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Regierung, Zivilgesellschaft und Gewerkschaften müssen Rückkehrer_innen schützen

Unzureichende soziale Absicherung und das Fehlen von Wiedereingliederungsmaßnahmen werden zurückkehrenden Migrant_innen schaden.

Bild: woman sitting on sidewalk von srian lizenziert unter CC0

Bild: Shabari Nair von privat

Das Interview erschien im Englischen Original bei The Lede.

Im Gespräch mit The Lede berichtet Shabari Nair, regionaler Migrationsexperte im Decent Work Technical Support Team (DWT) für Südasien und Indien bei der International Labour Organization (ILO) darüber, dass Arbeitnehmer_innen in Indien ihren Arbeitsplatz verlieren und sich die einzelnen Wirtschaftssektoren in Indien nur sehr langsam erholen werden.

Ferner thematisiert er, wie zurückkehrende indische Migrant_innen auf einen dysfunktionalen inländischen Arbeitsmarkt treffen, der nur begrenzten sozialen Schutz bietet und praktisch keine Richtlinien und Modelle zur Wiedereingliederung bereithält.

Hier das vollständige Interview:

1. Wie beurteilt die ILO bisher die Auswirkungen von COVID-19 auf Arbeitsplätze weltweit und in Südasien?

Shabari Nair: Die ILO hat bisher drei Monitoring-Updates veröffentlicht. Nach der jüngsten Aktualisierung wird die Zahl der global geleisteten Arbeitsstunden im zweiten Quartal 2020 voraussichtlich um 10,5 Prozent niedriger sein als im letzten Quartal vor der Krise. Dies entspricht 305 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen, was einer deutlichen Steigerung gegenüber der früheren Schätzung der ILO entspricht, die bei 195 Millionen lag.

Fast 1,6 Milliarden Arbeitnehmer_innen in der informellen Wirtschaft oder, anders ausgedrückt, 76 Prozent der informellen Beschäftigung weltweit sind von der aktuellen Krise erheblich betroffen. In Bezug auf Indien haben ILO-Beobachter_innen eine Zahl von etwa 400 Millionen Menschen genannt, die in der informellen Wirtschaft arbeiten und aufgrund der strengen Lockdown-Maßnahmen im Land Gefahr laufen, noch tiefer in Armut zu rutschen. Davon sind vor allem Frauen stark betroffen. Im ersten Monat der Krise ist der durchschnittliche Verdienst von Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, weltweit um schätzungsweise 60 Prozent gesunken. Zählt man Selbstständige dazu, so sind derzeit rund 436 Millionen Unternehmen in den am stärksten betroffenen Sektoren weltweit einem hohen Risiko ausgesetzt und mit ernsthaften Problemen konfrontiert. Rund 47 Millionen Arbeitgeber, das sind etwa 54 Prozent aller Arbeitgeber weltweit, betreiben Unternehmen in den am stärksten betroffenen Sektoren: dem verarbeitenden Gewerbe, dem Hotel- und Gastgewerbe, dem Lebensmittelgewerbe, dem Groß- und Einzelhandel sowie der Immobilienwirtschaft.

Die ILO geht davon aus, dass sich diese Sektoren nur langsam erholen werden. Denn selbst wenn die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie aufgehoben sind, werden die dann noch bestehenden Unternehmen weiterhin vor Herausforderungen und Unsicherheiten stehen. Dazu zählen auch kostenintensive Anpassungen, einschließlich der Gewährleistung einer sicheren Arbeitsumgebung.

2. Wie beurteilt die ILO die Situation von migrantischen Arbeitskräften aus Südasien und Indien, die in der Golfregion leben und arbeiten?

Erhebliche Arbeitsplatzverluste im privaten Sektor der Länder des Nahen Ostens haben südasiatische Migrant_innen gezwungen, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie sind hauptsächlich in den Berufen mit niederen bis mittleren Anforderungen tätig, vor allem im Baugewerbe.

Die in einigen Golfstaaten angekündigte Privatisierung des öffentlichen Sektors wird diesen Arbeitsplatzabbau weiter anheizen. Bangladesch, Indien und Nepal sind einige der südasiatischen Länder, die umgekehrte Migrationstrends erwarten.

Wie aus einem aktuellen Bericht des IWF (Internationaler Währungsfond) hervorgeht, sind bereits über 500.000 Bangladescher_innen (einschließlich derjenigen, die in Europa und anderswo arbeiten) zurückgekehrt. In Indien erleben wir derzeit die zahlenmäßig größte Wanderungsbewegung dieser Art.

In den Ländern Südasiens werden die wirtschaftlichen Auswirkungen je nach Anteil der Rücküberweisungen am Nationaleinkommen unterschiedlich ausfallen. In einem Bericht der Weltbank heißt es, dass die Rücküberweisungen weltweit um mindestens 25 Prozent zurückgehen werden. So ist Nepal in hohem Maße von Rücküberweisungen abhängig (etwa 27 Prozent des BIP nach Schätzungen von 2019), während die Rücküberweisungen in Indien nur etwa 2,5 Prozent des nationalen BIP ausmachen.

In Indien wird die Disparität zwischen den Bundesstaaten jedoch fortbestehen bleiben. Kerala, das mit über 300.000 zurückkehrenden Migrant_innen rechnet und wo Rücküberweisungen von im Ausland arbeitenden Menschen einen Großteil des Staatseinkommens ausmachen, wird sich aufgrund der neuen Situation mit finanziellen und sozialen Verwerfungen auseinandersetzen müssen.

Die zurückkehrenden Migrant_innen treffen auf einen dysfunktionalen inländischen Arbeitsmarkt, der ihnen nur begrenzte soziale Absicherung und kaum Möglichkeiten zur Wiedereingliederung bietet.

3. Welche Maßnahmen müssen wir für die Wiedereingliederung der zurückkehrenden Migrant_innen in Südasien in Betracht ziehen?

Die Wiedereingliederungspolitik berücksichtigt in der Regel freiwillige Rückkehr, aber diesmal sind Arbeitsmigrant_innen gezwungen zurückzukehren, ohne Aussichten auf Wiederbeschäftigung im Zielland zu haben. Zur Unterstützung der zurückkehrenden Migrant_innen, die als qualifizierte und erfahrene Arbeitskräfte tätig waren, sind demzufolge eine Bestandsaufnahme sowie Integrationsmaßnahmen erforderlich. Die Beschäftigungspolitiken vor Ort können entsprechend angepasst werden, um diese Arbeitnehmer_innen in den bestehenden Arbeitsmarkt aufzunehmen. Und die Einbeziehung in Einkommensgarantie- und Sozialschutzsysteme kann für Arbeitsmigrant_innen und ihre Familien die finanziellen Verluste, die sie bei der Rückkehr erleiden, abfedern.

Der Staat sollte sich ebenso der Notwendigkeit der sozialen Integration zurückkehrender Migrant_innen bewusst sein, da das Stigma, mögliche_r COVID-19-Infektionsträger_in zu sein, ihre Probleme verstärken könnte.

4. Könnten Sie uns bitte drei Maßnahmen mitteilen, die Kerala, das zwei Billionen Rupien (etwa 23,5 Milliarden Euro) jährlich erhält, auf den Weg bringen kann, um die Krise der Rückkehr der Bewohner_innen von Kerala zu überwinden?

Erstens: Eine Bestandsaufnahme der 14 Distrikte in Kerala würde dazu beitragen, die Region mit den meisten schutzbedürftigen Rückkehrer_innen zu identifizieren und diese mit gezielten Interventionen zu unterstützen. So arbeiteten die meisten zurückkehrenden Migrant_innen aus dem Malappuram-Bezirk Keralas in den geringqualifizierten und -bezahlten Sektoren der Golfstaaten. Dazu gehören etwa migrantische Hausangestellte. Die Lebensgrundlage einer Reihe von Menschen in diesem Bezirk war auch schon durch das Hochwasser im Jahr 2018 betroffen. Dies wirkt sich verstärkt auf die lokale Wirtschaft und das Einkommensniveau aus.

Die Entlastung könnte in Form systematischer Investitionen in kleine und mittlere Unternehmen (KMU, hier: sogenannte MSME: micro, small, medium enterprises) erfolgen, die einen Integrationsplan für Rückkehrer_innen mit den benötigten Kenntnissen und Fähigkeiten sowie der nötigen Erfahrung haben. Hierzu werden ebenfalls Hausangestellte gezählt.

Zweitens hat Kerala die COVID-19-Infektionen aufgrund seines robusten öffentlichen Gesundheitssystems und des gut ausgebildeten Gesundheitspersonals, insbesondere der Pflegekräfte, erfolgreich eingedämmt. Der Staat ist auch einer der größten Entsender von Krankenpfleger_innen, die nun gezwungen sind, nach Hause zurückzukehren. Der Staat kann sein Gesundheitssystem weiter stärken, indem er diese Arbeitskräfte in primären Gesundheitszentren, medizinischen Hochschulen und privaten Krankenhäusern aufnimmt und beschäftigt.

Drittens verfügt Kerala auch über ein dynamisches Ökosystem des sozialen Dialogs, in dem Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammenkommen, um Lösungen zu finden. In der Tat wäre dies auch der richtige Moment für Kerala, das Modell des sozialen Dialogs anzuwenden, um zurückkehrende Arbeitsmigrant_innen zu unterstützen.

5. Welche Rolle können Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft in der neuen Weltordnung spielen, um die Aussichten von Arbeitnehmer_innen in der Zeit nach COVID-19 zu verbessern?

Eine gemeinsame und abgestimmte Vorgehensweise von Regierungen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmer_innenorganisationen bei der Entwicklung politischer Antworten auf COVID-19 kann dazu beitragen, Arbeitsmarktprobleme anzugehen. Sie könnte gesunden und sicheren Arbeitsbedingungen Priorität einräumen, mittlere und kleine Unternehmen dabei unterstützen, zu überleben, den Sozialschutz auf schutzbedürftige Gruppen ausweiten und Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitsmigrant_innen sichern.

Wir alle sollten uns dafür einsetzen, nicht nur einen gesamtstaatlichen Ansatz zu unterstützen, sondern auch einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz bei der Überprüfung, Definition und Umsetzung von Gesetzen und Richtlinien in Bezug auf Migration und Arbeitsmigration zu gewährleisten.

Die Gewerkschaften spielen eine wichtige Rolle bei der Organisation von zurückkehrenden migrantischen Arbeitskräften. Sie setzen sich insbesondere für deren Rechte ein und unterstützen den Staat bei der Achtung internationaler und nationaler Arbeitsnormen.

Auch Organisationen der Zivilgesellschaft haben eine wichtige Funktion als Ersthelfer_innen, wenn migrantische Arbeitskräfte Hilfe benötigen. Denn sie kennen deren Arbeitsbedingungen, einschließlich derjenigen von Frauen.

Die Einbeziehung von migrantischen Arbeitskräften in die nationalen politischen Maßnahmen bezüglich COVID-19 hilft Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Im Vordergrund sollte stehen: Alle migrantischen Arbeitskräfte, einschließlich derjenigen, die möglicherweise nicht registriert und ohne Papiere sind oder sich in einem irregulären Status befinden, sollten bei ungerechter Behandlung juristische Unterstützung bekommen .

Sie sollten in der Lage sein, für ihre Rechte einzutreten und diese juristisch durchzusetzen, einschließlich reduzierter oder nicht bezahlter Löhne, Verweigerung anderer Ansprüche und Diskriminierung am Arbeitsplatz. Und sie sollten – wenn erforderlich - Zugang zu Rechtsberatung und Sprachmittlung bzw. Dolmetschung haben.

Sowohl Gewerkschaften als auch Organisationen der Zivilgesellschaft spielen also bei der Lösung dieser Probleme eine wichtige Rolle.


Ansprechpartnerinnen

Susan Javad

030 26935-8313
Susan.Javad(at)fes.de

Vanicha Weirauch

030 26935-8333
Vanicha.Weirauch(at)fes.de

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