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Bild: von Andreas Paust
Kurt Beck, damals noch Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, erhob 2011 in einem von ihm herausgegebenen Buch die Forderung „Mehr Bürgerbeteiligung wagen“. „Was liegt näher“, so fragte er, „als die Bürgerinnen und Bürger [1] als Experten ihrer eigenen Lebensumwelt und Träger von wertvollem Erfahrungswissen einzubeziehen. Die Politik muss den durchaus bestehenden Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach Mitwirkung an konkreten politischen Projekten aufgreifen.“
Beck plädierte in diesem Zusammenhang bei größeren Projekten für „die Entwicklung eines integrierten Kommunikations- und Dialogkonzepts, das die Menschen frühzeitig und in allen Phasen des Planungs- und Entscheidungsprozesses umfassend informiert und ihnen Möglichkeiten der Mitsprache einräumt.“ Tatsächlich sind in den letzten Jahren kaum noch größere Projekte in Angriff genommen worden, in denen solche Kommunikations- und Dialogkonzepte nicht zur Anwendung gekommen sind. Die Initiatoren und Auftraggeber von solchen Konzepten – oder allgemeiner gesprochen von Bürgerbeteiligungsprozessen überhaupt – sind in der Regel Vertreter der Verwaltung. Ausgehend von der gesetzlich vorgeschriebenen formellen Bürgerbeteiligung im Bau- und Planungsbereich sind es insbesondere Bürgermeister, Dezernenten und Amtsleiter, die dafür sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger auch auf informellen Wegen beteiligt werden.
Die von Beck angesprochene „Politik“ - auf kommunaler Ebene also Rats- und Ausschussmitglieder, Kreistagsabgeordnete und ähnliche ehrenamtliche Mandatsträger – steht der Bürgerbeteiligung eher skeptisch gegenüber. Das mag daran liegen, dass Kommunalpolitiker bei dem Begriff Bürgerbeteiligung schnell an Bürgerbegehren und Bürgerentscheid denken. Beteiligungsformen also, die die – sowieso schon beschränkten – Einflussmöglichkeiten kommunaler Mandatsträger massiv beeinträchtigen können.
Aber Bürgerbeteiligung ist weit mehr als das Abstimmen über eine politische Sachfrage. Bürgerbeteiligung fängt bei der aktiven, frühzeitigen und verständlichen Information der Bürger an. Sie führt über vielfältige und inklusive Möglichkeiten für die Bürger, Anregungen und Hinweise abzugeben. Sie findet ihren Höhepunkt darin, dass sie Bürgern Räume eröffnet, in denen sie an der Ausgestaltung eines Projekts und der Vorbereitung einer politischen Entscheidung mitwirken können. Nach diesem Verständnis von Bürgerbeteiligung bleibt die Letztentscheidung bei den gewählten Kommunalpolitikern. Bürgerentscheide sind immer nur die Ausnahme.
Und tatsächlich haben zahlreiche Kommunalpolitiker in den letzten Jahren neue Wege beschritten, die Bürger in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen:
In einigen Räten wurden besondere „Ausschüsse für Bürgerbeteiligung“ geschaffen (z.B. in Bonn als „Ausschuss für Bürgerbeteiligung und Lokale Agenda“). Zwar ist Bürgerbeteiligung ein Querschnittsthema, das in allen Fachausschüssen eine Rolle spielen sollte; aber ein übergreifend-koordinierender Blick auf das Thema ist hilfreich (so wie auch der Finanzausschuss den Haushalt für alle Fachbereiche im Blick hat). Grundsätzlich ist die Aufgabe des Bürgerbeteiligungsausschusses, als Sachwalter der Bürgerbeteiligung darauf zu achten, dass die Bürger frühzeitig und gut in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. So wie der Behindertenbeirat darauf achtet, dass die Belange von Menschen mit Behinderungen bei den Beschlüssen des Rates berücksichtigt werden, achtet der Bürgerbeteiligungsausschuss darauf, dass die Möglichkeiten zur Einbindung von Bürgern ausreichend geprüft und genutzt werden. Das muss nicht bedeuten, dass jede Entscheidung mit einem umfangreichen Bürgerbeteiligungsprozess vorbereitet werden muss. Zur Aufgabe des Ausschusses gehört auch die Beratung darüber, ob und wenn ja in welchem Umfang ein solcher Prozess nötig ist. Dazu gehört auch, die möglichen Betroffenheiten der Entscheidung zu diskutieren und denkbare Beteiligungsangebote ins Verhältnis zu den finanziellen Auswirkungen des Beschlusses zu setzen. Zu diesem Zweck können alle Beschlussvorlagen – nicht nur diejenigen, die sich mit Bau- und Planungsprojekten befassen – um eine Klausel zur Beteiligung der Bürger erweitert werden, analog der Klauseln für die finanziellen Auswirkungen von Beschlüssen. Nach Beendigung eines Bürgerbeteiligungsprozesses ist Aufgabe des Ausschusses, die durchgeführten Maßnahmen zu überprüfen und Schlussfolgerungen für zukünftige Projekte zu ziehen.
Für den Bürgerbeteiligungsausschuss brauchen die Fraktionen Fachsprecher. Auch ohne einen gesonderten Ausschuss kann die Funktion des „Sprechers für Bürgerbeteiligung“ geschaffen werden (so z.B. bei der SPD-Fraktion in Kiel). Wünschenswert wäre, wenn der Bürgerbeteiligungssprecher kein Hinterbänkler-Dasein führt, sondern eine herausgehobene Rolle in der Fraktionshierarchie einnimmt.
Damit die Einbindung der Bürger nicht nur zufällig oder nach dem Neigungsprinzip erfolgt, haben sich viele Kommunen „Leitlinien für Bürgerbeteiligung“ gegeben. Darin wird z.B. festgelegt, unter welchen Bedingungen die Bürger einbezogen werden und welche Ressourcen die Kommune für die Beteiligung bereitstellt. In der Regel werden die Leitlinien in trialogischen Prozessen (also gemeinsam von Politik, Verwaltung und Bürgerschaft) erarbeitet (z.B. in Darmstadt). Sie werden von der kommunalen Vertretung beraten und beschlossen. Kommunen, die ihren Leitlinien eine besondere Verbindlichkeit verleihen wollen, geben ihnen die rechtliche Form einer Satzung (z.B. in Heidelberg).
Zu den Leitlinien gehört eine sogenannte Vorhabenliste, die alle aktuellen und zukünftigen Projekte der Kommune auflistet, und dabei benennt, inwieweit jeweils Bürgerbeteiligung stattfinden soll (z.B. in Heilbronn). Diese Vorhabenliste wird von der kommunalen Vertretung beraten und beschlossen und in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Ihre Umsetzung – insbesondere auch die Frage, wie genau die Bürger im konkreten Fall beteiligt werden sollen – wird dann im Ausschuss für Bürgerbeteiligung beraten.
Die Tätigkeit des Bürgerbeteiligungsausschusses bzw. die Umsetzung der Vorhabenliste wird in regelmäßigen Abständen in einem Bürgerbeteiligungsbericht (z.B. in Potsdam) oder einem „Bürgerbeteiligungskataster“ (z.B. im Kreis Marburg-Biedenkopf) dokumentiert. Damit weist die Kommunalpolitik ihre Ernsthaftigkeit mit dem Umgang des Themas Bürgerbeteiligung nach und lernt aus den bisherigen Erfahrungen.
Noch wenig verbreitet sind Aktivitäten von einzelnen Kommunalpolitikern, persönlich dafür Sorge zu tragen, dass sich die Bürger an politischen Entscheidungsprozessen beteiligen. Aber wer kennt die Wahlkreise und die dort wohnenden Menschen besser als Kommunalpolitiker? Sie wissen am ehesten was zu tun ist, um die Menschen zur Teilnahme an Beteiligungsprozessen zu motivieren. Reicht ein Einladungsflugblatt im Briefkasten oder braucht es eine persönliche Ansprache? Bürgerbeteiligungsaffine Kommunalpolitiker rufen die Bürger zur Teilnahme an Beteiligungsprozessen auf, laden sie bei Hausbesuchen zur Teilnahme ein, holen sie persönlich mit dem „Beteiligungstaxi“ ab und bringen sie nach Veranstaltungen wieder nach Hause – alles Aktivitäten, die ihnen aus Wahlkämpfen wohl vertraut sind.
Leider gibt es Bürger und Wähler, die sich auf klassische Weise nicht zur Teilnahme an einem Bürgerbeteiligungsprozess aktivieren lassen. Für sie müssen aufsuchende Formate gewählt werden. Auch hier können einzelne Kommunalpolitiker aktiv werden und sich selbst – unter vorübergehender Aufgabe ihrer eigentlichen Rolle als Entscheidungsträger – als Prozessbegleiter und Moderatoren betätigen. Sie können in die Bürgerhäuser, Kneipen und Kleingärten gehen und die Menschen darüber informieren, was in ihrem Wohnumfeld geplant ist oder welche Entscheidung vorbereitet wird, die sie betrifft. Sie können deren Hinweise und Anregungen aufnehmen, dokumentieren und in den Beteiligungsprozess einspeisen, um das Stimmungsbild aus der Öffentlichkeit zu komplettieren. Vor allem aber können sie ihre Entscheidung noch besser im Interesse ihrer Wählerklientel treffen und damit ihre Rolle als Volksvertreter noch besser wahrnehmen.
Alle diese Vorschläge sind im Einzelnen weder neu noch besonders originell, sie sind aber in ihrer Summe nur in den wenigsten Kommunen Realität. Deshalb sollten sich nicht nur hauptamtliche Verwaltungsmitarbeiter, sondern auch ehrenamtliche Kommunalpolitiker verstärkt mit den Möglichkeiten auseinandersetzen, die ihnen die Bürgerbeteiligung bietet. Sie sind aufgefordert, in den Räten und Kreistagen gemeinsam zu beraten, welche Maßnahmen zur Einbindung der Bürger in ihrer Kommune angemessen sind. Und sie sollten das – wie es die mehr als 30 Leitlinienkommunen in Deutschland vorgemacht haben – mit den Bürgern selbst tun.
Zum Autor:
Dr. Andreas Paust geb. 1961, hat in Duisburg Sozial- und Verwaltungswissenschaften studiert und an der FernUniversität Hagen über Bürgerbegehren und Bürgerentscheid promoviert. Mehr als 20 Jahre war er hauptamtlicher Geschäftsführer von SPD-Ratsfraktionen in verschiedenen deutschen Städten. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich hauptberuflich mit dem Thema Bürgerbeteiligung - als Berater und Moderator bei einem "Partizipationsdienstleister" und als Projektmanager bei der Bertelsmann Stiftung. Er widmet sich dem Kompetenzaufbau, der Qualitätssicherung und der Evaluation von Bürgerbeteiligungsprozessen. Unter der Adresse http://partizipendium.de betreibt er im Internet einen Blog zur Bürgerbeteiligung. Für die KommunalAkademie der Friedrich-Ebert-Stiftung leitet er das Seminar „Vertrauen durch Bürgerbeteiligung!“.
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[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.
Immmer mehr Kommunen beziehen ihre Bürger_innen regelmäßig in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse ein. Reicht die repräsentative Demokratie auf…
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