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Mit Gott?! - Mit Bebel!!!

Neben einer Reihe von Druckerzeugnissen stellte die Fa. Wilhelm Ruhfus in Dortmund Geschäftsbücher her. Das hier gezeigte Geschäftsbuch zeigt nach einer ganzseitigen Druckgraphik die stilisierte Ansicht der Druckerei. Es folgt auf der nächsten Seite der Eindruck „Mit Gott“. So wurde das blanko Geschäftsbuch kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert ausgeliefert und vom Hafenarbeiterverband erworben. Ein Gewerkschafter hat diesen Vordruck energisch durchgestrichen und handschriftlich durch den Eintrag „Mit Bebel“ ersetzt. Der Eintrag wurde mit drei Ausrufezeichen versehen und das Buch wieder zugeklappt, so dass sich auf der gegenüberliegenden Seite die noch feuchte Tinte niederschlug.

Wir sehen, dass es schon vor dem Schreiben von E-Mails und der Kommunikation in Social Media  die Häufung von Ausrufezeichen gab, um einem Text eine besondere Emotionalität und Wichtigkeit zu geben und sich über die Sprache hinaus an den Leser/ die Leserin zu wenden. Zum Ausrufezeichen schreibt der Duden: „Das Ausrufezeichen verleiht dem Vorangehenden einen besonderen Nachdruck.“ Das Protokollbuch eines Verbandes ist kein beliebiges Schriftstück, es dokumentiert vielmehr das Verbandshandeln und die geführten Diskussionen für die nachfolgenden Generationen.
Auch die vorliegenden Protokolle wurden, wie der genannte Eintrag, handschriftlich verfasst.

Offenkundig wird das enge Verhältnis zwischen den Freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dieser weitaus größte Zweig der deutschen Gewerkschaftsbewegung war eindeutig sozialdemokratisch orientiert. Sie bilden zusammen die beiden großen Säulen der Arbeiterbewegung.

August Bebel (1840-1913), Drechslermeister, war Mitbegründer und der langjährige, charismatische Vorsitzende der SPD im Kaiserreich (1892-1913, zusammen mit Paul Singer zw. Hugo Haase). Er war neben Wilhelm Liebknecht (1826-1900) der bedeutendste Arbeiterführer im 19. Jahrhundert. Der „Arbeiterkaiser“ Bebel galt als brillanter Redner und vertrat über Jahrzehnte die SPD im Reichstag (Mitglied des Reichstages 1871-1913, mit kurzer Unterbrechung). Er war mehrfach viele Jahre Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Hamburg,  zuletzt von 1898 bis zu seinem Tod 1913.
Die handschriftliche Veränderung von „Mit Gott“ zu „Mit Bebel“ weißt einerseits auf die geradezu kultische Verehrung von Bebel in der Arbeiterbewegung hin, zum zweiten lenkt sie unseren Blick auf das Verhältnis von Sozialdemokratie und Religion, von SPD und Kirche im deutschen Kaiserreich.

Bebel umreißt seine Weltanschauung und Zukunftserwartung in einer Reichstagsdebatte wie folgt: “… die Folge wird sein, dass auf politischem Gebiete der Republikanismus, auf ökonomischen Gebiete der Sozialismus und auf dem Gebiete, was wir jetzt das religiöse nennen, der Atheismus ihre volle Wirksamkeit ausüben.“ Für ihn waren Christentum und Sozialismus sich ausschließende Gegensätze wie Feuer und Wasser. Durch die Religion werde „die Menschheit in der Knechtschaft und Unterdrückung gehalten“ und sie werde „als vornehmstes Werkzeug politischer und sozialer Ausbeutung benutzt“. Er forderte eine strikte Trennung von Kirche und Staat, besonders im Bereich der Schulpolitik. Die Schulen sollten als weltliche Schulen dem Staat unterstellt (Trennung der Schule von der Kirche), der Religionsunterricht abgeschafft und die naturwissenschaftlichen Fächer erweitert werden.

Diese Positionen zur Kritik an Kirche und Religion waren in der Sozialdemokratie nahezu unangefochten. Wie Karl Marx dachte Bebel, dass die fortschreitende Entwicklung der Gesellschaft die Religion überflüssig machen werde. Seine kompromisslosen Positionen und sein Plädoyer für den Atheismus fasste er in der mehrfach neu aufgelegten Broschüre „Christentum und Sozialismus“ zusammen. Diese dokumentiert den kontroversen Briefwechsel zwischen Bebel und dem (katholischen) „roten Pastor“ Wilhelm Hohoff (1848-1923) in den 1870er Jahren.

Bebels Positionen finden sich schon im Gothaer Programm von 1875 und erneut im Erfurter Programm der SPD von 1891. Hier heißt es: „Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.“

Allen Bürgern sei die Ausübung der religiösen Überzeugung als Privatsache in vollstem Maße gestattet. Bei Parteieintritt musste nicht der Kirchenaustritt erfolgen. Die Betrachtung der Religionsausübung als Privatsache bedeute allerdings nicht, dass eine politische Auseinandersetzung unterbleibe, der Klassencharakter von Kirche und Religion müsse in der politischen Agitation stets deutlich gemacht und auf die Trennung von Kirche und Staat hingearbeitet werden.

Im Kaiserreich wuchsen die Spannungen zwischen den Kirchen und der SPD. Von der Kanzel herab beteiligten sie sich am Kampf gegen die Sozialdemokratie. Die Evangelischen Landeskirchen unterstützten das Gesetz gegen die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (Sozialistengesetz) 1878-1890 und waren Teil der Repressionen des Staates gegen die Sozialdemokratie. Der deutsche Protestantismus war mehrheitlich antisozialistisch und national eingestellt, das sozialpolitische Engagement einzelner wurde von den Kirchenleitungen nicht unterstützt

Der evangelische Pastor Paul Göhre (1864-1928) bildete da eine Ausnahme. Als „Arbeiterpastor“ engagierte sich von protestantischer Seite aus politisch, um die soziale Frage zu lösen. Er trat in die SPD ein, musste sein Pfarramt aufgeben, wurde Reichstagsabgeordneter und später Staatssekretär. In seiner Publikation „Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde“ beschreibt er seine Entwicklung anschaulich.

Auf papstgläubiger katholischer Seite waren Stimmen wie die von Wilhelm Hohoff selten. Päpstliche Enzykliken erkannten zwar das „sklavenähnliche Joch“ der Arbeiterschaft, das „wenige Reiche einer Masse von Besitzlosen“ auferlegten (Papst Leo XIII. 1891 in seiner Enzyklika Rerum novarum), verurteilten aber Sozialdemokratie und Sozialismus und waren insgesamt obrigkeitskonform.

Im 19. Jahrhundert bis in die Hälfte des 20. Jahrhunderts waren das sozialistische und besonders das katholische Sozialmilieu vollkommen getrennte Lebenswelten mit eigenen Vereinen, Verbänden und Umfeldorganisationen.

Erst das Godesberger Programm der SPD von 1959 bildete die entscheidende Zäsur im Verhältnis von SPD und Religion und Kirche. Es bekundete die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kirchen, gerade auch mit der katholischen Kirche.

Wolfgang Thierse (Bundestagspräsident, Vorsitzender der SPD der DDR, stellvertretender Parteivorsitzender der SPD, Vorsitzender des Arbeitskreises Christen in der SPD, Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken) stellte fest: „Godesberg, das war der Abschied von der atheistisch geprägten Weltanschauungspartei“.

Im Godesberger Programm heißt es zum Verhältnis zur Religion: „Der demokratische Sozialismus, der in Europa in christlicher Ethik, in Humanismus und in der klassischen Philosophie verwurzelt ist, will keine letzten Wahrheiten verkünden – nicht aus Verständnislosigkeit und nicht aus Gleichgültigkeit gegenüber Weltanschauungen oder religiösen Wahrheiten, sondern aus Achtung vor den Glaubensentscheidungen des Menschen, über deren Inhalt weder eine politische Partei noch der Staat zu bestimmen hat.“

Dies ebnete den Weg für bekennende evangelische Christen wie Gustav Heinemann (1899-1976) und Johannes Rau (1931-2006), die ersten beiden sozialdemokratischen Bundespräsidenten. Georg Leber (1920-2012), Gewerkschaftsvorsitzender und sozialdemokratischer Bundesminister, war das erste sozialdemokratische Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken und mit Hans-Jochen Vogel wurde der erste praktizierende Katholik Parteivorsitzender der SPD. Andrea Nahles, die erste sozialdemokratische Parteivorsitzende, ist ebenfalls praktizierende Katholikin.

Auch parteiorganisatorisch änderte sich nach Godesberg etwas. Unter dem Vorsitz von Willy Brandt wurden zum ersten Mal Kirchenreferate im Parteivorstand eingerichtet.

Eine ähnliche Widmung wie im vorliegenden Protokollbuch zu August Bebel könnte man sich nur noch zu Willy Brandt vorstellen.

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