung nicht tut, dann tun wir es eben: Mit dieser Haltung haben tausende regierungskritische Polinnen und Polen vergangene Woche eine große Social-Media-Aktion gestartet. Unter dem Aufruf „Ganz Polen veröffentlicht unverzüglich das Urteil des Gerichts“ teilten sie Anfang März den Spruch des polnischen Verfassungsgerichts. Der Hintergrund: Die polnische Regierung weigert sich, das Urteil des Verfassungsgerichts im Amtsblatt abzudrucken und versucht es damit unwirksam zu machen.
Das Urteil, das bislang mehrere zehntausend polnische Bürger_innen bei Facebook geteilt haben, erklärt ein von der Regierung im Dezember verabschiedetes Gesetz für ungültig. Dieses sah unter anderem vor, dass das Gericht die Fälle in der Reihenfolge ihrer Einreichung abarbeiten muss, statt nach ihrer Bedeutung. Zudem sollen Entscheidungen der Richter_innen nur mit einer Zweidrittelmehrheit gültig werden, zuvor reichte eine einfache Mehrheit. Kritiker_innen sehen das Verfassungsgericht dadurch praktisch lahmgelegt, als Kontrollinstanz für die Regierung falle es so aus.
Nicht nur die polnische Zivilgesellschaft begehrt gegen die Regierung auf, auch in der EU formiert sich Widerstand. Der Fall Polen zeigt dabei aber auch, wie schwierig Sanktionen seitens der EU für einzelne Länder sind. „Wir sprechen hier vom Kopenhagen-Dilemma. Es gibt bislang kaum einen Weg, dass EU-Institutionen Rechtsverstöße von Mitgliedsländern wirklich ahnden können“, sagt Friederike Kamm, die im Brüsseler Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung die rechtliche Situation beobachtet. Nach den Kopenhagen-Kriterien wird bewertet, ob ein Bewerber um die EU-Mitgliedschaft Maßstäbe der Rechtsstaatlichkeit erfüllt. „Wenn das Land aber einmal Mitglied ist, wird es sehr schwierig diese zu überprüfen und ihre Umsetzung weiter einzufordern“, erklärt Friederike Kamm.
Wie demokratische Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und die der europäischen Verträge angesichts dieses Dilemmas dennoch durchgesetzt werden können, diskutierte Ende Februar auch ein von der Friedrich-Ebert-Stiftung mitorganisiertes Panel in Brüssel im Rahmen einer Veranstaltung Ideas Lab2016, welche der Brüsseler Think-Tank CEPS organisierte.
Unter der Moderation des FES-Büroleiters in Brüssel, Uwe Optenhögel, diskutierten fünf Juristen und Politiker, wie Rechtsprinzipien in der EU Geltung verschafft werden könne. Unter ihnen war auch Paul Craig, der als Ersatzkandidat der Venedigkommission angehört, die in der vergangenen Woche ein Gutachten über die Situation in Polen veröffentlicht hat. „Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit“ stünden in Gefahr - so das Urteil der Kommission, die vom Europarat eingesetzt wird und der angesehene Verfassungsrechtler_innen aus 60 Ländern angehören. Zwar kritisiert die Kommission die polnische Regierung, doch auch hier gilt: Folgen hat die Beurteilung der Venedigkommission zunächst keine. Im April wird auch die EU-Kommission ihre Einschätzung der Reform des polnischen Verfassungsgerichts vorlegen, die Ergebnisse der Venedigkommission werden dabei mit eingehen.
Das Eingreifen der Kommission ist eine Premiere: Erst seit 2014 verfügt sie über den sogenannten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, der nun zum ersten Mal zum Einsatz kommt.
„Es ist ein Frühwarnsystem. Auch zur Ergänzung eines Verfahrens nach Artikel 7 des EU-Vertrages“, erklärt Friederike Kamm von der FES in Brüssel.
Nach dem EU-Vertrag kann bei "schwerwiegender und anhaltender Verletzung" zentraler Werte der Gemeinschaft ein Verfahren gegen ein Land eingeleitet werden, das in letzter Konsequenz zu einem Entzug des Stimmrechts im Rat der EU führen kann. Zum Einsatz kam dieser Mechanismus jedoch noch nie.
„Expert_innen bezeichnen den Artikel 7 als Atombombe: Die notwendige Einstimmigkeit im Rat zu erzielen ist höchst unwahrscheinlich. Es fehlt der politische Wille im Rat. Die Sanktionen wären effizient und hart, kommen aber nie zum Einsatz“, sagt Friederike Kamm.
Ein Umstand, der von prominenten Jurist_innen in Europa kritisiert wird. Dimitry Kochenov, Professor für EU-Verfassungsrecht an der Universität Groningen, plädierte auf dem Panel der FES dafür, die Sanktionsmechanismen konsequenter zu nutzen. Eine Frage der Glaubwürdigkeit sei das, sagte Kochenov. Die Mehrheitsverhältnisse in Europa allerdings lassen wenig Hoffnung zu, dass ein solcher Mechanismus zukünftig konsequent angewendet würde. Schließlich müssten dafür die Regierungschefs aller EU-Länder einstimmig eine solche Sanktion beschließen.
„Die EU müsste viel früher eingreifen. Wir müssen wieder für Grundfreiheiten und –rechte in den EU-Mitgliedstaaten werben und durch politische Bildungsarbeit ein Bewusstsein für deren Bedeutung schaffen“, glaubt daher Friederike Kamm. Mehr Geld für Bildung und zivilgesellschaftliche Initiativen statt am Ende wirkungslose Drohkulissen also. Auch hierfür ist Polen ein gutes Beispiel, weil es zeigt, wie eine aufgeklärte kritische Öffentlichkeit gegen die Regierung aufbegehrt. Auf der Straße, wo zuletzt mehrere zehntausend Bürger_innen gegen die Verfassungsbeugung der Regierung demonstrierten - aber eben auch bei Facebook und Twitter.
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