"Raus aus den Gewerkschaftsghettos, rein ins Leben" - Die ver.di-Gründung

„Zentralverband der in der Blumen-, Blätter-, Palmen- und Putzfederfabrikation beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands“ – so lautete der Name einer 1903 entstandenen Gewerkschaft, die sich dann 1913 dem „Verband der Fabrikarbeiter Deutschlands“ anschloss. Der Name zeigt auf, dass das deutsche Gewerkschaftswesen nach Ende des Sozialistengesetzes 1890 ein Abbild der ausdifferenzierten Berufswelt jener Zeit war.

Die Archivalien von Deutscher Angestelltengewerkschaft (DAG), Deutscher Postgewerkschaft (DPG), Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), IG Medien und Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV) finden sich im Archiv der sozialen Demokratie. Auch die Bestände vieler anderer nicht länger existierender Gewerkschaften (z.B. die Gewerkschaft Kunst, die Gewerkschaft Textil-Bekleidung oder die Gewerkschaft Holz und Kunststoff) stehen für die Forschung im AdsD zur Verfügung.

Die immer stärker werdende Konzentration gewerkschaftlicher Organisation - insbesondere zwischen 1890 und 1933 - ist nicht nur für das deutsche Gewerkschaftswesen typisch. Auch in anderen Ländern (z.B. Großbritannien und USA) erfolgte durch Zusammen- und Anschlüsse das immer stärkere Zusammenwachsen der organisierten Arbeiterschaft. Ende der 20er-Jahre waren in den freien Gewerkschaften des Deutschen Reiches ca. 5,5 Millionen Mitglieder in 56 Einzelgewerkschaften organisiert. Hinzu kamen noch ca. 1,3 Millionen christliche Gewerkschafter in 44 Verbänden, sowie fast 0,6 Millionen Mitglieder Hirsch-Dunckerscher Gewerkvereine in 31 Verbänden.

Die Erfahrung, dass sich diese Zersplitterung des Gewerkschaftswesens 1933 negativ auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus ausgewirkt hatte, sowie die stärkere Zusammenfassung von Berufsbereichen in der Wirtschaft der Nachkriegsjahre führte nach 1945 auch zu einer stärkeren Bündelung gewerkschaftlicher Strukturen. Dieser Prozess folgte dem Gedanken, die neue deutsche Gewerkschaftsbewegung einheitsgewerkschaftlich zu organisieren. Unterschiedliche Ordnungsvorstellungen der Besatzungsmächte in ihren Gebieten führten aber dazu, dass zwischen 1945 und 1949 kein so einheitlicher Aufbau stattfand, wie es möglich gewesen wäre. Hinzu kam, dass es – neben dem vereinzelten Wunsch, das Gewerkschaftswesen wieder weltanschaulich zu gestalten – auch Willenserklärungen gab, bestimmte Berufsgruppen über die Grenzen der Industriesparten hinweg gewerkschaftlich zu organisieren. Besonders deutlich wurde dies im Streit darüber, ob sich die Angestellten einzelgewerkschaftlich selbständig im Rahmen der Einheitsgewerkschaft organisieren sollten. Letztlich führte dies zur Gründung der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), die außerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) blieb. Die Industriegewerkschaft Druck und Papier, die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), die Gewerkschaft Kunst, die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) oder die Deutsche Postgewerkschaft (DPG), die zu den 16 Gründungsgewerkschaften des DGB gehörten und im Verlaufe der nächsten Jahrzehnte durch Fusion untereinander oder Beitritt zu anderen Gewerkschaften ihre Gestalt wandelten, waren Einzelgewerkschaften mit einem hohen Anteil an Angestellten in ihrer Mitgliedschaft.

Die deutsche Wiedervereinigung 1990 erforderte die Umgestaltung staatlicher, wirtschaftlicher und kultureller Verfasstheit. Auch im gewerkschaftlichen Bereich wurde eine organisatorische Transformation unumgänglich, die sich u.a. in der Erweiterung der Gewerkschaftsstrukturen in die neuen Bundesländer widerspiegelte. In den 90er-Jahren machten gleichzeitig Vorschläge die Runde, den gewerkschaftlichen Konzentrationsprozess voranzutreiben: 1992 fanden beispielsweise Gespräche zwischen DAG und Deutschem Beamtenbund (DBB) über eine mögliche Kooperation statt, 1996 schlug der Vorsitzende der IG Metall vor, die Anzahl der Einzelgewerkschaften auf 5 Organisationen zu begrenzen.

Im Oktober 1997 kamen die Vorsitzenden der Gewerkschaften DAG, DPG, HBV, IG Medien, ÖTV und GEW in Hamburg zusammen und verabschiedeten eine „Gemeinsame Erklärung“, in der sie sich für einen Prozess der Neustrukturierung "gewerkschaftlicher Interessenvertretung im privaten und öffentlichen Dienstleistungsbereich und der dienstleistungsnahen Industrie" aussprachen. Es folgte ein jahrelanger Prozess, in dem teilweise hart in Fragen der Organisationsstrukturen und programmatischen wie tarifpolitischen Positionen gerungen wurde. Die zeitweise mit beratenden Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) verließen im Verlaufe der Zeit die Gespräche wieder. Im März 2001 entschieden schließlich die Delegierten der DAG, DPG, HBV, IG Medien und ÖTV auf eigenständigen "Verschmelzungskongressen" ihre Organisationen aufzulösen und sich in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) zu vereinen. Vom 19. bis 21. März 2001 fand in Berlin der Gründungskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) statt. Nach Gründung der neuen Dienstleistungsgewerkschaft am 19. März 2001 wählten an den Folgetagen 1.009 Delegierte mit 95,9 Prozent den ersten ver.di-Bundesvorstand. Im April und Mai 2001 folgte dann die Konstituierung der Landesbezirke und anderer regionaler Gliederungen der neuen Gewerkschaft.

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