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Vor 125 Jahren wurde in Berlin der "Verein für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse" gegründet, der sich zu einem wichtigen Treffpunkt für die Organisation von Frauen innerhalb der Arbeiterbewegung entwickelte
Bild: Clara Zetkin und Emma Ihrer in London mit Carl Legien; 27.07.1896; Sozialistischer Arbeiter- und Gewerkschaftskongress; Rechte: gemeinfrei/AdsD [6/FOTA038421].
Als 1908 das Verbot für Frauen politischen Parteien beizutreten in allen Teilen Deutschlands aufgehoben wurde, konnte die proletarische Frauenbewegung auf eine reiche Geschichte zurückblicken. Bereits im 19. Jahrhundert war eine große Anzahl Frauen innerhalb der SPD und in Gewerkschaften engagiert oder in anderen Vereinigungen der Arbeiter:innenbewegung aktiv gewesen. Eine ganze Generation von Frauen, unter ihnen spätere SPD- und KPD-Spitzenpolitikerinnen wie Marie Juchacz und Martha Arendsee, hatten ihren ersten Zugang zur sozialistischen Politik über Frauenbildungsvereine gefunden. Diese wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts an vielen Orten gebildet und erfüllten als Ort der Mitgliederwerbung, der politischen Bildung und des sozialen Austauschs eine zentrale Funktion für den politischen Werdegang einzelner Frauen. Zu diesen Vereinen gehört auch der vor 125 Jahren im heutigen Berlin Kreuzberg gegründete „Verein für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse zur Förderung des Wissens und Pflege der Geselligkeit“.
Als Konsequenz der für die Obrigkeiten besorgniserregend hohen und initialisierenden Beteiligung von Frauen am revolutionären Geschehen rund um das Jahr 1848 hatte das Preußische Vereinsgesetz von 1850 die Aufnahme von Frauen in politische Vereine und Parteien verboten. Rund 50 Jahre später bemühten sich einige Pionierinnen der proletarischen Frauenbewegung, dieses Verbot zu umgehen. Am 24. Januar 1899 riefen sie den „Verein für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse“ ins Leben. Ein Jahr später bezeichnete eine Jahreschronik der Berliner SPD-Zeitung „Vorwärts“ dessen Gründung als „einen Merkstein in der Berliner Frauenbewegung“. Bereits zwanzig Jahre zuvor hatten sozialistische Frauen sich in einem – ebenfalls offiziell unpolitischen – Bildungsverein organisiert. Dieser war nach kurzer Zeit behördlich verboten worden. Weitere Versuche, ähnliche Vereine zu gründen, wurden ebenfalls durch Verbote unterbunden. Als am 24. Januar 1899 in den „Arminhallen“ in Berlin Kreuzberg der „Verein für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse“ gegründet wurde, war für die Beteiligten also keinesfalls absehbar, dass er über fünfzehn Jahre bestehen, mehrere Ableger gründen und allein in Berlin über 1.000 Frauen organisieren können würde.
Ab dem Moment seiner Gründung organisierte der Verein in Berlin im Zwei-Wochen-Rhythmus Vortragsabende, zu denen Referent:innen eingeladen wurden. Unter Aussparung explizit politischer Fragen wurde eine breite Palette von Themen angesprochen. Von Literatur und Musik bis zu Biologie und Geologie wurde über Sachgebiete der allgemeinen Bildung referiert. Ziel dieser Veranstaltungen war es, Frauen, die nur für kurze Zeit die Volksschulen besucht hatten, Wissen über ihre Umwelt zu vermitteln und sie zur eigenen Meinungsbildung zu befähigen. Die Vereinsgründerinnen hofften „solche Frauen zu gewinnen, die vorläufig noch nicht wissen, welch‘ ein Machtmittel einerseits eine höhere Bildung für sie ist, und wie andererseits diese Bildung ihnen eine neue Welt edlerer Genüsse erschließt.“ Noch häufiger ging es um Probleme, die proletarische Frauen aus ihrem Alltag kannten. Vorträge über Gesundheitsfragen, Kindererziehung, Frauen- und Kinderarbeit, Hygiene oder die Wohnungsfrage stießen laut Vereinsberichten auf hohes Interesse. Die Frauen diskutierten teils kontrovers, beispielsweise über die Organisierung von Einküchenhäusern oder die Vor- und Nachteile eines gesetzlichen Wöchnerinnenschutzes, und ergänzten die Vorträge mit ihren eigenen Erfahrungen, etwa im Bereich der Heimarbeit oder Erziehung. Die politischen und auch privaten Beiträge mussten dabei immer in Anwesenheit von Polizisten formuliert werden. Diese überwachten die Einhaltung des Politikverbotes und tatsächlich kam es 1906 und 1907 zu Verboten von Vereinsablegern in Velbert und in Lichtenberg. Leichter war die Organisierung von Frauen in den Teilen Deutschlands, in denen liberalere Vereinsgesetze galten. In Leipzig zum Beispiel konnten die Mitglieder des im Februar 1899 gegründeten örtlichen Vereins freier agieren. Im Dezember 1905 organisierten sie beispielsweise eine Kundgebung gegen die verteuernde Zollpolitik, an der nach eigenen Angaben 3.500 Personen teilnahmen.
In der Organisierung von proletarischen Frauen stellten das gesetzliche Politikverbot und die meist skeptische bis feindselige Einstellung von Proletariern bezüglich der Zusammenarbeit mit Frauen keinesfalls die einzigen Hürden dar. Auch die Lebensrealitäten der Proletarierinnen brachten viele Probleme mit sich. Eine erste Schwierigkeit betraf den Ort und die Uhrzeit der Treffen. Gerade Mütter hatten neben ihrer Lohnarbeit noch eine tägliche „zweite Schicht“ im Haushalt abzuleisten. Abende und Samstagnachmittage brachten für die Männer wohl freie Zeit, die sie mit Partei- und Gewerkschaftsarbeit füllen konnten, für Frauen war der Besuch von Versammlungen hingegen oft nur möglich, wenn sie auf das Verständnis und die Unterstützung ihrer Partner oder die Hilfe von anderen Familienmitgliedern und Nachbarinnen zurückgreifen konnten. Verschärft wurde das Problem noch, wenn weite Wege zurückgelegt werden mussten. In und um Berlin sollte durch die Gründung lokaler Vereine Abhilfe geschaffen werden. Tatsächlich fanden sich nachweisbar in Friedrichshagen, Lichtenberg, Ober-Schöneweide, Rixdorf, Schöneberg und Weißensee genügend Mitglieder zusammen, um eigene Vereinsabende zu organisieren.
Angesichts der großen Bürde, die der regelmäßige Besuch von Vereinssitzungen für Frauen darstellte, und des schwierigen Verhältnisses zwischen proletarischen Frauen und der frühen Arbeiter:innenbewegung war den Gründerinnen des Vereins klar, dass sie mit einer ansprechenden Themenauswahl und abwechslungsreichen Formaten überzeugen mussten. Neben den regelmäßigen Vortragsabenden organsierten sie regelmäßig Stiftungsfeste, Wanderausflüge, Theater- und Ausstellungsbesuche, Weihnachtsbescherungen und Maskenbälle. Diese stießen allerdings auf wenig Gegenliebe. Später kamen Ausflüge mit Kindern hinzu und ab 1905 auch separate Treffen für jugendliche Frauen. Die im Vereinsnamen enthaltene „Pflege der Geselligkeit“ war also keineswegs nur eine Worthülse. Dennoch blieben die Vortragsabende unter den Mitgliedern das beliebteste Format. Die Frauen kamen, um sich zu bilden. Sie wünschten sich bestimmte Themen, organisierten vertiefende Vortragszyklen und Lesegruppen und betrieben eigene Bibliotheken. Je nach Thema kam es nach den Vorträgen zu kontroversen Debatten. Spannend sind an dieser Stelle die Anwesenheit und die Beteiligung von Männern, die als Gäste grundsätzlich zu den Vortragsabenden eingeladen waren. In den Diskussionsberichten, die gelegentlich im „Vorwärts“ abgedruckt wurden, finden sich Andeutungen darauf, dass Frauen sich in Bezug auf Erziehung oder Haushaltsfragen gegen die Meinungen männlicher Genossen stellten, wobei sie auf ihre erlebten Erfahrungen in diesen Bereichen zurückgreifen konnten.
Männer waren nicht nur als Gäste, sondern auch als Redner zu den Veranstaltungen der Vereine der Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse eingeladen. Dies ist nicht weiter verwunderlich. Frauengruppen, wie wir sie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen und die mit einem expliziten Ausschluss von Männern arbeiteten, gab es in der proletarischen Frauenbewegung kaum. Die Bildungsvereine wurden dennoch als autonome Frauenräume verstanden und behauptet. Auf den Vereinstreffen konnten die Mitglieder agieren, ohne mit dem gebündelten Desinteresse und der Überheblichkeit männlicher Genossen konfrontiert zu sein, die viele Strukturen der Arbeiter:innenbewegung prägten. Die Bildungsvereine erfüllten für die Frauen individuell, aber auch für die proletarische Frauenbewegung als Ganzes wichtige Funktionen. Neben der inhaltlichen Weiterbildung konnten hier informelle Netzwerke geknüpft und praktisches Wissen über politische Organisierung – von der Planung einer Veranstaltung über den Umgang mit der Polizei oder das Protokollieren von Diskussionen – geübt werden. Aus all diesen Gründen war es wichtig, die Bildungsvereine als autonome Strukturen zu behalten, auch nachdem 1908 eine Organisierung von Frauen innerhalb der SPD-Parteistrukturen legalisiert wurde. Ganz im Sinne der auf dem Nürnberger Parteitag verhandelten Arbeitsteilung konzentrierten die Vereine sich nun auf kulturelle Themen und frauenspezifische Fragen. Ausflüge, Museumsbesuche und Konzerte nahmen zu. Dies führte zwar zum Austritt einiger Frauen, ermöglichte aber das Fortbestehen der Vereine bis mindestens 1917.
Der langjährige Erfolg der Bildungsvereine ist auch auf die große Anzahl gut geschulter Agitatorinnen der Arbeiter:innenbewegung zurückzuführen, deren Namen sich in den Veranstaltungsankündigungen des Vereins finden. Die meisten neuen Vereinsgründungen an Orten wie Brandenburg an der Havel, Elberfeld, Erlangen, Kaiserslautern, Potsdam oder Velbert erfolgten im Anschluss an eine ihrer Reden. Im Vergleich zu namenhaften Personen wie Clara Zetkin oder Lily Braun gehören die Gründerinnen des Vereins zu den unbekannteren Wegbereiterinnen der deutschen Frauenbewegung.
Initiiert wurde die Gründung des „Vereins für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse“ von Emma Ihrer (1857 bis 1911). Für die damals 42-jährigestellte sie eine Fortsetzung ihrer bisherigen Politik dar. Ihrer hatte sich bereits seit 18 Jahren für die Organisierung von Arbeiterinnen eingesetzt. Aufgrund der strafrechtlichen Verfolgung konnten die von ihr geleiteten und mitgegründeten Vereinigungen, wie der „Frauenhilfsverein der Handarbeiterinnen“, der „Berliner Verein zur Wahrung der Interessen der Arbeiterinnen“ oder der „Verein zur Förderung der Frauenbildung“, oft nur kurze Zeit bestehen. Mehrfach wurde sie wegen ihrer politischen Organisierung von Frauen verurteilt. Ihrer bestand auf den Aufbau autonomer Strukturen, die inhaltlich und organisatorisch an den Lebensrealitäten von Frauen orientiert waren. Unter anderem gründete sie 1890 „Die Arbeiterin“, die erste sozialdemokratische Zeitung für Proletarierinnen. Gleichzeitig übernahm sie Aufgaben innerhalb der männerdominierten Bewegung. Als führende Sozialdemokratin veröffentlichte sie mehrere Schriften und sprach 1889 auf dem Pariser Gründungskongress der II. Internationalen. 1890 war sie als einzige Frau Mitglied der Fünfundzwanziger-Kommission, die auf dem SPD-Parteitag neue Organisationsstrukturen für die Partei ausarbeitete, und im gleichen Jahr wurde sie ebenfalls als einzige Frau in die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands gewählt.
Neben Emma Ihrer wurde der erste Vorstand des Vereins für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse von Elise Panzerarm, Marie Hofmann und Anna Kulicke gebildet. Marie Hofmann war bereits 1885 zusammen mit Emma Ihrer und Gertrud Guillaume-Schack, deren „Deutschem Kulturbund“ sie angehörte, an der Gründung eines Frauenvereins beteiligt gewesen. Nachdem dieser verboten wurde bemühte sie sich um die weitere Organisierung der ehemaligen Mitglieder. 1887 verließ sie, vielleicht aufgrund einer Ausweisung, ihren Wohnort in Lichterfelde, was von Zeitgenossinnen als Verlust für die Berliner Frauenbewegung gesehen wurde. Anna Kulicke arbeitete lange Zeit als Wohlfahrtspflegerin. 1919 wurde sie zur Berliner Stadtverordneten gewählt und behielt dieses Amt bis 1925. Anschließend war sie als Bezirksverordnete für Kreuzberg tätig. Elise Panzerarm hatte von 1890 bis 1904 den Vorsitz des Berliner Vereins inne. Sie war bereits 1886 an der Organisierung von Heimarbeiterinnen beteiligt, wurde später als Vertrauensperson gewählt und 1902 zum SPD-Parteitag delegiert. Sie verblieb auch während und nach des Ersten Weltkrieges in der Partei und war bis Ende der 1920er ehrenamtlich aktiv.
Mit dem Beginn der Weimarer Republik, die auch das aktive und passive Wahlrecht für Frauen brachte, veränderten sich die politischen Gegebenheiten innerhalb und außerhalb der Arbeiter:innenbewegung. Der Bildungsverein wurde als Struktur weniger relevant und in den 1920er Jahren fanden lediglich noch Ehemaligentreffen statt. Die politischen Themen der proletarischen Frauenbewegung hingegen blieben und begleiten uns teils noch heute: Die gesellschaftliche Organisierung von Reproduktionsarbeit, die Zahlung von „gleichem Lohn für gleiche Arbeit“ und die nicht nur formell, sondern tatsächlich gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an politischen Strukturen sind auch 125 Jahre später noch zu erfüllende Forderungen der frühen Frauenbewegung.
Kena Stüwe
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