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Europa erlebt gerade die größte Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir sollten die Lektionen von Schwedens Erfahrungen mit Integration beherzigen.
Europa erlebt gerade die größte Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg: Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen erwartet, dass mehr als vier Millionen Menschen aus der Ukraine in der Europäischen Union Schutz suchen werden. Die Mitgliedstaaten müssen sich nicht nur auf eine gigantische logistische Anstrengung einstellen, sondern auch auf eine noch nie dagewesene Herausforderung im Bereich Integration.
Glücklicherweise gibt es Erfahrungen, auf denen man aufbauen kann. Alle Krisen sind einzigartig, aber aus früheren Situationen können einige Lehren gezogen werden, vor allem wenn man nach Schweden blickt. Über Jahre hinweg war Schweden Vorreiter beim Thema Integration. Nach den Parlamentswahlen am 11. September und einer durch die Anti-Immigrationsagenda der rechtspopulistischen Schwedendemokraten zunehmend schärferen Debatte um Migration bleibt jedoch unklar, ob das Land diese Vorreiterrolle auch in Zukunft beibehalten wird. Höchste Zeit für Europa von seinem nordischen Mitgliedstaat zu lernen.
Flüchtlinge hoffen immer, dass sie zurückkehren können, aber oft bleiben sie schlussendlich doch. Migration ist teuer, auch emotional, und viele Familien, die einmal gewaltsam entwurzelt wurden, zögern, die jungen Wurzeln ihrer Kinder zu kappen und in ihr Heimatland zurückzukehren. Selbst im besten Fall, wenn die Kampfhandlungen schnell enden und die ukrainische Unabhängigkeit und Demokratie wiederhergestellt werden, wird es den Flüchtlingen wahrscheinlich nicht möglich sein, in naher Zukunft zurückzukehren.
An vielen Orten wird es nicht viel geben, wohin sie zurückkehren können. Überall in der Ukraine ist die Infrastruktur bereits massiv beschädigt worden: Brücken wurden bombardiert, Straßen zerstört, Schulen zertrümmert. In Kiew, Charkiw und Mariupol wurden ganze Wohnblocks in rußgeschwärzte Skelette verwandelt.
Nachdem wir erkannt haben, dass die Migration nicht vorübergehend sein wird, besteht die Herausforderung darin, Integration als langfristige Investition zu betrachten. Es erscheint wenig sinnvoll, wenn Hochqualifizierte ihre Kompetenzen im erstbesten Job vergeuden, während jene, die noch nicht qualifiziert sind, arbeitslos bleiben.
Jeder Flüchtling sollte in die Lage versetzt werden, seine Fähigkeiten einzusetzen, die Landessprache zu erlernen und sich das Wissen anzueignen, das für die Teilhabe am Arbeitsmarkt erforderlich ist. Investitionen in Kompetenzerwerb werden sich auszahlen, unabhängig davon, ob die Einzelperson bleibt oder zurückkehrt: Die Ukraine ist unser Nachbar, ihr Reichtum wird unser Wohlstand sein und ihre Demokratie wird die unsere verteidigen.
Paul Romer, Chefökonom der Weltbank und Nobelpreisträger, schlug 2016 vor, dass Schweden, eines der dünnst besiedelten Länder Europas, ein Stück Land bereitstellen sollte, wo die vielen Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Horn von Afrika aufgenommen werden könnten. Er argumentierte, dass eine Stadt wie Hongkong nicht viele Quadratkilometer benötige, um zu florieren.
Warum nicht? Nutzen wir die Gelegenheit, um die emissionsfreien, autarken Städte zu bauen, von denen wir träumen, mit feministischer Stadtplanung und sozialem Wohnbau, der die Gleichheit vorantreibt – jedoch nicht, wie in Romers Vorschlag, abgeschnitten von der übrigen Gesellschaft: Europa braucht weniger Grenzen, nicht mehr.
Nichtsdestotrotz wird die meiste Integration weiterhin in ganz gewöhnlichen Nachbarschaften stattfinden, in bereits bestehenden Städten – mit den bestehenden Herausforderungen. Fortschrittliche Integrationspolitik muss sicherstellen, dass die Ankunft von Flüchtlingen die Wohnungskrise und die soziale Segregation an Schulen nicht weiter verstärkt und keine zusätzliche Belastung für das Gesundheitssystem darstellt. Dies erfordert bewusste Entscheidungen und eine langfristige Perspektive.
Überwinden von schädlichen Dichotomien
Die Tatsache, dass viele Ukrainer_innen nicht zurückkehren werden, bedeutet nicht, dass sie keine Ukrainer_innen bleiben werden. Das werden sie mit Herz und Seele, aber sie werden genauso Pariser und überzeugte Niederländer werden, sie werden sich in Lappland zu Hause fühlen und sich in Sizilien niederlassen. Es ist durchaus möglich, gleichzeitig Ukrainisch und Schwedisch (und vieles mehr) zu sein.
Das Forschungsfeld des Transnationalismus zeigt, dass Identitäten sich ständig verändern und vielfältig sind und sich selten gegenseitig ausschließen. Die Familie meines Vaters stammt von der Ostseeinsel Gotland, die meiner Mutter aus Stockholm und ich fühle mich an beiden Orten gleichermaßen zu Hause, genauso wie in Uppsala, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Ein Teil von mir gehört nach Managua in Nicaragua, wo ich ebenfalls als Kind gelebt habe, aber meine Hauptstadt wird immer das „rote Wien“ bleiben, mein Zuhause für mehr als ein Jahrzehnt. Nach einem prägenden Jahr als Austauschstudentin an der Queen‘s University Belfast werden die regennassen Straßen dieser nordirischen Stadt immer ein Teil von mir sein.
Ich teile die Erfahrung von mehreren Identitäten mit unzähligen Menschen in Europa und es werden andauernd neue Identitäten geschaffen, wenn Menschen sich treffen und vermehren, sich vermischen und vermengen. Tatsächlich brauchen wir ein Europa, dass auf der Kraft der Diversität und einer Gesinnung von Gastfreundschaft aufgebaut ist.
Vorsicht vor dem Rückschlag
Wenn jetzt auch Solidarität vorherrscht, wird es später einen Rückschlag geben. Flüchtlinge, Migrant_innen und alle, die als „die Anderen“ bezeichnet werden können, waren schon immer die Sündenböcke für die Missstände in der Gesellschaft. Auch Ukrainer und Ukrainerinnen werden Opfer einer solchen Entwicklung werden. Genauso wie in der Vergangenheit ist es wichtig, unaufhaltsam zu bekräftigen, dass Gemeinden in allen Teilen Europas – Politiker_innen, Beamt_innen und Aktivist_innen – tagtäglich beweisen, dass es möglich ist, warmherzige Gemeinschaften zu schaffen.
Wertvolle Erfahrungen
Schweden ist nach Luxemburg das Land mit dem größten Anteil an Migrant_innen in der EU: 19,5 Prozent der Schwed_innen, jeder Fünfte, wurde im Ausland geboren. Viele kamen in den 1950er und 1960er Jahren als Arbeiter_in aus Finnland oder dem ehemaligen Jugoslawien nach Schweden, andere als Flüchtlinge aus Lateinamerika in den 70er Jahren und dem Nahen Osten in den 80er und 90er Jahren.
Die meisten Flüchtlinge kamen in den 90er Jahren aus Bosnien-Herzegowina und anderen Balkanländern und um das Jahr 2015 aus Syrien, Afghanistan und dem Horn von Afrika. In jenem Jahr nahm Deutschland die höchste absolute Zahl an Asylsuchenden auf, aber Schweden die höchste im Verhältnis zur Bevölkerung. Schweden war tatsächlich unter den zehn Ländern weltweit, die im Verhältnis zur Bevölkerung in den Jahren 2011-2020 die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Wertvolle Erfahrungen sind auch heute noch relevant.
Eine wichtige Lehre aus der immensen Aufnahme von Flüchtlingen in den 90er Jahren war die Erwachsenenbildungsinitiative „kunskapslyftet“, die von der heutigen EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, konzipiert wurde, die damals schwedische Ministerin für Bildung war. Die Erwachsenenbildung wurde massiv ausgebaut, um der tiefen Wirtschaftskrise entgegenzuwirken, die Schweden in jenem Jahrzehnt durchmachte. Alle Personen, die Arbeitslosenunterstützung bezogen, egal ob sie gebürtige Schweden mit geringer Bildung oder neuangekommene Flüchtlinge waren, bekamen die Möglichkeit, sich für Schulkurse anzumelden, die sie auf eine Hochschulausbildung oder eine Berufsausbildung vorbereiten sollten.
Ein Teil des Erfolges dieser Initiative bestand darin, dass sie nicht als Integrationsmaßnahme bezeichnet wurde, wodurch die beträchtlichen Kosten nicht als „Ausgaben für Migrant_innen“ wahrgenommen wurden. Der Ausbau der Erwachsenenbildung spielte jedoch eine entscheidende Rolle in der Integration von Flüchtlingen aus Bosnien und anderen Regionen des ehemaligen Jugoslawiens. Zehntausende verbrachten ihre ersten Jahre in Schweden in der Schule anstatt stempeln zu gehen und waren gut ausgebildet, um Arbeit anzunehmen, als der Arbeitsmarkt sich wieder erholte.
Die Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien kamen während einer schweren Krise nach Schweden, in der die öffentlichen Ausgaben massiv gekürzt wurden und die Arbeitslosigkeit in die Höhe schoss. Die ersten paar Jahre waren schwierig, aber mit der Zeit fassten die Flüchtlinge in der Gesellschaft Fuß. Ihre Integration verlief nicht schnell, aber sie war erfolgreich. Das trifft vor allem auf jene zu, die noch Kinder waren, als sie nach Schweden kamen. Drei Jahrzehnte später genießen sie praktisch den gleichen Wohn- und Einkommensstandard wie ihre einheimischen Altersgenossen.
Keine so große Last
Etwa 90.000 Menschen suchten in den 90er Jahren Schutz in Schweden. Diese Zahl wurde auch 2014 erreicht und verdoppelte sich im Jahr 2015 fast, als 163.000 einen Asylantrag stellten. In einem kürzlich erschienenen Buch analysiert Peo Hansen, Politikprofessor am Institut für Migrations-, Ethnizitäts- und Gesellschaftsforschung der Universität Linkoping, was mit der Wirtschaft geschah, als Schweden die „Last“ (wie es oft genannt wurde) der Flüchtlinge, die während des letzten großen Zustroms kamen, zu tragen hatte.
Seine Schlussfolgerungen sind eindeutig: Die „Flüchtlingskrise“ war für die schwedische Wirtschaft ein Segen. Die Aufnahme der Flüchtlinge kam nicht nur den Städten und Dörfern in ganz Schweden zugute, deren leere Mietshäuser und sich leerende Schulen nun wieder gefüllt wurden, auch der Arbeitsmarkt erlebte einen Aufschwung.
Hansen stellt die buchhalterische Perspektive in Frage, wonach der Beitrag der Einwanderer zur Wirtschaft anhand ihrer Steuerbeiträge abzüglich der Sozialleistungen gemessen werden kann. Dabei wird der Beitrag der Flüchtlinge zur Realwirtschaft mit ihren Talenten, ihrem Unternehmergeist und ihrer Arbeitskraft nicht berücksichtigt.
Insbesondere wenn sie im Niedriglohnsektor beschäftigt sind, was bei Einwanderern zunächst häufig der Fall ist, kann ihr Beitrag zur Wirtschaft nicht an den geringen Steuern gemessen werden, die sie für zu geringe Löhne zahlen. Heute sind nicht nur 60 Prozent der schwedischen Reinigungskräfte und die Hälfte der schwedischen Taxifahrer_innen Einwanderer, sondern auch eine von sieben Krankenpfleger_innen und eine von drei Ärzt_innen. Die Pflege in Schweden könnte ohne die Pflegekräfte aus Syrien und Somalia nicht auskommen.
Regen aufs Dach
Die Aufnahme von Millionen Flüchtlingen ist ohne Zweifel eine gewaltige logistische Herausforderung. In Schweden verkündete der Minister für Migration vor Kurzem, dass Lagerhäuser, Sporthallen und Zelte für die Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge genutzt werden.
Die Flüchtlinge aus Bosnien waren in Zelten untergebracht worden. Eine ehemalige schwedische Ministerin für Bildung, Aida Hadžialić – eine erstklassige Studentin und talentierte Politikerin – war eine von ihnen. Aidas erste Erinnerung an Schweden war das Prasseln des Regens auf das Dach des Zeltes, in dem sie und ihre Familie zunächst übernachteten. Andere Kinder aus anderen Teilen Europas werden nun ihre ersten Nächte in Zelten verbringen und vielleicht dem Trommeln der Regentropfen horchen, die auf die Zeltplane fallen.
Hoffentlich werden auch sie, wie die bosnischen Flüchtlinge von damals, ein weiteres Kapitel erfolgreicher Integration mitschreiben.
Dies ist eine Gemeinschaftspublikation von Social Europe und dem IPS Journal und ist am 17.03.2022 im IPS Journal erschienen.
Dr. Lisa Pelling ist eine Politikwissenschaftlerin und Leiterin des in Stockholm ansässigen Thinktanks Arena Idé. Sie schreibt regelmäßig für die digitale Zeitung Dagens Arena und war früher Politikberaterin und Redenschreiberin im schwedischen Außenministerium.
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