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Segregation tötet

Fokus NorD: #tellcorona - Wie die Zivilgesellschaft hilft die Verbreitung von COVID-19 in segregierten schwedischen Gemeinden zu verhindern.

 

Das schwedische Experiment

Als die Coronavirus-Pandemie im März 2020 Europa mit voller und tödlicher Wucht traf, dauerte es nur ein paar Wochen, bis die internationalen Medien über das sogenannte „schwedische Experiment“ sprachen. Praktisch alle EU-Mitgliedstaaten haben sehr strenge Maßnahmen ergriffen, um sozialen Kontakt zu begrenzen und die Menschen im Haus zu halten, in der Hoffnung, die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Öffentliche Versammlungen wurden verboten, Straßen wurden militarisiert und in mehreren Ländern wurde den Menschen befohlen, in ihren Häusern zu bleiben.

Aber Schweden entschied sich, einen anderen Weg zu gehen. Öffentliche Versammlungen innerhalb bestimmter Grenzen sind weiterhin erlaubt. Grundschulen, öffentliche Einrichtungen, Bars und Cafés bleiben geöffnet. Die Regierung gibt in der Regel Empfehlungen und keine Anordnungen heraus und fordert die Menschen auf, soziale Distanz zu wahren und sich zu Hause selbst zu isolieren, wenn bei ihnen Coronavirus-Symptome auftreten.

Hinter dieser Strategie steht die Idee, dass Menschen verantwortungsbewusst handeln können, entsprechend dem, was für die gesamte Gesellschaft am besten ist, und zwar auch ohne die Einführung drakonischer Regeln. Eine solche Strategie setzt jedoch voraus, dass jeder die Empfehlungen verstehen und befolgen kann.

Werden wirklich alle Menschen erreicht?

Dies löste eine öffentliche Debatte über die Segregation in Schweden als Herausforderung während der Pandemie aus. Es wurden jedoch auch Initiativen hervorgehoben und neue Initiativen zur Bewältigung dieser Herausforderungen geschaffen. 

Schon früh identifizierte Nuri Kino, Journalist und bekannter Menschenrechtsanwalt in Stockholm, Probleme, die dazu beitragen könnten, dass sich das Coronavirus schnell in segregierten Vororten ausbreitet. Hier leben vor allem Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Kino ist schon lange gut mit den migrantischen Communities vernetzt.

„Die Menschen dort knüpfen Kontakte anders. Sie leben anders, oft mehrere Generationen unter einem Dach. Und sie leben oft auch in überfüllten Haushalten, insbesondere versteckte Geflüchtete und Menschen, die der ‚Schattengesellschaft‘ angehören“, sagt Nuri Kino.

Die Wohnsituation hängt in erster Linie mit den wirtschaftlichen Bedingungen zusammen, da die Menschen in diesen Gebieten oft unter Armut leiden oder keine besseren Möglichkeiten haben. Dies ist besonders häufig bei Menschen der Fall, die unter dem Radar leben, sei es Arbeitsmigrant_innen ohne Arbeitserlaubnis oder Asylsuchende, deren Anträge abgelehnt wurden. Diese Situation erleichtere die Ausbreitung des Coronavirus.

Nuri Kino setzte sich mit staatlichen Stellen in Verbindung, um über diese Risiken zu sprechen, war jedoch von den Antworten, die er erhielt, überrascht.

„Ich dachte, diese Dinge wären für sie genauso offensichtlich wie für mich, aber das waren sie nicht. Es fasziniert mich, dass staatliche Stellen möglicherweise nicht wissen, wie ein Teil Schwedens aussieht “, sagt er.

Sprache - ein wichtiges Werkzeug im Kampf gegen COVID-19

Ein weiteres Problem, das die Ausbreitung des Coronavirus in segregierten Gemeinden beschleunigen kann, ist die Tatsache, dass der Staat es versäumt hat, Informationen auch in anderen Sprachen als Schwedisch zu schicken. Nuri Kino sagt, dass weder Arbeitsmigrant_innen noch Geflüchtete, mit denen er gesprochen hat, den Pressemitteilungen der schwedischen staatlichen Behörden über die Pandemie folgen konnten. Sie haben auch die Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Medien nicht verfolgt.

"Sie konnten die in den Ankündigungen verwendeten schwedischen Begriffe nicht verstehen", so Nuri Kino.

Ein solches Problem wurde auch von Amil Sarsour, dem Vorsitzenden der SIU, einer Dachorganisation für Migrant_innenverbände in Uppsala, Schwedens viertgrößter Stadt, erkannt. Das Hauptproblem sieht er darin, dass viele Menschen in den segregierten Gegenden keine angemessenen oder täglichen Informationen erhalten. 

„Sie wissen nicht, wo sie die Informationen finden können, die von der öffentlichen Gesundheitsbehörde veröffentlicht wurden. Und selbst wenn sie Schwedisch gelernt haben, sind ihre Sprachkenntnisse häufig nicht ausreichend, um schwierige gesundheitliche Probleme verstehen zu können. Sie verfolgen die Nachrichten über ihre Heimatländer, aber erhalten nicht genügend Informationen darüber, ob sie in Schweden nach draußen gehen können, ob ihre Kinder zur Schule gehen können usw. Es gibt zu wenig Kommunikation zwischen ihnen und dem Staat “, sagt Amil Sarsour.

Solche Fragen werden stattdessen Amil Sarsour gestellt, wenn sich fast täglich Menschen an das SIU-Büro in Uppsala wenden, um Unterstützung und Informationen zu erhalten. Diese Begegnungen haben Amil Sarsour dazu gebracht, das Ausmaß an Verwirrung, Sorge und Desinformation in segregierten Gemeinschaften zu entdecken.

„Die Menschen verstehen nicht, warum Schweden nicht die gleichen Maßnahmen wie die Nachbarländer gegen das Coronavirus ergriffen hat. Einige sind besorgt und wütend, andere suchen online Rat bei sogenannten Experten. Einige behaupten, dass das Essen von Zitronenschalen Schutz vor dem Virus bietet. “

#tellcorona - Die Zivilgesellschaft erleichtert die Kommunikation, um Leben zu retten

Viele bürgerliche Akteure und Organisationen sind sich einig, dass Menschen in segregierten Gebieten angemessene Informationen über das Coronavirus in den eigenen Sprachen erhalten müssen. Nuri Kino begann mit Prominenten mit Einwanderungsgeschichte Kontakt aufzunehmen und bat sie, kurze Videobotschaften in ihrer eigenen Sprache über Sauberkeit, social distancing und die Wichtigkeit der Vermeidung großer Versammlungen aufzunehmen, um das Coronavirus zu bekämpfen. Diese und weitere Videobotschaften wurden auf der dazu ins Leben gerufenen Website  tellcorona.com hinzugefügt. Nuri Kino wurde vom schwedischen Social-Media-Büro Bright Mind Agency unterstützt, das die Tellcorona-Site eingerichtet hat, um die wichtige Rolle zu zeigen, die Kommunikationsbüros auch bei der Kontaktaufnahme zu segregierten Gemeinden spielen können.

„Die Resonanz war enorm und positiv. Apotheken, Gemeinden und religiöse Gemeinden haben Verbindungen ausgetauscht, und die schwedische Behörde für Zivilschutz und Bereitschaft (MSB) hat sich ebenfalls mit mir in Verbindung gesetzt, um zusammenzuarbeiten “, sagt Nuri Kino.

Die Erkenntnis, dass nicht jeder in der Lage war, Empfehlungen zur öffentlichen Gesundheit zu verstehen, hat anscheinend zu einer erneuten Zusammenarbeit zwischen dem Staat und zivilgesellschaftlichen Akteuren geführt, die in segregierten Gebieten tätig sind. Ende März bat die schwedische Behörde für Zivilschutz und Bereitschaft (MSB) populäre Musiker_innen mit ihren Fans in segregierten Gebieten darüber zu sprechen, wie die Verbreitung des Coronavirus verhindert werden kann.

Das MSB gab in einer Pressekonferenz am 30. März bekannt, dass es gelungen sei, mindestens die Hälfte der schwedischen Bevölkerung über soziale Medien mit Informationen über die Coronavirus-Strategie des Staates zu erreichen. Ab Anfang April wird es jedoch eine noch umfassendere Informationskampagne in Zusammenarbeit mit Organisationen, religiösen Gemeinden und mehreren Nachrichten- und Informationsstellen geben, die sich speziell an Migrant_innen richtet. Das Ziel, so die Agentur, sei es, „alle“ zu erreichen, einschließlich der Gemeinschaften, die zuvor schwer zu beeinflussen waren.

Ende März nahmen Amil Sarsour und Vertreter_innen anderer ziviler Organisationen an einem Online-Treffen mit Åsa Lindhagen teil, der schwedischen Ministerin für die Gleichstellung der Geschlechter, die auch für die Bekämpfung der Segregation zuständig  ist. Ziel war es, ein Bild von der Arbeit ziviler Organisationen in segregierten Gebieten und den von ihnen ermittelten Bedürfnissen zu erhalten.

„Nicht Händeschütteln, Händewaschen - das sind Dinge, über die die meisten Menschen bereits Bescheid wissen. Die Menschen sind heute hauptsächlich über ganz andere Dinge besorgt, daher sehe ich die Notwendigkeit, ihnen über soziale Medien jeden Tag einfache, korrekte Informationen zu senden“, sagt Amil Sarsour.

Die Ziel ist: tägliche Informationen auf so vielen Sprachen wie möglich

Die SIU teilt notwendige Informationen im Zusammenhang mit der Corona-Krise in den Muttersprachen der Menschen. Das soll nun sogar täglich geschehen. Die Informationen kommen aus der Gemeinde Uppsala, die Amil Sarsour darum gebeten hat, ihm täglich eine kurze E-Mail mit Nachrichten zum Thema Coronavirus zu senden. Freiwillige an der SIU übersetzen die Informationen in 15 verschiedene Sprachen und der Inhalt wird über verschiedene Social-Media-Gruppen geteilt. Das Ziel ist es, sogar noch weitere Sprachen hinzuzufügen.

„Die SIU besteht aus 45 Mitgliedsverbänden. Wir haben beschlossen, viele unserer sozialen Aktivitäten jetzt zu unterbrechen, aber wir teilen weiterhin Informationen über das Coronavirus über unsere Kanäle und über unseren Radiosender, über den wir in 10 Sprachen senden. Ich hoffe, dass die Regierung auf unsere Erfahrungen hört und unsere Ressourcen in der Zivilgesellschaft nutzt “, sagt Amil Sarsour.

 

Autor:

Joakim Medin ist schwedischer Journalist und Autor, der ausführlich über Migration, Integrationsbemühungen und den Aufstieg der Anti-Immigrationspolitik berichtet.


Ansprechpartnerinnen

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