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Europa erlebt nach dem Brexit eine schwerwiegende politische Krise. Ausgelöst wurde diese auch durch andere Krisentendenzen: Die Idee des sozialen Europas ist auf dem Rückzug. Die Ungleichheit wächst - europaweit.
Bild: Bild: Escalator Urheber: Timothy Vollmer Lizenz: CC BY 2.0
Europa, das ist immer auch das Versprechen gewesen, dass sich die Lebensbedingungen innerhalb der Union angleichen würden. Und tatsächlich: Bis zur Finanzkrise wiesen zentrale Indikatoren in diese Richtung. Die Ungleichheit nahm ab. Noch 2009 hatte die Einkommensungleichheit nach deutlichen Fortschritten in den Vorjahren ihren niedrigsten Wert erreicht. Seit der Finanzkrise hat sich diese Dynamik jedoch abgeflacht oder gar umgekehrt.
Auf europäischer Ebene wird als Maß für die Einkommensungleichheit unter anderem die S80/ S20 Rate herangezogen. Sie fragt danach, wie viel mehr Geld den reichsten 20 Prozent der Bevölkerung im Vergleich zum ärmsten Fünftel zur Verfügung steht. Im Jahr 2014 stieg dieser Indikator nach offiziellen Berechnungen der Union von 5 auf 5,2. Heißt: Im Durchschnitt steht dem reichsten Fünftel in den europäischen Ländern 5,2-mal mehr Nettoeinkommen zur Verfügung als dem ärmsten Fünftel in diesem Land. Alarmierend sind diese Zahlen bereits – zumindest, wenn man das Versprechen eines sozialen Europas ernst meint. Tatsächlich jedoch sind die Einkommensunterschiede in Europa noch größer.
Diese Sichtweise unterschätzt das tatsächliche Einkommensverhältnis des reichsten zum ärmsten Fünftel der EU insgesamt erheblich, analysieren daher Michael Dauderstädt und Cem Keltek in einem jüngst erschienenen Papier. Die gewöhnliche Berechnung misst nur das durchschnittliche Einkommensungleichgewicht in den jeweiligen Ländern und vernachlässigt die gewaltigen Einkommensunterschiede zwischen den EU-Staaten. Die beiden Ökonomen fassen in ihrer Analyse beides zusammen: die Ungleichheit zwischen und die innerhalb der Mitgliedstaaten. Nur so kann die tatsächliche europäische Ungleichheit abgeschätzt werden.
Ihr Fazit ist eindeutig: „Kein Fortschritt beim sozialen Zusammenhalt in Europa“, FES WISO direkt 11/2016
Die Länder Europas werden stattdessen unterschiedlicher: Fast überall ist die Einkommensungleichheit gestiegen. Die aktuellsten Zahlen von 2014 weisen hier ein Wachstum von insgesamt vier Prozent zum Vorjahr auf. Besonders rasant steigt die Ungleichheit in Estland, der Slowakei, Großbritannien – und Deutschland. Der Mindestlohn, der erst nach 2015 eingeführt wurde, mag hier allerdings Verbesserungen geschaffen haben, vermuten die Autoren.
Berechnungen, Quotienten, Raten: Das wahre Drama verbirgt sich hinter den Zahlen, die wachsende Ungleichheit ist nicht allein ein wirtschaftliches Problem. Die politischen Entwicklungen in Europa, wo fast überall Populismus und Rechtsradikalismus wachsen, zeigen dies. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat jüngst im IPG-Magazin darauf hingewiesen, dass die Lehre aus dem Brexit genau das sein könnte: Wachsende Ungleichheit habe letztlich politische Folgen. „Nun ist dieser Tag gekommen“ schreibt Stiglitz kurz nach dem Brexit (IPG-Journal, 11.07.2016).
Diese Entwicklung wird sogar noch verschärft, da das schon geringe Wachstum in Europa vor allem den reicheren Schichten zu Gute zu kommen scheint. Ihre Einkommen steigen proportional schneller als die der ärmeren Bevölkerung. Im europäischen Vergleich zeigt sich derweil, wie verheerend die Austeritätspolitik wirkt: Die Einkommen in den Mittelmeerländern Spanien, Portugal und Griechenland sind in fast allen Einkommensschichten gesunken. Paradox: Während immer mehr Menschen in die Armut rutschten und damit staatliche Sozialleistungen benötigen, sank in diesen Ländern die Summe der Sozialabgaben – für Dauderstädt und Keltek eine Ursache der sich verschärfenden Ungleichheit.
Wenn die Ungleichheit in Europa sowohl innerhalb als auch zwischen den Mitgliedstaaten wächst, muss politisches Handeln eine kombinierte Lösungsstrategie finden, schlussfolgern die Autoren. Mehr Wachstum und mehr Umverteilung - so ließe sich das von den beiden Ökonomen vorgeschlagene Modell zusammenfassen. Steigende Einkommen der Ärmeren haben dabei direkt positive Wachstumseffekte: Sie sparen weniger und geben mehr aus, die Nachfrage steigt. Positiver Nebeneffekt: Die Exportabhängigkeit des europäischen Wirtschaftswachstums würde durch innere Wachstumsdynamik reduziert. „Wohlstand entsteht nicht durch die Anhäufung von Forderungen ans Ausland, sondern durch Investitionen und Konsum zuhause“, fassen Dauderstädt und Keltek zusammen. Notwendig für eine solche Entwicklung wäre dabei mehr Umverteilung: höhere Besteuerungen von hohen Einkommen und Gewinnen sowie einen gewichtigeren EU-Haushalt auf europäischer Ebene. Dann würden wir dem, was gerne soziales Europa genannt wird, wieder näherkommen. Und damit vielleicht auch das europäische Versprechen retten können.
weiterführende Links:
Michael Dauderstädt und Cem Keltek: Krise, Austerität und Kohäsion: Europas stagnierende Ungleichheit, FES WISO direkt, 2/2014
Soziales Wachstum. Leitbild einer fortschrittlichen Wirtschaftspolitik, FES, WISO Diskurs, 11/2011
Joß Steinke: „Soziales Europa“ muss mehr sein als eine Worthülse!, IPG-Journal, 01.05.2014
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