„Mein Opferwille ist zwar noch da, nicht aber das Geld“ – Die Geschichte der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP)

In einem Schriftwechsel zwischen (späteren) Bundespräsidenten erwartet wohl kaum jemand die Bitte um Kostenerstattung verbunden mit dem kämpferischen Satz „Mein Opferwille ist zwar noch da, nicht aber das Geld“.

Das gezeigte Objekt ist somit nicht nur ein Beispiel für zahlreiche Korrespondenzen bedeutender Politiker_innen in Nachlässen und Deposita unseres Hauses, es ist auch ein Beleg für die altbekannte Weisheit „Man sieht sich immer zweimal im Leben“.

Über das Leben und Wirken der beiden Korrespondenzpartner  - Gustav Heinemann auf Seiten des GVP-Vorstandes, Johannes Rau als Kreis- und Ortsvereinsvorsitzender – ist einiges bekannt. Über ihre erste „Wirkstätte“ hingegen, die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP), wird selten berichtet. Grund genug, deren Geschichte einmal genauer zu beleuchten:

Das ausgewählte Dokument entstammt dem Nachlass Gustav Heinemann im AdsD (NL Gustav Heinemann Teil 2, Mappe 0692). Viele weitere Nachlässe führender Politiker_innen – u.a. von Johannes Rau - können Sie in unserem iServer recherchieren.

Welchen Platz hat die GVP in der Erinnerungskultur der Deutschen? Die Partei wurde nie in den Deutschen Bundestag gewählt und 1957, nur fünf Jahre nach ihrer Gründung, wieder aufgelöst. Die programmatische Ausrichtung der Partei und deren Mitglieder sind jedoch eng verwoben mit der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte.

Eine der großen Kontroversen in der noch jungen Bundesrepublik war die Frage der Wiederbewaffnung. Bundeskanzler Konrad Adenauer sah in der Aufstellung einer eigenen Armee eine Möglichkeit, die deutsche Souveränität wiederzuerlangen. Nach mehrjährigen Verhandlungen mit den Alliierten wurde 1955 – auch aus Sorge vor neuen militärischen Konflikten im Kalten Krieg – die Bundeswehr gegründet und die Bundesrepublik trat der  NATO bei.

Innenpolitisch war der Weg Adenauers hoch umstritten. Gustav Heinemann trat 1950 von seinem Amt als Innenminister zurück, unmittelbar nachdem Adenauer das Kabinett über bereits begonnene Geheimverhandlungen mit den USA unterrichtet hatte. Heinemann war der Meinung, dass eine Wiederbewaffnung nicht die erhoffte Souveränität und politische Entspannung herbeiführen würde, sondern eine Aufrüstung vielmehr die Eskalation des Ost-West-Konflikts und eine noch tiefere deutsch-deutsche Spaltung zur Folge hätte.

Gustav Heinemann schied aus der Regierung aus und gründete Ende 1951 mit Diether Posser, Helene Wessel und anderen die „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“. Ein Jahr darauf war man zu dem Entschluss gekommen, dass man politischen Einfluss nur als Partei gewinnen könne. Aus der „Notgemeinschaft“ entstand die Gesamtdeutsche Volkspartei. Deren Mitglieder kamen wie Heinemann eher aus dem bürgerlich-kirchlichen Milieu, die anfangs auch zur SPD eine gewisse Distanz pflegten. Viele waren vor 1945 bereits in der Bekennenden Kirche aktiv. Erhard Eppler und Johannes Rau sammelten in der GVP ihre ersten politischen Erfahrungen. Hiervon zeugt auch das gezeigte Schreiben Raus an das Präsidium der GVP vom 31. Mai 1955.

Die GVP trat für eine konsequente Neutralitätspolitik mit dem Ziel der deutschen Wiedervereinigung ein. Einige Bundestagsabgeordnete, hierunter Helene Wessel, traten aus ihren Parteien (CSU, Zentrum) aus und vertraten als fraktionslose Abgeordnete fortan die GVP im Bundestag. Doch bereits bei den kommenden Bundestagswahlen machte sich Ernüchterung breit. Die GVP erreichte bundesweit nur rund 1% der Erst- und Zweitstimmen, womit ihr der Einzug in den Bundestag aufgrund der Fünf-Prozent-Hürde verwehrt war. Da seinerzeit noch keine direkte staatliche Wahlkampfkostenerstattung existierte, offenbarte sich ein weiteres Problem für die junge Partei. Ohne nennenswerte Spenden oder Mitgliederzuwächse war die Partei in ihrer Existenz gefährdet. Der Bundestagswahlkampf 1953 hatte für die GVP Kosten von mehreren Tausend Mark verursacht, die noch abzutragen waren. Der SPIEGEL zitierte Heinemann mit den Worten: „Wir bleiben beieinander, auflösen kann man später immer noch…“.

Bei den anschließenden Wahlen 1957 suchte man die Nähe zur SPD. Nicht erst mit dem Godesberger Programm, sondern spätestens nach der verlorenen Wahl von 1953 hatte diese sich selbstkritisch mit ihrer eigenen Programmatik auseinandergesetzt. Man betonte die Entwicklung von der Arbeiter- zur Volkspartei und dass das Christentum eine Wurzel sozialistischer Ideen sei. Eine gemeinsame Liste mit GVP-Kandidaten schloss die SPD jedoch aus. Nach Verhandlungen mit Erich Ollenhauer schlug Heinemann der GVP Anfang 1957 ihre Auflösung und den Beitritt in die SPD vor.

Die GVP ist heute weithin unbekannt. Deren ehemalige Mitglieder jedoch sind nicht in Vergessenheit geraten, haben sie doch die Sozialdemokratie politisch und intellektuell entscheidend mitgeprägt. Die zwei ersten deutschen sozialdemokratischen Bundespräsidenten, Heinemann und Rau, entstammen ihr. Rau war Ministerpräsident, Kanzlerkandidat und kommissarischer Parteivorsitzender. Eppler wurde Landesvorsitzender und Bundesminister. Jeder prägte auf seine Weise den programmatischen Diskurs der Sozialdemokratie, gab der Anti-Atomkraft und Friedensbewegung eine Stimme oder diente dem oftmals schwierigen Interessensausgleich in der Partei.      

Ob Rau und Heinemann aber 1955 schon geahnt haben, dass sich ihre Wege auch außerhalb von Unkostenrückzahlungen als führende Sozialdemokraten und sogar Bundespräsidenten noch manches Mal kreuzen würden, ist nicht bekannt.

Holger Kozanowski

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