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Nach der Pandemie gibt es kein Zurück zum alten Status Quo. Wir brauchen eine generelle Transformation und Neuorganisation des gesamten Care-Systems.
Stellt euch einen Dokumentarfilm über einen normalen Tag im Leben einer Care-Arbeiterin vor. Morgens begleiten wir die Frau auf dem Weg zur U-Bahn. Sie hat ein Job-Ticket in der Tasche, das ihr Arbeitgeber bezahlt hat. Ihr Gesichtsausdruck ist entspannt, denn sie weiß, dass ihre Tochter in der öffentlich finanzierten Kita gut aufgehoben ist. Die Kamera folgt ihr durch den Eingang des Krankenhauses, wo sie von einer Ärztin begrüßt wird, die ihr für ihre tolle Arbeit von neulich dankt, als mehrere Notfälle auf einmal zu versorgen waren. Da das Krankenhaus personell gut ausgestattet ist, hat sie ausreichend Zeit für alle Patient_innen. Als sie sich – wie jeden Tag – pünktlich nach dem Ende ihrer achtstündigen Schicht auf den Weg nach Hause macht, sagt sie, dass sie zufrieden mit ihrer Arbeit ist. Nach Feierabend trifft sie sich mit einigen Kolleg_innen, um eine Demonstration für die Anhebung der Mindestrente für alle Care-Arbeitenden zu planen.
Abspann.
Nur ist das leider nicht die Realität unserer Care-Arbeitenden. Noch nicht.
Anders als in der Fantasiewelt unseres imaginären Dokumentarfilms sieht die Realität für bezahlte wie unbezahlte Care-Arbeitende so aus, dass ihre schwierige Lage durch COVID-19 noch einmal verschärft wurde. Die Coronakrise hat gezeigt, dass soziale Reproduktion der Schlüssel zu unserem Überleben ist. Die Arbeit von Frauen zu Hause und in der Nachbarschaft, in Pflegeheimen, Krankenhäusern, Schulen und gemeinnützigen Organisationen – also die Arbeit, die der Pandemie die Stirn bietet und uns am Leben erhält – ist auch die Arbeit, die die kapitalistische Weltordnung am Laufen hält. Es überrascht nicht, dass eine weitere Belastung für die seit langem unterbewertete Sphäre der sozialen Reproduktionsarbeit weitreichende wirtschaftliche Konsequenzen hat, von den Folgen für unser Wohlergehen gar nicht zu reden. Es darf nicht sein, dass wir nach COVID-19 einfach zum alten Status Quo zurückkehren. Wir brauchen eine grundlegende Transformation und Neuorganisation des gesamten Care-Systems. Feminist_innen und alle, die für reproduktive Gerechtigkeit kämpfen, weisen seit Jahrzehnten darauf hin. Diese Aufbruchsstimmung wollen wir bei der Friedrich-Ebert-Stiftung nutzen, um mit der Kampagne “Care to Join Us?” global auf die Probleme bezahlter wie unbezahlter Care-Arbeitender hinzuweisen. Die Kampagne beruht auf acht leicht verständlichen, illustrierten Kernbotschaften, mit denen wir Care-Arbeitende mobilisieren und Forderungen gegenüber Politik und Wirtschaft formulieren wollen. Die Botschaften betonen, dass Care-Arbeit zwar sehr vielfältig sein kann, aber der größte Teil nach wie vor von Frauen erledigt wird. Sie illustrieren, was Care-Arbeit für Gesellschaften bedeutet, und thematisieren unbezahlte sowie unterbezahlte Care-Arbeit, gesellschaftliche Normen und Zeitarmut.
Eine direkte Auswirkung der COVID-19-Maßnahmen ist, dass Frauen mehr unbezahlte Care-Arbeit leisten. Wenn die ganze Familie im Lockdown ist, sind Frauen oft doppelten und dreifachen Belastungen ausgesetzt: Sie erledigen Care-Aufgaben von Hausarbeit über Pflege und Homeschooling, während im Home-Office die Erwerbsarbeit zu tun ist. Weltweit wurden steigende Fallzahlen bei häuslicher Gewalt registriert. Darüber hinaus haben Frauen mit Lebensmittelmangel und fehlendem Zugang zu reproduktionsmedizinischen und gynäkologischen Diensten zu kämpfen. Unsere Kampagne betont, dass es die kapitalistischen und patriarchalen Normen sind, die Frauen in dieser Rolle der unbezahlten und unterbewerteten Care-Arbeiterin gefangen halten. Da viele Frauen in wirtschaftlichen Sektoren arbeiten, die von COVID-19 besonders hart betroffen sind, haben viele von ihnenihre Erwerbsarbeit verloren und stehen nun umso mehr unter sozialem Druck, unbezahlte Dienstleistungen zu erbringen. Damit werden ihre Zukunftschancen noch weiter beschnitten.
Während der Pandemie sind bezahlte Care-Arbeitende nicht nur einem größeren Gesundheitsrisiko ausgesetzt, sondern sie erleben aufgrund längerer Arbeitszeiten bei gleicher Bezahlung auch effektive Gehaltseinbußen. Care-Arbeit ist systemrelevant; sie stellt hohe Anforderungen an Fähigkeiten und Motivation und kann körperlich wie emotional belastend sein. Trotz alldem werden Care-Arbeitende weltweit nicht angemessen bezahlt. Die meisten Care-Arbeitenden verdienen erheblich weniger als andere Beschäftigte mit ähnlichem Qualifikationsniveau und ähnlich anstrengender Tätigkeit. Das beeinträchtigt auch die Qualität der Care-Arbeit, denn eine Care-Arbeiterin, die noch einem zweiten oder dritten Job nachgeht, um über die Runden zu kommen, ist zu erschöpft, um gute Pflege zu leisten. Zusätzlich zum Lohnproblem krankt die Care-Industrie oft an unzulänglicher Arbeits- und Migrationsregulierung sowie mangelhaften sozialen Sicherungssystemen. Das gilt insbesondere für Hausangestellte, die in manchen Regionen oft ganz vom guten Willen ihrer Arbeitgeber_innen abhängen, weil das nationale Recht keine offizielle Begrenzung von Arbeitszeiten oder gesetzliche Ansprüche auf Ruhezeiten kennt.
Global stellen Frauen 70% aller im Gesundheitswesen Tätigen, aber nur 24% der Mitglieder in nationalen Gremien zur Bekämpfung von COVID-19. Dieses Missverhältnis ist einer der Gründe für die oben angesprochenen Probleme. Nur mit Repräsentation und Partizipation können Frauen, die Care-Arbeit leisten, an ihrer eigenen Situation etwas ändern. Die mangelnde Repräsentation hat jedoch grundlegend damit zu tun, dass bezahlte wie unbezahlte Care-Arbeit Frauen doppelt belastet: Während Männer im Schnitt 404 Minuten am Tag arbeiten (und davon nur 20% unbezahlt), arbeiten Frauen jeden Tag 448 Minuten, davon 59% ohne Bezahlung. Im Nahen Osten und Nordafrika arbeiten Frauen im Schnitt sogar 74 Minuten länger pro Tag als Männer – 74 Minuten, die ihnen für politischen Aktivismus zur Verbesserung ihrer Lage fehlen. Deshalb braucht es als ersten Schritt einen Politikwandel.
Um dies zu erreichen, wollen wir mit der FES-Kampagne zu Care-Arbeit den 5R-Ansatz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) einem breiten Publikum bekannt machen und auch in die Politik tragen: Wir müssen Care-Arbeit und ihren wahren Wert anerkennen (“Recognize”), die Belastung für Care-Arbeitende durch Investitionen in entlastende Infrastruktur reduzieren (“Reduce”), die Last der unbezahlten Care-Arbeit durch staatliche Kinderbetreuung und Altenpflegeeinrichtungen umverteilen (“Redistribute”), während wir gleichzeitig dazu ermutigen, Care-Aufgaben im Haushalt besser zwischen Männern und Frauen zu verteilen. Wir müssen Care-Arbeitende fair entlohnen (“Reward”), indem wir ihnen faire Gehälter zahlen und Zugang zu sozialen Sicherungssystemen bieten. Schließlich müssen Care-Arbeitende besser in Politik und Gewerkschaften vertreten sein (“Represented”). Die globale Kampagne der FES will Care-Arbeitende weltweit dazu ermutigen, sich zu organisieren, um mit mehr Repräsentation und Partizipation die Vision vom Anfang dieses Artikels in eine reale Zukunft zu verwandeln.
Also: Lasst uns die Chance ergreifen, eine Welt für die Zeit nach COVID-19 zu entwerfen, die feministische Werte und Perspektiven reflektiert. Care to join us? Dann macht mit, teilt und unterstützt unsere Kampagne! Kampagnenstart ist am 5. Oktober 2020 auf allen Social-Media-Kanälen von FES Connect (auf Englisch) und Gender Matters (auf Deutsch). Wir sehen uns!
Dieser Artikel erschien im Original auf Englisch auf FES Connect.
Natalia Figge ist Mitarbeiterin im Referat Globale Politik und Entwicklung der Friedrich-Ebert-Stiftung und Koordinatorin des Themenbereichs Geschlechtergerechtigkeit. Sie koordiniert außerdem das globale FES-Projekt The Future is Feminist, in dem Feminist_innen aus Afrika, Lateinamerika, Asien, dem Nahen Osten und Europa zusammenarbeiten, um Perspektiven für eine bessere Zukunft zu erarbeiten und die Auswirkungen insbesondere der Digitalisierung auf die Zukunft der Arbeit zu analysieren.
Laura Lepsy studiert im Master Internationale Beziehungen der Technischen Universität Dresden. Von Januar bis März 2020 war sie Praktikantin im Referat Globale Politik und Entwicklung der FES und arbeitet als Projektassistentin weiter an der Kampagne “Care to Join Us?” mit.
Ein Film der FES Mosambik schildert die gelebte Erfahrungswelt von Arbeiter_innen und erklärt warum wir einen Systemwandeln brauchen.
10. Dezember, 18 Uhr c.t. | Universität Bonn und im Livestream
Auftaktveranstaltung zum 100-jährigen Jubiläum der FES | Donnerstag, 21. November 2024, 17.30 bis 19.45 Uhr | Friedrich-Ebert-Stiftung, Godesberger…
Lesung und Gespräch mit Gün Tank über weibliche Arbeitsmigration |
09.10.2024 | 18.00–19:30 Uhr | Berlin