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Bayerisch-sozialdemokratisches Urgestein: Georg von Vollmar (7. März 1850 – 30. Juni 1922)

Reizfigur für viele Parteimitglieder seiner Zeit, Vorbild für eine reformorientierte sozialdemokratische Politik der Gegenwart sowie hellsichtiger Kritiker von Umweltzerstörungen: Das Leben und Wirken des bayerischen Adligen Georg von Vollmar, der am 30. Juni vor hundert Jahren starb, ist äußerst facettenreich und widersprüchlich. Es lohnt sich, an dieses bayerisch-sozialdemokratische Urgestein zu erinnern.

Kritik an der Naturzerstörung als Gesellschaftskritik

„Seit etwa zwei Jahrzehnten wird halb Europa: Deutschland, Österreich, die Schweiz, Frankreich und Norditalien, mit fürchterlicher Regelmäßigkeit jeden Frühling und Sommer von den verheerenden Überschwemmungen heimgesucht: Hunderte von Menschenleben gehen zu Grunde, Werthe aller Art werden beschädigt oder vernichtet, Grund und Boden wird verwüstet und auf Jahre oder für immer der Kultur entzogen, in den betroffenen Gegenden Jammer, Elend, Armuth und Krankheiten hervorgerufen.“

Nein, dies ist keine apokalyptische Rückschau mit Tippfehlern aus dem Jahr 2040 auf unsere Gegenwart. Vielmehr stammt der Text aus der Feder von Georg von Vollmar, dem hoch verehrten und zutiefst abgelehnten Sozialdemokraten, aus dem Jahr 1875. Vollmar war 25 Jahre alt, als er diesen Text veröffentlichte und offenbar hatte er sich zu diesem Zeitpunkt mit Wetterphänomenen und klimatischen Veränderungen als Folge der großflächigen Abholzung von Baumbeständen beschäftigt:

„Was uns der Wald ist, zeigt sich am besten, wenn er nicht mehr vorhanden. Dadurch, daß die atmosphärische Feuchtigkeit nicht mehr durch den Wald angezogen wird, häuft sie sich übermäßig an und entladet sich in selteneren , aber desto heftigeren Niederschlägen, die nun nicht mehr als erquickende Thaue und befruchtende Regen, sondern als gefährliche Gewitter, als vernichtende Wolkenbrüche, Froste und Hagelschläge auftreten.“

Aber dem jungen Vollmar ging es nicht nur um die plastische Darstellung der bedrohlichen Folgen des Raubbaus an der Natur, sondern auch um die Kritik an einer Gesellschaftsordnung, die es ermöglicht, dass der Wald, „dieser große Beschützer und Wohlthäter der Menschheit“, von wenigen zum Schaden aller ausgebeutet wird.

„Ja, wenn unsere Staaten, Regierungen, Parlamente nicht die Geschöpfe und Repräsentanten unserer heutigen Gesellschaft wären, jener Gesellschaft, die nicht auf der Gleichberechtigung aller, sondern auf der Bevorrechtung Einzelner, auf der Ausbeutung der Gesammtheit durch einige Wenige basirt, kurz, wenn unsere Staaten, Regierungen, Parlamente eben nicht unsere heutigen Staaten, Regierungen, Parlamente wären, denen das Gemeinwohl erst dann in Frage kommt, wenn es den Zwecken und dem Wohl jener Wenigen, der herrschenden Klasse, nicht hindernd in den Weg tritt!“

Vollmar forderte ein Forstwirtschaftsgesetz, das Dispositionsbeschränkungen für Privatwaldbesitzer auferlegt, eine strenge Staatsaufsicht über sämtliche Privatwälder.

Doch letzten Endes sah er die Lösung aller Probleme nur in der „Aufhebung des Privateigenthums an den Arbeitsmitteln, vor allem an Grund und Boden!“, im Sozialismus. Immer noch aktuell ist die von Vollmar dargestellte Auswirkung von schnellem Gewinn durch Ausbeutung für zukünftige Generationen:

„Der Wald wird also nach Herzenslust ausgebeutet, verwüstet, vernichtet; das Kapital hat nur seinen Vortheil und das Heute im Auge – Après nous le déluge! (nach uns die Sintfluth!) – um das Gemeinwohl und die Zukunft kümmert es sich nicht.“

Beeindruckend ist in dieser Schrift zum einen die sprachliche Wucht – man kann sich den Versammlungsredner Georg von Vollmar sehr gut vorstellen. Zum anderen ist diese frühe journalistisch-agitatorische Arbeit mit ihrer Argumentationslinie, die vom Umweltschutz zur Gesellschaftskritik führt, Ausdruck für Georg von Vollmars Weg zur Sozialdemokratie.

Ein Adliger in der Sozialdemokratie

Denn der familiäre Hintergrund sprach nicht dafür, dass Georg von Vollmar den Weg zur Sozialdemokratie finden sollte. Er stammte aus einer katholisch-adligen bayerischen Beamtenfamilie. Früh hatte er die Militärlaufbahn eingeschlagen bzw. hatte sie aus familiären Gründen einschlagen müssen. Dabei durchlief er eine äußerst wechselhafte Laufbahn. Einerseits schon mit knapp 16 Jahren Unteroffizier im Krieg von 1866 gegen Preußen, andererseits desertierte er von den bayrischen Truppen und bewarb sich in Rom bei der päpstlichen Armee. Im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 zog er sich unter ungeklärten Umständen eine Schussverletzung am Fuß zu, wurde beim Abtransport erneut verletzt und litt zeitlebens an einer Rückenmarksverletzung.

In der  Rekonvaleszenz, die ihn auch in den schweizerischen Kanton Waadt führte, beschäftigte sich Vollmar nicht nur mit dem Naturschutz sondern näherte sich auch sozialdemokratischen Ideen an. Seine journalistischen Fähigkeiten und Kenntnisse verhalfen ihm 1877 zu einer Anstellung als Redakteur in Dresden bei dem „Volksboten“. Nach einer Gefängnisstrafe wegen seiner Artikel ging Vollmar in die Schweiz und arbeitete in der Exil-Zeitung „Der Sozialdemokrat“.

Zu dieser Zeit hatte Vollmar in August Bebel einen Förderer. Während seiner Haftstrafe 1878 schrieb Bebel an Vollmar: „Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise dienen, so wollen Sie mir nur ungeniert schreiben, was zu tun möglich ist, soll geschehen.“ Auch in London war Friedrich Engels von Vollmars Entwicklung angetan: Vollmars Artikel im „Sozialdemokrat“ würden zeigen, dass er „sich sehr herausgemacht“ habe. „Es sollte mich freuen, wenn dies sich auch sonst bestätigte, wir können tüchtige Leute verdammt gut brauchen“, schrieb Engels an August Bebel.

Reform statt Revolution

Doch diese Sympathien sollten sich nach dem Ende des Sozialistengesetzes schlagartig ändern. Georg von Vollmar, seit 1881 Reichstagsabgeordneter, seit 1883 auch Landtagsabgeordneter erst in Sachsen, dann in Bayern, überwarf sich mit der revolutionär-marxistisch eingestellten Führungsspitze. Auslöser war die völlig konträre Einschätzung des sogenannten „neuen Kurses“ nach dem Abgang Otto von Bismarcks als Reichskanzler 1890. Unter Wilhelm II. und der maßgeblichen Beteiligung von Reichskanzler Leo von Caprivi sowie weiterer Regierungsmitglieder begann kurzzeitig der Versuch, die Arbeiterschaft durch soziale Reformen und Verbesserungen im Arbeitsrecht der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zu entfremden und sie für eine nationale Anbindung an einen neutralen Staat zu gewinnen.

Während August Bebel und das Parteizentrum diesen Kurswechsel als bloßen Schachzug und pure Propaganda abtat, sah Georg von Vollmar hier eine Chance für eine Neuausrichtung sozialdemokratischer Politik – weg von Systemkonfrontation, hin zur Kooperation zur Verbesserung der sozialen und gesellschaftlichen Lage der Arbeiterschaft. Zum Ausdruck brachte er diese Haltung in seiner an zwei Tagen im Juni und Juli 1891 gehaltenen Eldorado-Rede – benannt nach einem Münchner Versammlungslokal:

„Daß von einer Aufgabe der Grundsätze unserer Bewegung keine Rede sein kann ist selbstredend. […] Aber andererseits entspricht es dem Interesse der Arbeiterbewegung und des Gemeinwesens überhaupt und ist auch dem aller Utopie und Spekulationen fernen, im besten Sinne realpolitischen Wesen unserer Partei nicht zuwider, wenn wir den Weg der Verhandlung betreten und suchen, auf Grundlage der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung, Verbesserungen wirthschaftlicher und politischer Art herbeizuführen. Unsere Partei hat, nachdem sie sich anfänglich auf das Schroffste gegen jedes Parlamentiren [sic] erklärt hatte, diesen Weg widerwillig und unsicher betreten und sich angesichts seiner vielen Schwierigkeiten auf ihm oft wieder umkehren wollen. Jetzt, wo ihre Kraft und Geschicklichkeit gewachsen, und die Bedingungen günstigere sind, werden wir diesen Weg sicher und folgerichtig weiter zu gehen haben. […] In dem Maße, in welchem wir einen unmittelbaren Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten gewinnen, haben wir – unter voller Aufrechterhaltung unser grundsätzlichen Bestrebungen – unsere Kraft auf die jeweils nächsten und dringlichsten Dinge zu konzentriren und zeitweise positive Aktionsprogramme aufzustellen.“

Dieser „Possibilismus“ löste eine Lawine des Protests und Widerspruchs aus. Mitglieder der Berliner Schuhmachergewerkschaft sprachen „Vollmar das Recht ab, noch fernerhin das internationale Proletariat zu vertreten“. August Bebel titulierte den einstigen Hoffnungsträger als „Filou“, der die Ideale der Partei verwässere, keinen Kontakt zur Basis habe, da er in seiner Villa „an den idyllischen Ufern des Walchensees“ lebe.

Das Machbare mit sozialistischen Wurzeln

Trotz aller Kritik sollte der reformorientierte Kurs von Georg von Vollmar weiter gehen. Vollmar war dabei nahe an Positionen Eduard Bernsteins, die als Revisionismus abgekanzelt wurden, ohne sich völlig mit Bernstein zu identifizieren. Im Gegensatz zu Eduard Bernstein wurde Georg von Vollmar nie so hart und radikal angegangen wie Bernstein. Denn Vollmar war – trotz großzügigem Wohnsitz am Walchensee – sehr wohl mit der bayerischen Basis verbunden. Er wusste die Leute mit seinen reformorientierten Vorstellungen zu begeistern, machte die bayerische Sozialdemokratie parlamentarisch und außerparlamentarisch stark und groß. Und gegen diese bayerische Hausmacht konnte und wollte die marxistische Parteispitze nicht mit aller Härte vorgehen. Georg von Vollmars Position und Person zeigt darüber hinaus, dass die Zuordnung von Revisionisten, einem um Ausgleich ringenden marxistischen Zentrum und einer Radikallinken vor allem eine schematische Zuordnung ist, die in der politischen Parteikultur durchaus differenzierter war – wobei die Gegensätze zwischen Georg von Vollmar und dem „Fräulein Luxemburg“ – wie Vollmar Rosa Luxemburg despektierlich bezeichnete – unüberbrückbar waren.

So bewahrte sich der durch Heirat mit der reichen Industriellentochter Julia Kjellberg finanziell abgesicherte Adlige seine Unabhängigkeit und blieb in Bayern eine anerkannte Führungsfigur. Nach Georg von Vollmars Tod, heute vor hundert Jahren, am 30. Juni 1922, folgten Zehntausende seinem Sarg. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es der langjährige Vorsitzende der bayrischen SPD Waldemar von Knoeringen, der sich für das ehrende Gedächtnis Georg von Vollmars einsetzte. Auf seine Initiative wurde die Parteischule der bayerischen Sozialdemokratie nach Georg von Vollmar benannt. Die heute idyllisch über dem Kochelsee – nicht am Walchensee – gelegene Georg-von-Vollmar-Akademie steht in dieser Tradition, setzt sie fort und bietet auch Seminare zu Umweltschutz und zur Klimakrise – Themen, denen sich Vollmar schon 1875 zugewendet hatte.

Sabine Kneib/Jürgen Schmidt

 

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