Wer wird was in der Großen Koalition?

Wer wird was? Stehen nach einer Wahl Koalitionsverhandlungen für eine Regierungsbildung an, interessiert sich die Öffentlichkeit für die Verteilung von Ressorts und Zuständigkeiten ganz besonders. Ein Besetzungspoker lässt sich aus zeitgenössischen Spekulationen und Hintergrundinformationen in Zeitungsartikeln zwar ansatzweise rekonstruieren, doch wer einen unverstellten Blick hinter die Kulissen werfen möchte, kommt an Nachlässen beteiligter Politiker_innen nicht vorbei.

Nachdem im Spätherbst 1966 die von Ludwig Erhard - als Wirtschafts(wunder)minister legendär, als Bundeskanzler ohne Fortune - geführte Bundesregierung im Streit um Steuererhöhungen von den Ministern der FDP verlassen worden ist, verhandeln im November in einer eigens gebildeten und überwiegend mit Fürsprechern einer Großen Koalition besetzten Kommission der SPD neben Willy Brandt, Alex Möller und Karl Schiller vor allem Herbert Wehner und Helmut Schmidt sowohl mit CDU und CSU als auch mit der FDP. Da ein Regierungsbündnis zwischen Sozialdemokraten und Liberalen im Parlament nur über eine hauchdünne Mehrheit verfügt und in beiden Parteien noch auf zu viel Skepsis stößt, steuert die SPD nach Sitzungen ihrer Führungsgremien am 26./27. November in die erste Große Koalition mit CDU und CSU: Als der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger und die Regierungsmitglieder am 1. Dezember gewählt und ernannt werden, wechselt die SPD erstmals in der Geschichte der immerhin schon 20 Jahre alten Bundesrepublik Deutschland von der Opposition auf die Regierungsbank.

 

Um die Verhandlungen mit all ihren gemeinsamen und gegensätzlichen Positionen und auch die innerparteilichen Beratungen in der zweiten Novemberhälfte 1966 nachzuvollziehen, kommen im Archiv der sozialen Demokratie mehrere Bestände in Frage, z.B. das Helmut-Schmidt-Archiv, das Herbert-Wehner-Archiv und das Willy-Brandt-Archiv, außerdem die Organisationsakten des SPD-Parteivorstands und der SPD-Bundestagsfraktion.

Zwischen seitenlangen Vermerken, Aufzeichnungen und handschriftlichen Notizen, die den Annäherungsprozess auf allen inhaltlichen Ebenen präzise nachzeichnen, finden sich in Helmut Schmidts Akte zu den Koalitionsverhandlungen auch schnell dahingeworfene, bisweilen kryptisch anmutende Notizen und Listen. Eine solche Liste wurde von ihm offenkundig zeitnah zu den abschließenden Verhandlungen erstellt, die ab dem 28. November die Große Koalition in trockene Tücher brachten. Bei näherem Hinsehen zeigen sich übereinandergeschichtete Momentaufnahmen - ein typisches zeitgeschichtliches Dokument aus einem Politikernachlass, das politische Entscheidungsprozesse in einer Weise veranschaulicht, wie es in staatlicher Überlieferung seltener anzutreffen ist.

Das Blatt, welches sich zwischen einigen ohnehin nicht chronologisch abgelegten Papieren befindet, trägt kein Datum. Eine kriminalistische Untersuchung vermeintlicher Nebensächlichkeiten des Papiers fördert z.B. bei Wasserzeichen und Falzlinien keine verwertbaren Indizien zu Tage - auch nicht auf der Rückseite, die lediglich den ersten Ansatz einer zu schmal bemessenen, sofort aufgegebenen Tabelle sowie Spuren eines Klebestreifens aufweist. Helfen könnten allenfalls noch geisterhafte, fast unsichtbare Notizen, die sich bei Schmidt gelegentlich von einem anderen, mit energisch geführtem Kugelschreiber beschrifteten Blatt auf das darunter befindliche Papier durchzudrücken pflegten, aber dies ist hier leider nicht der Fall.

Auch wenn - abgesehen von drei späteren Korrekturen mit grünem Kugelschreiber - nicht klar ist, wann genau was gestrichen und hinzugefügt wurde, so ist doch immerhin anzunehmen, dass zu Beginn der Tabelle bereits feststand, welche Ministerien die CDU/CSU einerseits und die SPD andererseits erhalten würden - die vereinbarte Koalitionsarithmetik der paritätischen Aufteilung wurde noch verfeinert, indem manche Minister durch (in der Liste mit einem Kreuz gekennzeichnete) Parlamentarische Staatssekretäre bzw. Staatsminister unterstützt wurden. Seitens der CDU/CSU war die Besetzung der meisten Ministerposten klar, denn Schmidt hat die Ressorts mitsamt den Namen in einem Rutsch runtergeschrieben (und dabei vermutlich ausgerechnet Franz Josef Strauß zunächst vergessen) - im Gegensatz zur SPD-Spalte, wo wohl zunächst öffnende und schließende Klammern Leerstellen umschlossen, die es noch zu füllen galt. Später musste der eine oder andere längere Name in kleiner Schrift hineingezwängt werden. Bei CDU und CSU erfolgten nur bei zwei Posten Änderungen - bemerkenswert und zugleich kurios: im Bundesvertriebenenministerium galt der bisherige Minister Gradl als Kandidat gesetzt, als Ersatz stand die Option einer "Frau" im Raum - doch am Ende wurde es ein anderer, männlicher, Kandidat.

 

Was bei der SPD und dort vor allem beim Verkehrsministerium vor sich ging, scheint Schmidts Notizen zufolge Züge einer Schachpartie mit Personalrochaden getragen zu haben. Holger Börner war offensichtlich als Verkehrsminister im Rennen, wurde aber in diesem Ministerium Parlamentarischer Staatssekretär von Georg Leber. Für Helmut Schmidt, der in der Koalitionskommission vornehmlich in Fragen der Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik verhandelte, war das der CDU/CSU überlassene Verteidigungsministerium nicht zu erreichen. Liest man die in der rechten Hälfte der SPD-Spalte eingeklammerten Namen durchweg als Kandidaten für die parlamentarischen Staatssekretäre, so war im Personalwirrwarr um das Verkehrsministerium auch Helmut Schmidt kurzzeitig im Gespräch - sah er sich zwischenzeitig wirklich als Parlamentarischer Staatssekretär? Oder doch als Minister? Warum er davon Abstand nahm und statt dessen den vakant gewordenen Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion von Fritz Erler übernahm, geht allein aus dieser einen Liste natürlich nicht hervor. Auch andere Entwicklungen spiegeln sich in dieser Liste nicht wider, weil sie bereits abgeschlossen waren: so ist von Willy Brandt andernorts überliefert, dass er ursprünglich entweder das Bundesministerium für Gesundheitswesen oder jenes für wissenschaftliche Forschung favorisiert hatte - und erst in den letzten entscheidenden Tagen mit seinen Genossen darin übereinkam, dass die ihm (als SPD-Parteivorsitzender und zweimaliger Kanzlerkandidat) sichere Funktion des Vizekanzlers mit dem wichtigsten Ministerium im Auswärtigen Amt zu verknüpfen sei.

In derselben Mappe des Helmut-Schmidt-Archivs zu den Koalitionsverhandlungen haben sich zwei weitere Namenslisten erhalten. Eine Liste mit für Regierungsämter geeigneten "SPD-Ministrablen" ist von eindeutig mit dem 26.11. datierten Dokumenten umgeben. Eine zweite, beileibe nicht deckungsgleiche Namensliste mit SPD-Politiker_innen wurde von Schmidt auf der Rückseite einer Pressemitteilung vom 28.11. erstellt, lässt aber kaum erkennen, wozu sie diente. In einer dritten Liste bilanzierte Schmidt rückblickend, was bei der Verteilung der Ministerien „hätte erreicht werden müssen und können“.

 

Und damit nicht genug: Im Willy-Brandt-Archiv des AdsD findet sich nicht nur aus einer früheren Phase der Ressortverteilung ein nicht namentlich gezeichneter Vermerk (dessen Handschrift an Gustav Heinemann denken lässt), der etliche Entscheidungen und offene Fragen hinsichtlich des Postengerangels klar benennt, sondern auch eine von Helmut Schmidt in grüner Kugelschreibertinte verfasste Liste der CDU/CSU-Ressorts mit Namen, die aufgrund fast vollständiger Übereinstimmungen unmittelbar vor der größeren Namensliste entstanden sein dürfte. Da es sich hierbei um die Rückseite eines Pressespiegels vom 30. November handelt, werden wohl beide Namenslisten am 30. November erstellt worden sein, also am Tag vor der Wahl, der Vereidigung und der Ernennung des neuen Bundeskanzlers und seiner Minister bzw. einer einzigen Ministerin, Käthe Strobel, in den Reihen der SPD.

 

So ist unser #AdsD50-Objekt dieser Woche weniger ein Schlüsseldokument, sondern vielmehr ein einzelnes Teil in einem multiperspektivischen Puzzle, zu dem viele weitere Archivalien passen - sei es, dass diese in derselben Mappe bzw. in demselben Bestand liegen, oder dass sie in anderen Beständen des Archivs der sozialen Demokratie und in anderen Archiven (in Helmut Schmidts Privatarchiv in Hamburg-Langenhorn (unterhalten von der Helmut-und-Loki-Schmidt-Stiftung und der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung), in weiteren Archiven der Politischen Stiftungen (Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), Archiv für Christlich-Soziale Politik (ACSP) und Archiv des Liberalismus (ADL)) sowie im Bundesarchiv) verwahrt werden. Ein Gesamtbild wird sich immer dann am genauesten zusammensetzen lassen, wenn möglichst viele Fragmente des Puzzles erhalten geblieben und frei zugänglich sind.

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