Bebels Taschenuhr

Wann immer Kommentatoren und Auguren des politischen Geschehens auszudeuten versuchen, welches Stündlein der Sozialdemokratie geschlagen hat und wie die Genossen so ticken, ziehen sie aus ihrer Metaphern-Mottenkiste gelegentlich auch die Legende von August Bebels Taschenuhr hervor. Da Dichtung und Wahrheit hierbei allzu oft verquirlt werden, nehmen wir uns heute mal die Zeit, dieses Mysterium minutiös auseinanderzudröseln.

August Bebels Taschenuhr gehört zu Willy Brandts Nachlass und wird im Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie verwahrt. Aus konservatorischen Gründen ist eine Nutzung der Uhr im Lesesaal nicht möglich. Ihr genauer Aufbewahrungsort im Archiv wechselt in unregelmäßigen Abständen.

Die Provenienz des sagenumwobenen Chronometers, auf dessen Rückseite der Schriftzug "August Bebel" eingraviert ist, erscheint in ihren Grundzügen halbwegs geklärt. Natürlich wurde die Uhr nicht im Jahre 1913 an Bebels Totenbett aufgelesen und dem nur wenige Monate später in Lübeck geborenen Herbert Frahm in die Wiege gelegt. Vielmehr begab es sich, dass Willy Brandt, Regierender Bürgermeister von Berlin, am 13. August 1963 der Gedenkfeier zu August Bebels 50. Todestag in Zürich beiwohnte und bei einer Zusammenkunft mit Schweizer Genossen "die goldene Uhr, die bis zum Jahre 1913 August Bebel gehörte", als Souvenir und als "Zeichen der Freundschaft" zwischen beiden Parteien empfing - so steht es in einem Begleitbrief der Sozialdemokratischen Partei der Stadt und des Kantons Zürich, welcher auch den Weg von Bebel bis zu Brandt lückenlos skizziert: demnach hatte Bebel diese Taschenuhr - angeblich "kurz vor seinem Tode" - an seinen Freund Otto Lang, Oberrichter und Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, übergeben. Lang dürfte sie in den folgenden zwei Jahrzehnten getragen und als sein Eigentum angesehen haben, schließlich wurden seine Initialen in den äußeren Staubdeckel der Taschenuhr eingraviert. Lang verfügte wiederum, dass die Uhr nach seinem Tod (im März 1936) an Albert Bader, einen nicht näher bekannten Vertrauensmann der Sozialdemokratischen Partei in Zürich übergehen solle. Als dort 1963 die Feierlichkeiten zum 50. Todestag Bebels vorbereitet wurden, war Bader seit einigen Jahren tot; seine Witwe wandte sich an die örtlichen Vertreter der Sozialdemokratischen Partei, gab ihnen die Uhr "zur getreulichen Verwahrung" und erklärte sich damit einverstanden, dass sie sogleich an die SPD weitergereicht werde.

Wie jene Taschenuhr zuvor in August Bebels Besitz gelangt war, wurde in dem Brief der Schweizer Genossen nicht erläutert. Eine der Theorien besagt, er habe sie "einst für treue Dienste erhalten" (wie DIE ZEIT am 23. Dezember 1966 ohne jedwede Grundlage vermutete), doch Vorsicht ist geboten. Wer die Uhr unter die Lupe nimmt, entdeckt Hinweise auf ihre Herkunft und vermag den Zeitraum ihrer Fertigung einzuengen, denn der äußere und der innere Staubdeckel tragen neben mehr als einem halben Dutzend kryptischer Reparaturzeichen verschiedener Uhrmacher auch übereinstimmende Angaben, so z.B. eine Seriennummer, einen deutschen Reichsgoldstempel (Reichskrone im Sonnenkreis), einen 585er Feingehaltstempel sowie die entsprechende Schweizer Punze für 585er Gold (Eichhörnchen). Ein Blick ins Uhrwerk fördert neben einer Bildmarke des Schweizer Uhren- und Spieldosenherstellers Mermod Frères in Sainte-Croix (Kanton Waadt) auch die Gravur "PAT.5.DEC.99." zu Tage - ein im United States Patent Office am 5. Dezember 1899 registriertes Patent für ein Rohwerk des Schweizers Felipe Hecht, dessen Design mehreren Einträgen im Schweizerischen Handelsamtsblatt zufolge im Jahre 1904 erstmals rechtlich geschützt wurde und demnach ab jenem Jahr - bis 1919, als der Schutz nicht mehr verlängert wurde - verbaut worden sein dürfte. Somit ist immerhin anzunehmen, dass August Bebel diese Taschenuhr, ein Schweizer Fabrikat, erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt besessen haben kann.

Willy Brandt nahm "die goldene Uhr" August Bebels in seiner Eigenschaft als stellvertretender SPD-Parteivorsitzender dankend entgegen und übergab sie dem SPD-Parteivorstand in Bonn. Dort kam man drei Jahre später auf eine Idee: Eine am 17./18. Dezember 1966 in Bad Godesberg anberaumte Konferenz, auf der rund 700 Delegierte unter dem Motto "Stabilität und Wachstum im Innern - Sicherheit und Handlungsfähigkeit nach außen" über die mit CDU und CSU getroffenen Vereinbarungen zur Bildung der Großen Koalition debattierten, fiel zeitlich mit dem 53. Geburtstag des inzwischen zum SPD-Parteivorsitzenden aufgestiegenen und überdies frischgebackenen Vizekanzlers zusammen. Und so überreichte Herbert Wehner am Morgen des 18. Dezember 1966 August Bebels Taschenuhr, "die noch präzis geht", an Willy Brandt. Wehner versicherte dem Jubilar, "dass sie bei niemandem in besseren Händen ist als in deinen Händen. Dies ist die Uhr August Bebels, und du wirst sie gut verwahren." Dieses zweite Uhrenpräsent hat zwischenzeitig zu Verwirrung und zur irrigen Annahme geführt, bei der SPD kursierten zwei verschiedene Bebel-Uhren. Doch eine Pressemitteilung der SPD ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um jene Uhr handelte, die Brandt bereits 1961 anvertraut worden war; außerdem ist auf den im AdsD verwahrten Fotos von Jupp Darchinger dieselbe schwarze Schatulle von 1961 zu sehen und mehr noch: auf einem der Motive zeichnen sich auf dem Außendeckel der Uhr die eingravierten Initialen Otto Langs deutlich ab.

 

Dass Willy Brandt nun also August Bebels Uhr trug, machte auf viele Genossen mächtig Eindruck. So ist z.B. von Helmut Schmidt, der auf jener Konferenz die Uhr als "königliches Geschenk" bezeichnet hatte, eine Idee aus dem Mai 1968 überliefert, älteren und langjährigen Mitgliedern der SPD-Bundestagsfraktion eine goldene Uhr als Zeichen der Anerkennung ihrer Dienste zu schenken - der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion tüftelte sogar ein Punktesystem aus, welches die Summe der Lebensjahre und die Dauer der Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag kombiniert hätte, doch das Vorhaben verlief im Sande. Weggefährte und Wahlkämpfer Günter Grass stilisierte Brandt in einigen literarischen Werken (vor allem "Aus dem Tagebuch einer Schnecke" und "Der Butt") als den "Mann mit Bebels Taschenuhr" und soll sich die Uhr auch einmal ausgeliehen haben, um sie in Ruhe zu zeichnen.

 

Wenn Herbert Wehner im Dezember 1966 die Uhr wortwörtlich "dir, unserem Vorsitzenden" übergab, so lässt dies zwar einen gewissen Deutungsspielraum, doch letztlich wird sich nicht klären lassen, ob die Uhr nun ein persönliches Präsent war, deren Eigentum an Willy Brandt überging, oder ob die Uhr vornehmlich dem Parteivorsitzenden überreicht wurde, auf dass dieser sie in seiner Amtszeit "gut verwahren" möge. In seinem Schlusswort verband Willy Brandt jedenfalls "tief bewegt" seinen herzlichen Dank für die Geste mit der Ankündigung: "Diese Uhr wird von mir zu gegebener Zeit wieder zu treuen Händen der Partei überantwortet werden."

Der eigentliche Mythos von Bebels Taschenuhr als sozialdemokratisches Erbstück, in welchem sich eine geregelte Nachfolge - nahezu im Sinne der apostolischen Sukzession - über Generationen hinweg kontinuierlich manifestiert, wurde wohl erst 1982 begründet. Als Willy Brandt mit "Links und frei. Mein Weg 1930-1950" die autobiographische Schilderung seiner ersten Lebensjahrzehnte vorlegte, referierte er im ersten Kapitel auch kurz über die Stationen von Bebels Uhr und stellte dabei schwarz auf weiß fest: "Sie wird an die nächsten Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten weitergegeben." Zeitnah zur Veröffentlichung seines Buches ließ sich Brandt mit Bebels Taschenuhr von Fotograf Jupp Darchinger portraitieren. Fortan pflegte er bei besonderen bzw. repräsentativen Anlässen die Uhr so zu tragen, dass sie entweder in der Brusttasche seines Sakkos oder aber in seiner Westentasche steckte und ihre goldene Kette nach außen hin sichtbar glänzte, beispielsweise zum Auftakt der 750-Jahr-Feier Berlins im April 1987, bei seinem Besuch in Ost-Berlin im September 1985 oder auch im Dezember 1983 auf der Feier zu seinem 70. Geburtstag, als Brandt in seiner Ansprache zudem vieldeutig verkündete, die Bebel-Uhr sei "wieder da, sie war zwischendurch beim Uhrmacher, das gilt dann auch in übertragenen Zusammenhängen, sie geht wieder und sie geht richtig".

Spätestens Anfang 1987, als während des Bundestagswahlkampfs außerhalb und vor allem innerhalb der SPD die Spekulationen hinsichtlich Willy Brandts Nachfolge im SPD-Parteivorsitz zunahmen, rückte Willy Brandt von der Idee, die Taschenuhr von Vorsitzendem zu Vorsitzendem kreisen zu lassen, ab und ruderte mit den Worten "Das ist kein Wanderpokal" (DER SPIEGEL, Nr. 7/1987, 09.02.1987) zurück. Nur sechs Wochen später kündigte Brandt seinen vorzeitigen Rücktritt vom Parteivorsitz an; bei seiner Abschiedsrede auf dem außerordentlichen Parteitag der SPD am 14. Juni 1987 trug er die Uhr demonstrativ in der Westentasche - ohne sie anschließend weiterzugeben.

 

Stattdessen zog Willy Brandt es vor, Bebels Taschenuhr zu musealisieren, indem er sie per Leihvertrag der Friedrich-Ebert-Stiftung für die vom AdsD konzipierte Wanderausstellung "August Bebel 1840-1913. Ein Großer der deutschen Arbeiterbewegung" zur Verfügung stellte. In seiner Rede zur Ausstellungseröffnung in Berlin im Januar 1988 kratzte er zudem am Nimbus "der" Uhr August Bebels: Bei einem kürzlichen Aufenthalt in Zürich (und dank Recherchen seiner Frau Brigitte Seebacher-Brandt für ihre Biographie über Bebel) war er zu der Erkenntnis gelangt, dass Bebel mehrere Uhren besessen und sie zu passenden Gelegenheiten, auch in der Reichstagsfraktion, weitergereicht habe: "Wir haben es also mit einer, nicht mit der Bebel-Uhr zu tun." Bebels Taschenuhr rückte somit ironischerweise in die Nähe jener Gast- und Werbegeschenke mit Willy Brandts eingraviertem Schriftzug (Füllfederhalter, Feuerzeuge, Taschenmesser und sonstige Gebrauchsgegenstände), die zu seinen Zeiten als Bundeskanzler z.B. auf Reisen verteilt wurden - und heutzutage bisweilen bei Internetauktionen wieder auftauchen. Demnach wäre Bebels Taschenuhr nun irgendwo zwischen Unikat und Dutzendware anzusiedeln und allein der vermutete Zeitpunkt der Übergabe kurz vor seinem Tod und der Umstand, dass Otto Lang in Bebels Testament als "Vertrauensperson" benannt wurde und einer seiner Testamentsvollstrecker war, verleihen der Uhr im Nachhinein das Siegel eines singulären Vermächtnisses. Gleichwohl zieht dies neue Rätsel nach sich: wer bekam die anderen Exemplare und wo sind sie geblieben? Schließlich scheinen bis heute keine weiteren Bebel-Uhren aufgetaucht zu sein. Sind sie womöglich gar nicht als solche zu erkennen, weil ihnen jener eingravierte "August Bebel"-Schriftzug fehlt, der auf der vorliegenden Uhr ohne weiteres nachträglich angebracht worden sein kann?

Da Bebels Taschenuhr in der Bebel-Ausstellung ab Anfang 1988 durch die Lande zog, wird Willy Brandt sie wohl nicht noch einmal getragen haben. Wenngleich im Leihvertrag ausdrücklich vermerkt worden war, der Leihgeber könne die Uhr jederzeit zurück erbitten, so hat er sie selbst auf dem historischen Vereinigungsparteitag der west- und ostdeutschen Sozialdemokratie im September 1990 nicht noch einmal als Accessoire benötigt; zumindest sind von dort keine Fotos bekannt, auf denen bei ihm eine Uhrenkette zu sehen wäre.

 

Dennoch oder gerade deswegen begann sich die Legende der Bebel-Uhr zu verselbstständigen. Neugierige Erkundigungen zu ihrem Verbleib - so stellte z.B. im Februar 1990 Friedrich Küppersbusch im TV-Magazin "ZAK" Brandt beiläufig die Fangfrage, ob die Taschenuhr denn nun an Hans-Jochen Vogel im Westen oder Ibrahim Böhme im Osten weitergegeben werde - rissen auch nach Willy Brandts Tod nicht ab. Als der SPD-Parteivorsitz im Mai 1993 vakant und durch eine Urwahl neu zu besetzen war, bekannte der kommissarische Vorsitzende Johannes Rau, er wisse nicht, wo sich Bebels Taschenuhr befinde. Dabei war dies gar kein Geheimnis: sie lag nach wie vor als Exponat in der Bebel-Ausstellung, die seit April 1992 dauerhaft in der Gedenkstätte Goldener Löwe in Eisenach, also am Ort des 1869er Gründungskongresses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, untergebracht war. Nachdem langwierige Verhandlungen um Willy Brandts Nachlass zum Abschluss gelangten und zur Gründung des Willy-Brandt-Archivs im Archiv der sozialen Demokratie führten, kehrte Bebels Uhr nach Bonn zurück. Von dort kam sie 1998 als Leihgabe in die Ständige Ausstellung der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung im Schöneberger Rathaus in Berlin. Die Vorstellung einer Vorsitzenden-Uhr geisterte jedoch nach wie vor herum und so beschwerte sich Oskar Lafontaine in seinem nach dem Verzicht auf alle Partei- und Regierungsämter verfassten Rechtfertigungs-Bestseller "Das Herz schlägt links", er sei nach dem Mannheimer Parteitag im Herbst 1995 "traurig" darüber gewesen, "dass ich nach meiner Wahl zum SPD-Parteivorsitzenden Bebels goldene Uhr nicht bekam. [...] Ich konnte Bebels goldene Uhr daher auch meinem Nachfolger im Parteivorsitz nicht übergeben." Sein Nachfolger, Bundeskanzler Gerhard Schröder, erhielt wiederum als Leihgabe bzw. Glücksbringer von Brigitte Seebacher-Brandt eine andere goldene Taschenuhr, nämlich jene, die Willy Brandt von ihr zum 75. Geburtstag geschenkt bekommen und auch fortan lieber getragen hatte. Diese Uhr hat ein Zifferblatt mit römischen Zahlen und trägt auf der Rückseite die eingravierten Initialen Willy Brandts. Zum Ende seiner Amtszeit als SPD-Parteivorsitzender im Jahre 2004 gab Schröder die Uhr wieder zurück.

Bebels Taschenuhr ruhte derweil im Schöneberger Rathaus in einer Glasvitrine - bis zwei finstere Gestalten im Oktober 2003 im Trubel der Vorbereitungen zu einer Gedenkveranstaltung den Schaukasten zu knacken versuchten. Der Diebstahl wurde rechtzeitig vereitelt, doch seitdem ist in Berlin nur noch ein Replikat zu sehen; das Original gelangte zurück ins Archiv der sozialen Demokratie und wurde auf dem Festakt zum 150-jährigen Jubiläum der deutschen Sozialdemokratie in Leipzig am 23. Mai 2013 noch einmal öffentlich gezeigt.

 

Dass die Legende um Bebels Taschenuhr bei jedem der zuletzt häufigeren Wechsel im SPD-Parteivorsitz aufgewärmt und immer wieder falsch erzählt wird, mag kaum überraschen - die Mär von den einst von Vorsitzendem zu Vorsitzendem zirkulierenden, aber nun eingemotteten Insignien des Arbeiterkaisers ist einfach zu gut. Unstrittig ist hingegen, dass die Taschenuhr zu den sozialdemokratischen Kleinodien zählt und wie eine Reliquie die Aura August Bebels und Willy Brandts zugleich ausstrahlt. Ob man sie zusätzlich als reibungslos und verlässlich laufenden Motor der Sozialdemokratie stilisieren sollte, möge jeder selbst entscheiden - gleiches gilt für Unkenrufe, Bebels Taschenuhr sei von vorgestern und stottere wie ein eingerosteter Fluxkompensator, mit dem die SPD zwar in ihre Vergangenheit, aber unmöglich in die Zukunft reisen könne.

 

Denn wenn ein Objekt wie kaum ein zweites - zumal als Zeitmesser - die mehr als 150 Jahre währende Tradition der Sozialdemokratie in sich verdichtet und heute noch wie damals präzise funktioniert, so kann es mitnichten von der Gegenwart eingeholt worden sein: Alle Archivar_innen, die Bebels Taschenuhr hin und wieder aufziehen, können bezeugen, dass sie sich buchstäblich auf der Höhe der Zeit befindet - wie die SPD ja bekanntlich Willy Brandts berühmtem Grußwort von September 1992 zufolge immer zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll ...

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