In der Gegenüberstellung von Foto und Plakat erweist sich der unschätzbare Wert eines Originals. Mehr noch: Historische Quellen, die zu treuen Händen ins Archiv gegeben worden sind, um dort sicher verwahrt zu werden, vermögen präzise Auskunft über die Entstehung des Fotos zu geben. Da selbst der Fotograf sich nicht mehr sicher war, wo genau Willy Brandt zur Mandoline griff, existierten zur Frage nach dem genauen Ort der Aufnahme praktisch so viele Antworten wie Rastplätze auf der Wanderroute von Bielefeld-Sparrenburg nach Bad Meinberg. So ruhte Willy Brandt im zeitlosen Jeanshemd vor zeitlosem Coca-Cola-Sonnenschirm nicht nur tiefenentspannt in sich, sondern er wirkte auch im geografischen Sinne sphärisch entrückt, was der Mythisierung des Motivs ebenfalls Vorschub leistete. Und doch lässt sich mithilfe von im AdsD aufzuspürenden Dokumenten der einzig wahre Schauplatz ermitteln.
Zunächst zum Datum: Das scheinbar zeitlose Motiv entstand am 17. Juli 1976. Henning von Borstell hat Brandt in genau demselben Hemd (das er in der Backofenhitze nur einmal getragen haben dürfte) mit einem Kordillerenadler auf einem Falknerhandschuh fotografiert, was auf dem im Willy-Brandt-Archiv liegenden Zeitplan der Wanderroute zur Adlerwarte Berlebeck am Abend des 17. Juli passt.
Mag von Borstell auch nur ein einziges Foto gemacht haben, so wurde Brandt zugleich von weiteren Kameraobjektiven umschwirrt. Derzeit gehören acht Motive zur im wahrsten Sinne des Wortes multiperspektivischen Überlieferung des Mandolinen-Moments. Die verschiedenen Aufnahmen aus nicht immer optimal gewähltem Blickwinkel erzielen jeweils eine andere Wirkung und können hier leider nicht alle gezeigt werden, aber zwei Motive eines unbekannten Fotografen befinden sich in der Fotosammlung des AdsD.
Auf dem Abzug dieser Fotografie ist rückseitig eine mit dem 17. Juli 1976 datierte Widmung der Gewerkschafterin und SPD-Politikerin Hilde Junker-Seeliger angebracht ("Das war ein schöner Tag – für meine Mandoline und mich. Dankeschön!"), mit der sie nicht nur Genosse Willy, sondern auch der Nachwelt als Leihgeberin der Mandoline in Erinnerung blieb. Diese Widmung sichert wiederum den entscheidenden Hinweis auf den Ort ab, der sich in einem einzigen Zeitungsartikel inmitten der riesigen Sammlung Personalia des AdsD (eine nach Personen und chronologisch geordnete Pressedokumentation u.a. aus dem SPD-Pressearchiv) verbirgt: "Am zweiten Tag mittags lässt sich Brandt im Gasthaus 'Forstfrieden' von der Vorsitzenden des WDR-Rundfunkrates, Hilde Junker-Seeliger, die mitgeführte Mandoline reichen und testet seine Kenntnisse auf dem Instrument." (Eberhard Nitschke: Brandt wandert mit Mandoline und Spazierstock durchs Land, in: DIE WELT, 19.07.1976) Tatsächlich stand das Restaurant "Forstfrieden" für den 17. Juli um 13 Uhr auf dem Programm der Wanderroute – wenige Stunden vor dem Aufstieg zum Hermannsdenkmal und dem Besuch der Adlerwarte. Auf der Terrasse dieses Lokals im Naturschutzgebiet Donoper Teich nahm die Ikone ihren Anfang.
Auf dem anderen, nur wenige Sekunden zuvor aufgenommenen Schnappschuss greift sich Henning von Borstell just in diesem Augenblick seine Kamera. Hier ist noch etwas mehr vom Umfeld der Terrasse zu erkennen. Wer im Internet nach aktuellen Bildern des Restaurants "Forstfrieden" fahndet oder sich vor Ort auf die Suche begibt, wird trotz sichtbarer Renovierungen genau diese Ecke finden.
Weitere Details kommen in der Sammlung Personalia des AdsD ans Tageslicht, wann immer Journalist_innen übereinstimmend beobachteten, wie Willy Brandts Wandervergnügen bisweilen auf der Strecke blieb. Die brüllende Hitze mit bis zu 34 Grad im Schatten machte ihm nichts aus, doch geschah Unvorhergesehenes, konnte er grantig werden: Dass er beim Anblick von Müllhaufen am Wegesrand über die "Wiedereinführung einer leichten Prügelstrafe" sinnierte, mag ebenso irritieren wie die Aktion zweier nicht zum Lehramt zugelassenen DKP-Anhänger_innen, die gleich am ersten Vormittag Brandts Frühstück für eine Demonstration gegen den Radikalenerlass instrumentalisierten, bis dieser mit in den Zeitungen nicht identisch überlieferten Reaktionen ("Ich bin doch nicht der Anwalt für irgendeinen Krimskram", "Ich bin hier kein Hanswurst für alle möglichen Leute" und "Ihr könnt mich mal im Mondschein besuchen") haarscharf am Götz-Zitat vorbeischrammte und hastig zur Wanderung aufbrach.
Wer das in unmittelbarer Nähe zum martialischen Hermannsdenkmal entstandene, umso friedlicher und melancholischer wirkende "Willy Brandt mit Mandoline"-Poster zum ästhetisch verdichteten Schlüsselbild der guten alten Sozialdemokratie auflädt, möchte all diese Details vielleicht gar nicht so genau wissen. Dennoch oder gerade deswegen ist auch in diesem Fall eine exakte historische Einordnung mittels originaler, authentischer Quellen im Archiv so wichtig.