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Audiokassette HJV 10.11.89

Wann immer alte Audiokassetten auf dem Dachboden oder in einem Kellerkarton zum Vorschein kommen und es sich nicht um kommerziell bespielte MCs handelt, ist die Spannung groß: Was ist da wohl drauf? Der Mitschnitt eines Radiosenders? Ein peinliches Mixtape? Oder die verloren geglaubte Mikrofonaufnahme von Opas Geburtstagsfeier?! Tonbandfunde gehören im Archiv der sozialen Demokratie zum Alltag, doch bisweilen wirkt eine Audiokassette geradezu elektrisierend – erst recht, wenn sie zwischen zwei Papierstapeln von Hans-Jochen Vogel auftaucht und mit ihrer spartanischen Beschriftung "SPD 10.11.89" gewisse Hoffnungen weckt.

Neben dem Depositum Hans-Jochen Vogel, das sein politisches Wirken in Gänze abbildet, finden sich auch die Akten der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) in unseren Beständen.

Weitere spannende Tondokumente aus der Geschichte der SPD bzw. der Arbeiterbewegung insgesamt sind zudem (teilweise online) in unserem Tonarchiv recherchierbar iServer

Nachdem am Abend des 9. November 1989 die Friedliche Revolution in der DDR mit dem Fall der Berliner Mauer ihren Höhepunkt erreicht und die durch Stacheldraht und Todesstreifen betonierte Teilung überwunden hatte, waren unzählige Bürger_innen auf den Beinen und brachten mit ihrer wiedergewonnenen Reisefreiheit so ganz nebenbei auch die Freitagstermine und die Wochenendplanung vieler Politiker_innen durcheinander, die sich nun ebenfalls auf den Weg nach Berlin machten. Auch wenn viele TV-Kameras und Mikrofone den Freudentaumel einfingen und neben allerlei spontanen, chaotischen und berührenden Szenen z.B. auch die abendliche Kundgebung am Schöneberger Rathaus für die Nachwelt konservierten, so sind doch etliche Ereignisse nur noch vom Hörensagen bekannt bzw. allenfalls auf Fotos festgehalten worden und durch keine Ton- oder Filmaufnahme genau dokumentiert.

Am 10. November brachen u.a. Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel nach Berlin auf, um dort an einer Sondersitzung des Abgeordnetenhauses teilzunehmen. Vogel war nicht nur seit mehr als sechs Jahren Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und in seiner Eigenschaft als Oppositionsführer Gegenspieler von Bundeskanzler Helmut Kohl, sondern er hatte Mitte 1987 auch den SPD-Parteivorsitz von Willy Brandt übernommen: In den darauffolgenden Monaten sollte er den Einigungsprozess der sich aufeinander zubewegenden Sozialdemokrat_innen aus Ost und West parallel zur Vereinigung beider deutscher Staaten maßgeblich prägen und künftig die SPD als ihr erster gesamtdeutscher Vorsitzender leiten – unmittelbar nach dem Mauerfall war daran freilich noch nicht zu denken. Dennoch wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um innerhalb weniger Stunden ein Treffen mit Vertretern der ostdeutschen Sozialdemokrat_innen zu verabreden, die erst vier Wochen zuvor unter konspirativen Umständen in Schwante die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) gegründet hatten. Und so fuhren am Abend des 10. November nach der großen Kundgebung mit Brandt, Vogel und Dietrich Stobbe gleich drei ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin durch das Nadelöhr des Grenzübergangs Invalidenstraße hinein in den "Ostsektor".

Was bei diesem ersten Spitzengespräch ost- und westdeutscher Sozialdemokraten in einem Raum des Hotels "Christliches Hospiz" in der Albrechtstraße mit "Ibrahim" Böhme, Martin Gutzeit, Steffen Reiche und anderen verhandelt wurde, war jahrzehntelang nicht genau bekannt. Brandts Büroleiter Klaus-Henning Rosen besaß immerhin einige handschriftliche Notizen, doch selbst in einer nur wenige Jahre später zusammengestellten und im AdsD verwahrten Dokumentation zur Entstehung und Geschichte der SDP/SPD in der DDR klafft für den Abend des 10. November ebenso eine Lücke wie im Willy-Brandt-Archiv, wo lediglich Aufnahmen der zufällig anwesenden Fotografin Barbara Klemm liegen; auch Vogel und Stobbe konnten sich in der Rückschau jeweils nur auf ihre Erinnerungen stützen.

Kaum hatte sich zu Beginn der ans Tageslicht und in ein Abspielgerät beförderten "SPD 10.11.89"-Audiokassette Hans-Jochen Vogel für die eigene Unpünktlichkeit infolge der zu langen Kundgebung und der Verzögerungen an der Grenze entschuldigt, stand im Archiv fest, dass eine ganz besondere Momentaufnahme aus der Anfangszeit der Annäherung der ost- und westdeutschen Sozialdemokratie endlich aufgetaucht war. Dass es dieses Gespräch überhaupt als Klangkonserve gab, ist übrigens keinem Lauschangriff der Stasi (die in Gestalt des Inoffiziellen Mitarbeiters Böhme mit am Tisch saß), sondern vielmehr dem damaligen SPD-Pressesprecher Eduard Heußen zu verdanken. Dies und vieles mehr klärte sich im Zuge von Recherchen der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung für ein dem 10. November 1989 gewidmetes Heft in ihrer Schriftenreihe, das eine vom Mitschnitt angefertigte Transkription in Gänze präsentiert. Zudem steht der digitalisierte Tonträger online zur Verfügung, so dass jeder Mäuschen spielen und hören kann, wie sich führende Sozialdemokraten aus Ost und West erstmals auf Augenhöhe miteinander austauschten.

Zwar stand Berlin im November 1989 im medialen Fokus der Weltöffentlichkeit und es wurde vieles aufgenommen, doch Fragezeichen bleiben und einige Ereignisse dieser Tage geben nach wie vor Rätsel auf. So gilt z.B. das bei Brandts Rückkehr am Grenzübergang Invalidenstraße geführte und wohl auch gesendete Radiointerview mit dem jungen SWF3-Journalisten Frank Plasberg als verschollen. In mehreren Archiven wurde gesucht – bislang vergebens. Aber wer weiß: Vielleicht befindet sich des Rätsels Lösung gar nicht in einem Archiv, sondern in irgendeinem Privathaushalt auf einer alten Audiokassette in einem Kellerkarton oder auf dem Dachboden ...?

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Das Tonband online zum Nachhören

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Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung

„... auf ʼne gute Zukunft für die soziale Demokratie ...“

Das Treffen von Hans-Jochen Vogel und Willy Brandt mit führenden Vertretern der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) am 10. November 1989 in Ost-Berlin.
 

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