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Manuel Campos berichtet von seinem Weg aus Portugal nach Deutschland, den Erfahrungen von Migrant:innen in der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren und seinem Engagement in der IG Metall.
Zwischen 1955 und 1973 warb die Bundesrepublik Deutschland Arbeitskräfte aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien an, die umgangssprachlich „Gastarbeiter“ genannt wurden. Die Bundesrepublik wollte mit den Arbeitsmigrant:innen den Wirtschaftsboom aufrechterhalten, insbesondere als durch den Mauerbau 1961 ein Arbeitskräftemangel drohte.
Die Realität der Arbeitsmigrant:innen, die anfangs überwiegend in Sammelunterkünften der Firmen, für die sie arbeiteten, lebten, war gekennzeichnet von alltäglichen Herausforderungen, welche ohne Deutschkenntnisse und ohne staatliche Integrationsunterstützung zu meistern waren. Des Weiteren erfuhren sie Diskriminierung und gesellschaftliche Ausgrenzung. Aufgrund dieser schwierigen Lage entstanden in den 1960er- und 1970er-Jahren die ersten Migrant:innenvereine als Instrumente der Selbsthilfe, die häufig zum wichtigsten Anlaufpunkt wurden, aber aufgrund eigener begrenzter Ressourcen auch mit anderen Organisationen kooperierten.
Neben den Problemen des Alltags war die Situation der Migrant:innen in den Betrieben kompliziert, da ihre Arbeitsplätze meist von monotoner und körperlich schwerer Arbeit bei geringem Lohn gekennzeichnet waren. Das Verhältnis zwischen Arbeitsmigrant:innen und Gewerkschaften war zunächst nicht einfach, da die Gewerkschaften die Anwerbeprozesse kritisch sahen, weil sie unter anderem Lohndumping befürchteten. Sie stimmten dem Anwerbeprozess nur unter der Bedingung des „Inländerprimats“ zu. Demnach sollten die angeworbenen Arbeiter:innen nur Tätigkeiten ausüben, für die es keine deutschen Arbeitskräfte gab.
Gleichwohl haben die Gewerkschaften relativ früh die Notwendigkeit der Integration nichtdeutscher Arbeiter:innen erkannt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) publizierte ab 1961 monatliche Informationsbroschüren in den jeweiligen Sprachen der angeworbenen Arbeitskräfte und der Vorsitzende der IG Metall Otto Brenner forderte auf dem Gewerkschaftstag 1959 die gewerkschaftliche Organisation von Migrant:innen. Anfang der 1960er-Jahre gründete die IG Metall das Referat Ausländischer Arbeitnehmer, welches zunächst mit Max Diamant besetzt und 1973 in eine eigene Abteilung umgewandelt wurde. Von 1994 bis 2003 war Manuel Campos Leiter dieser Abteilung.
Im folgenden Interview spricht er über seine Erfahrungen als Migrant in der Bundesrepublik, über die gewerkschaftliche Organisierung der „Gastarbeiter“ in den 1970er Jahren und die damit verbundenen Herausforderungen.
Manuel Campos kam 1972 aus Portugal nach Deutschland und war ab 1974 langjähriger Mitarbeiter der IG Metall. Dort war er zwischen 1994 und 2003 Leiter der Abteilung Ausländischer Arbeitnehmer. 2003 wurde Campos Sozialattaché für die Bundesrepublik Deutschland in Brasilien und Chile. Anschließend war er zwischen 2008 und 2013 erneut bei der IG Metall in der Abteilung Internationales tätig, davon zwischen 2010 und 2013 in São Paulo, verantwortlich für die Organisation und Begleitung von lateinamerikanischen Unternehmensnetzwerken. Des Weiteren arbeitete er von 1978 bis 1987 als Nachrichtensprecher des ZDF-Programms „Nachbarn in Europa“.
1972 habe ich in Porto (Portugal) mein Studium der Theologie abgeschlossen. Kurz darauf wurde ich auf der Straße von einer Dame angesprochen, die mich einlud, mit ihr in einem guten Restaurant in der Stadt essen zu gehen. Zuerst lehnte ich ab, weil ich sie nicht kannte. Nach einigem Drängen habe ich dann aber aus Neugier zugesagt. Während des Abendessens outete sie sich als ein Spitzel der portugiesischen Staatsschutzpolizei und es stellte sich heraus, dass sie alles über mich bzw. mein Engagement und meine Aktivitäten wusste. Sie riet mir, Portugal so schnell wie möglich zu verlassen, bevor etwas passiere. Die Staatsschutzpolizei hatte mich im Visier. In den Gottesdiensten, die ich damals in Portugal mitorganisiert habe, spielten unsere Musikgruppen mit modernen Instrumenten neue Melodien und gesellschaftskritische Lieder. Das wurde von der portugiesischen Staatsschutzpolizei, die mit Agenten unsere Veranstaltungen kontrollierte, als ein Angriff gegen den Staat gewertet, der damals eng mit der Kirche verbunden gewesen ist. Ich vermute deswegen, dass die Frau, die mich zum Essen eingeladen hat, im Auftrag der Staatsschutzpolizei unsere Gottesdiente beobachtet hat. Die Frau wusste außerdem, dass ich gesellschaftskritische Theaterstücke aufgeführt habe und an Demonstrationen teilnahm. Während des Essens betonte die Agentin, dass sie Sympathien für mich empfand und nicht wollte, dass mir etwas zustoße. Sie riet mir deswegen, das Land zu verlassen.
Bei einem Treffen in Lissabon mit Pater José Cabral, Leiter der portugiesischen katholischen Missionen in Kaiserslautern, Mainz und Wiesbaden, berichtete ich, was geschehen war. Auch er riet mir zur Abreise. Deswegen habe ich mich entschieden, in die Bundesrepublik Deutschland zu flüchten, und organisierte mit ihm meine Zugreise. Am 21. Dezember 1972 kam ich in Kaiserslautern an.
Damals war Portugal eine Diktatur, die seit 1926 bestand und erst mit dem Militärputsch am 25. April 1974 gestürzt wurde.
Wir hatten keinen Frieden. Portugal führte 13 Jahre lang einen Kolonialkrieg an drei Fronten. Viele Portugies:innen starben in den Kolonien: Für nichts! Die Situation war aussichtslos. Wir hatten außerdem keinen sozialen Frieden. Wir konnten nicht demonstrieren. Die Gewerkschaften waren meistens ein von der Regierung gleichgeschalteter Teil des autoritären Staatsapparats. Die Bevölkerung litt unter Hunger. Die Menschen, die in den ländlichen Regionen Portugals lebten, hatten zuhause keinen Zugang zu Wasser und Strom. Es gab kein staatlich geregeltes Gesundheitssystem. Die Kindersterblichkeitsrate in Portugal war eine der höchsten weltweit. Die Bildung war ein weiteres Problem, weswegen ein Großteil der Bevölkerung aus Analphabeten bestand.
Sowohl die Angst vor dem Kolonialkrieg als auch die Sorge, in Armut weiterleben zu müssen, führten dazu, dass viele Portugies:innen mithilfe der Anwerbeverträge die Möglichkeit nutzten, ins Ausland zu gehen und dort neue Möglichkeiten zu ergreifen. Insgesamt handelte es sich dabei um eine „Win-Win-Situation“: einerseits für die Migrant:innen, andererseits für die bundesdeutsche Wirtschaft.
Die staatliche Unterdrückung von politisch Andersdenkenden war sehr weit verbreitet. Sie umfasste praktisch alle Bereiche des Wortes, des Bildes und auch des Gesangs. Sämtliche Sänger:innen wurden von der Geheimpolizei verfolgt und dann an die Zensurkommission weitergeleitet. So wurden sämtliche Lieder und Texte verboten. Auch das Lied Grândola, Vila Morena von José Afonso wurde verboten. Die Zeitungen wurden streng kontrolliert. Sie durften nicht veröffentlicht werden, bevor die Zensurkommission die Texte kontrolliert hat. Zum Teil wurden gesamte Texte gestrichen.
In der Gesellschaft war eine ständige Angst vorhanden. Ich erinnere mich, dass wir uns damals auch in den Cafés vor der Staatsschutzpolizei hüteten und versucht haben, leise zu sprechen – insbesondere, wenn es politische Gespräche waren. Überall gab es Kontrollen.
Der Staat versuchte auch die Migration zu kontrollieren. Bei den Kandidat:innen, die sich bei der Junta da Emigração bewarben, um auszuwandern, gab es nicht nur tiefgehende körperliche Untersuchungen, sondern auch eine politische Kontrolle, um zu verhindern, dass sich Regimekritiker:innen im Ausland gegen die portugiesische Regierungorganisierten.
Anders als die meisten Portugies:innen, die in die Bundesrepublik ausgewandert sind, hatte ich keinen Arbeitsvertrag. Ich bin geflüchtet. Als ich 1972 in Kaiserslautern ankam, arbeitete ich deswegen zuerst in der portugiesischen katholischen Mission in Mainz, wo ich auch täglich mit den Problemen der portugiesischen Migranten konfrontiert wurde. Danach arbeitete ich drei Monate lang bei Opelin Rüsselsheim am Fließband unter sehr harten Bedingungen mit Leuten aus verschiedenen Ländern zusammen, die sich sprachlich gegenseitig kaum verständigen konnten. Für mich war das die härteste Arbeitserfahrung, die ich erlebt habe. Diese Zeit hat mich sehr geprägt. Danach ging ich nach Frankfurt am Main, wo ich an der Volkshochschule Portugiesisch unterrichtete und auch Gitarrenunterricht gab. In dieser Zeit (1974) erfuhr ich, dass die IG Metall eine:n portugiesischsprachige:n Kollegen/Kollegin für die Abteilung Ausländische Arbeitnehmer suchte. Die IG Metall hat mich in den ersten Monaten als Übersetzer und Dolmetscher eingestellt. Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass das für mich zu wenig Arbeit war, weshalb ich mehr Arbeit und die gleiche Stellung wie meine anderen migrantischen Vertreter:innen der Abteilung Ausländische Arbeitnehmer forderte. So erhielt ich dann den Status des politischen Sekretärs, den die anderen auch hatten, was mir unter anderem mehr Verantwortung bei der Aufnahme von neuen Mitgliedern und bei der Überzeugungs- und Bildungsarbeit gab. Später wurde ich dann Leiter dieser Abteilung.
Was die Situation der Migrant:innen angeht, ist zunächst einmal zu sagen, dass sie durch Arbeitsverträge mehr Sicherheit bekamen: Sie wussten, wo sie arbeiten würden, wieviel sie verdienen würden und sie hatten in den meisten Fällen auch eine Unterkunft. Zwar waren die Unterkünfte alles andere als schön, aber sie hatten erstmal eine Art Sicherheit beim Ankommen in der Bundesrepublik. Der Alltag der „Gastarbeiter“ war ansonsten prekär und geprägt von Arbeit, nach Hause gehen und Isolation.
Viele, die sich allein fühlten, baten zuerst Freund:innen und Bekannte aus ihren Dörfern, in die Bundesrepublik zu kommen, da sie auch wussten, dass die Betriebe weitere Arbeitskräfte benötigten. Die Portugies:innen versuchten der Isolation mithilfe der portugiesischen katholischen Missionen entgegenzuwirken. Diese kirchlichen Strukturen, die auch im bilateralen Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und Portugal vorgesehen waren, galten als eine Art Auffangbecken für viele, die sich einsam fühlten. Da viele der aus Portugal angeworbenen Arbeitskräfte katholisch erzogen wurden, stellten die Gemeinden für sie sichere Orte dar. Dort konnten sie auf Portugiesisch beten, auf Portugiesisch singen, auf Portugiesisch reden. In den katholischen Gemeinden bekamen die Arbeitnehmer:innen aus Portugal den ersten sozialen Halt. Eng verbunden mit den portugiesischen katholischen Missionen war auch der Caritasverband, der den portugiesischen Arbeitsmigrant:innen mithilfe seiner Sozialarbeiter:innen Unterstützung anbot, sogar in der Muttersprache.
Nach und nach wurden die Portugies:innen immer unabhängiger und es entstanden die ersten selbstorganisierten Vereine, Kulturzentren, Sportklubs und Tanzgruppen, aber auch portugiesische Cafés, Bars und Restaurants, die ebenfalls die Funktion als Auffangbecken erfüllten.
Obwohl sowohl die portugiesischen katholischen Gemeinden als auch die Vereine und Gastronomiebetriebe einen Portugalbezug hatten und die portugiesischen katholischen Missionen mit dem Diálogo do Emigrante sogar eine Zeitung herausgaben, die sich an die portugiesischen Migrant:innen richtete, waren die Verbindungen der Portugies:innen zu ihrer Heimat in gewisser Weise sehr kurz gehalten, zumal auch die Zeitung anfangs überwiegend religiöse Texte beinhaltete und nur wenige Informationen über die politische Lage in Portugal. Das verbesserte sich später. Der Zugang zu den portugiesischen Nachrichten war nahezu nicht möglich. Deshalb gab es auch die sechssprachige Fernsehsendung „Nachbarn in Europa“ im Zweiten Deutschen Fernsehen, für die ich die Ehre hatte, zwischen 1978 und 1987 als Nachrichtensprecher des portugiesischen Teils mitzuwirken. Diese Sendung zielte darauf ab, den rekrutierten Arbeitskräften sowohl Nachrichten aus ihren Heimatländern als auch Nachrichten aus der Bundesrepublik in ihren jeweiligen Muttersprachen zu vermitteln. Des Weiteren gab die IG Metall eine gewerkschaftliche Zeitung in sechs Sprachen – auch in Portugiesisch – heraus, um die Bindung der Mitglieder an die Gewerkschaft zu stärken.
Die Hauptstütze der portugiesischen Migrant:innen waren jedoch die Vereine und Zentren, die sie selbst gegründet, aufgebaut und geleitet haben – nicht immer professionell, aber es war sozusagen ihre „zweite Heimat“ bzw. „erste Heimat im Ausland“.
Die meisten Zentren und Vereine wurden auf eigene Initiative von den Migrant:innen gegründet, geleitet und getragen. Deutsche Gäst:innen unterstützten die Vereine und Zentren eher indirekt, wenn es große Veranstaltungen und leckeres Essen gab.
Die deutschen Gewerkschaften standen der Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmer:innen anfangs sehr misstrauisch gegenüber. Durch die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer:innen fürchtete man einen Anstieg an Arbeitsplatzkonkurrenz, mehr Lohndruck und Unruhen in den Betrieben. Jedoch wussten die Gewerkschaften auch, dass die bundesdeutsche Wirtschaft die Arbeitsmigrant:innen dringend benötigte. Die Gewerkschaften merkten deshalb schnell, dass es wichtig war, nach vorne zu gehen und die ausländischen Arbeitskräfte gewerkschaftlich zu organisieren, um so eine Konkurrenzbildung zwischen den Beschäftigten zu verhindern und Frieden in den Betrieben zu schaffen.
Bei einem Gewerkschaftstag in Berlin 1959 machte dann der damalige Vorsitzende der IG Metall Otto Brenner eine zukunftsweisende Aussage zur Integration von nichtdeutschen Arbeitnehmer:innen, indem er sich für ihre gewerkschaftliche Organisierung aussprach, um so eine Konkurrenz zwischen deutschen und nichtdeutschen Arbeitnehmer:innen zu verhindern. Durch die gewerkschaftliche Organisierung sollten alle die gleichen Rechte und Pflichten bekommen. Das ist uns sehr gut gelungen, wie auch die ständig steigenden Mitglieder:innenzahlen zeigten.
Im Fall der Portugies:innen gab es kaum Bereitschaft zur gewerkschaftlichen Organisierung. Da in Portugal die Gewerkschaften unter der Kontrolle der Regierung standen, glaubten die portugiesischen Arbeitnehmer:innen auch in der Bundesrepublik nicht an die Interessenvertretung durch die Gewerkschaften. Also bewahrten sie zunächst erst einmal Distanz zur Organisierung. Die meisten von ihnen waren anfangs der Meinung, dass sie keine gewerkschaftliche Organisierung benötigten. Da sich auch die gewerkschaftliche Organisierung von Arbeitskräften aus anderen Ländern als problematisch herausstellte, hatte die IG Metall die Idee, die Arbeitsmigrant:innen auf ihren eigenen Muttersprachen von den Zwecken der Gewerkschaften anzusprechen und zu organisieren. Die IG Metall erkannte früh, dass die Migrant:innen nur über ihre Muttersprachen als Gewerkschaftsmitglieder gewonnen werden konnten.
In der Abteilung Ausländische Arbeitnehmer, die ich als erster Ausländer ab 1994 die Ehre hatte, zu leiten, wurden zuerst fünf ausländische Sekretäre der jeweiligen Hauptanwerbeländer – also Türkei, Jugoslawien, Italien, Griechenland und Spanien – beschäftigt. 1974 hat die IG Metall dann bemerkt, dass es notwendig war, auch die Portugies:innen in ihrer Muttersprache vom Gewerkschaftsbeitritt zu überzeugen. Infolgedessen wollte die IG Metall eine:n portugiesische:n Sekretär:in. So sah ich 1974 die Möglichkeit, mich zu bewerben und wurde angenommen.
Meine Aufgabe bestand darin, die Portugies:innen über die Kommunikation in der portugiesischen Sprache und die Herausgabe einer portugiesischen Zeitung für die IG Metall zu gewinnen. Am Anfang war das eine sehr schwere Aufgabe, weil ich zuerst die Entfremdung der Portugies:innen hier in der Bundesrepublik gegenüber den Gewerkschaften beseitigen musste. Was ebenfalls die gewerkschaftliche Organisierung der portugiesischen Arbeiter:innen erschwerte, war, dass die IG Metall sich unmittelbar nach dem Militärputsch am 25. April 1974 für die Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonien in Afrika aussprach. Viele portugiesische Arbeiter:innen hatten, bevor sie in die Bundesrepublik gekommen sind, in den Kolonien gegen die Befreiungsbewegungen gekämpft und dabei ihr Leben riskiert. Die Forderung der IG Metall nach der Unabhängigkeit der Kolonien ging für viele deshalb am Anfang zu weit. Ich musste oft hart mit den Portugies:innen diskutieren, die den Kolonialismus befürworteten, und sie davon überzeugen, dass die Forderungen der IG Metall nach der Unabhängigkeit der Kolonien in Afrika richtig waren, da die Organisation für die Freiheit und Gleichheit aller Menschen steht. Außerdem musste ich sie generell erst einmal davon überzeugen, dass die IG Metall in der Bundesrepublik die einzige und richtige Organisation war, die sich für ihre Rechte, Gleichbehandlung und gute Bedingungen im Betrieb einsetzte. Außerdem mussten die Migrant:innen auch über die Strukturen der Betriebe aufgeklärt werden, dass es Vertrauensleute und Betriebsrät:innen gab, die von ihnen gewählt werden mussten und, dass diese Betriebsrät:innen für die Vertretung der Interessen der Arbeiter:innen zuständig waren. Unter anderem verteilten wir Flugblätter in verschiedenen Sprachen, damit die Arbeiter:innen über diese Strukturen informiert wurden. Es hat sehr lange gedauert, bis sich die Leute für diese „Integration“ in den Gewerkschaften interessiert haben. Nach und nach haben sie aber bemerkt, dass es zahlreiche Probleme in den Betrieben gab und dass die Gewerkschaften starke Organisationen waren, die sich für ihre Interessen einsetzten.
Damit die gewerkschaftliche Integration der Migrant:innen funktionierte, mussten sie erstmal die deutsche Sprache erlernen. Auch für mich war das eine große Herausforderung. Als ich bei der IG Metall anfing, hatte ich noch Probleme mit der deutschen Sprache. Für mich war aber klar, dass es das Wichtigste war, die Sprache zu erlernen, damit sich für mich die Türen zur deutschen Gesellschaft öffneten. Sicherlich waren auch die sprachlichen Barrieren Gründe dafür, dass viele von uns keine Laufbahn in der Politik starteten. Die Migrant:innen, die damals in der Politik aktiv waren, konnte man an einer Hand abzählen. Die zweiten, dritten und vierten Generationen von Menschen mit Migrationshintergrund haben diese sprachlichen Probleme nicht mehr, da sie bereits in der Bundesrepublik aufgewachsen und hier zur Schule gegangen sind. Ich wünsche mir dennoch, dass Menschen mit Migrationshintergrund, die in der Bundesrepublik leben – vor allem die Portugies:innen – sich in Zukunft mehr für Politik interessieren werden.
Rückblickend war die gewerkschaftliche Einbindung der Arbeitsmigrant:innen in den 1960er- und 1970er-Jahren eine schwierige Aufgabe. Mit viel Engagement haben wir es aber trotzdem geschafft. Heute haben wir auch Portugies:innen, die als Betriebsratsmitglieder und sogar Betriebsratsvorsitzende in den Gewerkschaften aktiv sind. Schon damals haben wir die Portugies:innen als Vertrauensleute und Betriebsrät:innen in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit mit Lehrgängen in portugiesischer Sprache eingebunden, damit sie eine Grundlage über ihre Rechte und Pflichten in den Gewerkschaften, im Betrieb und hier in der Bundesrepublik erhielten. Manchmal fanden die Bildungsseminare und Wochenendlehrgänge der IG Metall auch in migrantischen Zentren und Vereinen statt. Diese wurden sehr gut besucht, zumal wir bei diesen Lehrgängen auch viele gemeinschaftliche Aktivitäten unternommen haben. Auch deutsche Kolleg:innen wollten zu diesen Veranstaltungen kommen, denn wir haben während der Lehrgänge zusammen gegessen, gesungen und auch gemeinsam gefeiert. Uns war es sehr wichtig, für alle die gleichen Rechte innerhalb der gewerkschaftlichen Strukturen zu erlangen. Das heißt: nicht nur gleiche Mitgliedsbeiträge zu zahlen, sondern auch die Möglichkeiten zu bekommen, in die gleichen Gremien gewählt werden zu können und als Gewählte der Gremien auch akzeptiert zu werden. Das war ein langer Prozess. Später wollten wir auch bei Gewerkschaftstagen das Antragsrecht erlangen, damit wir uns nicht immer an die deutschen Kolleg:innen wenden mussten. Das haben wir 1983 geschafft.
Beim Gewerkschaftstag der IG Metall 1992 in Hamburg wurde Yilmaz Karahasan – ein türkischer Kollege – zum ersten ausländischen IG Metall-Vorstandsmitglied gewählt.
Erstens: die gewerkschaftliche Organisierung von Migrant:innen als solche; zweitens: die Gleichbehandlung von Migrant:innen in den Gewerkschaften und in den Betrieben; drittens: die Förderung von Weiterbildungsmöglichkeiten für alle Gewerkschaftsmitglieder; viertens: der gesellschaftliche und sozialpolitische Einsatz, sowie die humanitäre Arbeit der Gewerkschaften für Migrant:innen und Geflüchtete; fünftens: die Förderung der Politisierung aller Arbeitnehmer:innen.
Nélson Pereira Pinto
Lorenzo Annese, Vita da Gastarbeiter. Von Apulien zu VW in Wolfsburg. Die Geschichte des ersten ausländischen Betriebsrats in Deutschland, Bonn 2022.
Bodo Freund, „Portugiesische Cafés in Hamburg: Beginn eines ethnischen Gewerbes?“, in: Teresa Pinheiro, Portugiesische Migrationen. Geschichte, Repräsentationen und Erinnerungskulturen, Wiesbaden 2010, S. 131-150.
Nélson Pereira Pinto, Funktion, Aktivitäten und Einfluss portugiesischer Migrantengruppierungen in Köln, Arbeitspapiere zur Lateinamerikaforschung Nr. II-19, Köln 2020, [Masterarbeit], https://lateinamerika.phil-fak.uni-koeln.de/sites/aspla/pinto.pdf, zuletzt eingesehen am: 13.12.2024.
Nélson Pereira Pinto/Manuel Campos, „Portugiesische Vereine und die Rolle der Gewerkschaften“, in: Albert Scharenberg, Der lange Marsch der Migration. Die Anfänge migrantischer Selbstorganisation im Nachkriegsdeutschland, Berlin 2020, S. 103-124.
Nihat Öztürk/Oliver Trede, „Migrations- und Integrationsarbeit – wie »Gastarbeiter« gleichberechtigte Kolleg*innen wurden“, in: Jörg Hoffmann/Christiane Benner, Geschichte der IG Metall. Zur Entwicklung von Autonomie und Gestaltungskraft, Frankfurt am Main 2019, S. 465-484.
O. A., „Er schlägt nicht nur politische Töne an“, in: Frankfurter Neue Presse, 02.11.2018, https://www.fnp.de/lokales/kreis-gross-gerau/moerfelden-walldorf-ort799239/schlaegt-nicht-politische-toene-10424584.html, zuletzt eingesehen am 13.12.2024.
Roberto Sala, Fremde Worte. Medien für >Gastarbeiter< in der Bundesrepublik im Spannungsfeld von Außen- und Sozialpolitik, Studien zur Historischen Migrationsforschung (SHM) Bd. 22, Paderborn 2011.
Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001.
Die Autorin Gün Tank zeichnet mit ihrem Roman „Die Optimistinnen“ ein anderes Bild der „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik.
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