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Unser aktueller FEShistory-Blogbeitrag ist ein Gastbeitrag von Hartmut Kaelble mit seiner Rezension zu "Achterbahn. Europa 1950 bis heute" von Ian Kershaw
Darstellungen zur Geschichte des Europas häufen sich. Sieben Überblicke zur Geschichte Europas sind allein 2018 und 2019 herausgekommen: zwei Überblicke zur europäischen Geschichte als Ganzes, drei Synthesen zur Geschichte Europas im 19. Jahrhundert sowie zwei Synthesen zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert beziehungsweise seit 1945, darunter auch die Synthese von Ian Kershaw. Neu ist, dass wieder belebende Überblicke angelsächsischer und französischer Autoren auf den deutschsprachigen Markt kommen, nachdem lange Zeit deutsche Autoren vorherrschten. Neu ist auch, dass die Synthesen, die Europa bis zur Gegenwart behandeln, unter dem Eindruck der schweren Krisen der Europäischen Union seit 2009 geschrieben wurden.
Was bringt Ian Kershaw Neues oder Anderes? Jedenfalls enthält sein Buch keine neue Einteilung der Epochen: nach den bitteren Notjahren, aber auch Weichenstellungen direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, behandelt er zuerst die politische Restabilisierung Europas und das Wirtschaftswunder Europas in den 1950er- und 1960er-Jahren, danach die Krisenzeit der 1970er-Jahre und den tiefen politischen Umbruch 1989 mit dem Ende des Kalten Kriegs, daran anschließend die einigermaßen glücklichen europäischen 1990er- und frühen 2000er-Jahre, am Ende das Jahrzehnt der Krisen ab 2009 bis zur Gegenwart. Ian Kershaw hat diese Entwicklung zwar mit dem ungewöhnlichen Bild der Achterbahn zu fassen versucht. Im Ganzen präsentierter jedoch das Narrativ, das man erwartet, spannend und versiert geschrieben, aber kein neuer Plot.
Kershaw gibt selbst keine direkte Antwort darauf, was er Neues bieten möchte. Kershaw, Brite und Emeritus, der in Sheffield lehrte, hat seit Eric Hobsbawm die meistgekauften deutschsprachigen Bücher eines britischen Historikers zur jüngeren deutschen Geschichte geschrieben. Er ist vor allem durch seine Biografie Hitlers und danach durch den »Höllensturz«, seiner Darstellung der europäischen Geschichte 1918–1949, bekannt geworden. Aber das Buch »Achterbahn« schreibt er nicht, wie man erwarten könnte, als eine Art zweiten Akt des 20. Jahrhunderts, als Wiederaufstieg nach dem »Höllensturz«. Er folgt nicht Eric Hobsbawm, der in seinem kurzen 20. Jahrhundert der verheerenden ersten Jahrhunderthälfte das »Golden Age« folgen ließ. Er hat auch eine andere Orientierung als das gleichzeitig geschriebene Buch Konrad Jarauschs zu Europa im 20. Jahrhundert mit dem vielsagenden Titel »Aus der Asche«. Kershaw fand es im Gegenteil schwierig, dieses Buch zu schreiben, weil sich in der Geschichte Europas seit 1950 kein zentrales Thema fand. Diese Epoche war »voller Wendungen und Wechselfälle, Auf und Abs und willkürlicher Wechselfälle« (S.9). Deshalb wählte er den Titel »Achterbahn«. Ian Kershaw geht sogar so weit, für die Einleitung des Buches die Überschrift »Zwei Epochen der Unsicherheit« zu wählen, die Unsicherheit eines Atomkriegs in den 1950er-Jahren und die neue »Matrix der Unsicherheit«, die sich allmählich seit den 1980er-Jahren abzeichnete, die für Kershaw in der deregulierten Wirtschaft, in der Globalisierung, in der Digitalisierung und in der multipolaren Weltordnung besteht. Er sieht zwar durchaus Fortschritte in der Geschichte Europas seit 1950, die er eingehend behandelt: die enormen materiellen Verbesserungen des Lebensstandards und des Sozialstaats, die mentalen Fortschritte in der Toleranz gegenüber dem Anderen, im Respekt vor den Menschenrechten, in der Ablehnung der Todesstrafe und auch in dem politischen Fortschritt des Aufgebens kontinentaler Großmachtambitionen in Deutschland. Aber in dem Dreivierteljahrhundert seit 1950 geriet Europa in seiner Sicht von einer Unsicherheit in die andere. Deshalb Achterbahn.
Eine zweite Besonderheit des Buches: Mehr als die meisten anderen Synthesen ist das Buch vom dramatischen Erzählen großer Ereignisse geprägt. Große europäische Ereignisse seit der Jahrhundertmitte, etwa die Berlinkrise 1958, der Bau der Mauer 1961, die Studentenproteste von 1968, die Ölpreis- und Währungsschocks der 1970er Jahre, der Zusammenbruch der südeuropäischen Diktaturen 1974/75, die Perestroika ab 1985, der Umbruch 1989 und die deutsche Einheit, der Bürgerkrieg in Jugoslawien in den 1990er-Jahren, der Vertrag von Maastricht 1992, die Finanzkrise 2009-2012, die Flüchtlingskrise 2015/16 und der Brexit 2016 werden spannend dargestellt und der Leser wird in die Dramatik hineingezogen. Darin besitzt Ian Kershaw eine Meisterschaft, die er souverän einsetzt. Man muss allerdings hinzufügen: Die historische Analyse fällt deshalb nicht weg. Das Buch enthält gleichzeitig eine ganze Reihe kluger Analysen, etwa zur politischen Vereinheitlichung Westeuropas im Kalten Krieg, zur Instabilität des Ostblocks, zum west- wie osteuropäischen Wirtschaftswunder, zu den Folgen von 1968, zu der Bedeutung der Perestroika im östlichen Europa, zur Globalisierung Europas seit den 1990er-Jahren, zu den politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten der 2010er-Jahre. Solche starken Analysen drehen sich vor allem um politische Entwicklungen, nicht selten auch um ökonomische Entwicklungen, seltener um kultur- oder sozialhistorische Umbrüche. Kultur- und Sozialgeschichte fällt nicht aus, aber wird nicht so bestechend analysiert wie etwa für das 19. Jahrhundert in den Synthesen von Willibald Steinmetz oder Richard J. Evans. Die Kombination von dramatischem Erzählen von Ereignissen und politischer Analyse ist jedoch eine der starken Besonderheiten des Buches.
Eine dritte Besonderheit ist die Darstellung der europäischen Nationalstaaten. Während sich Richard J. Evans in seiner Geschichte Europas im 19. Jahrhundert von vornherein von der nationalstaatlichen Darstellung absetzt, wechselt Kershaw den Zugang. Wenn es um westeuropäische politische Stabilisierung, um das Wirtschaftswunder, um die Kultur und die Aufarbeitung der Vergangenheit, um Unruhen im Ostblock, um die Studentenbewegung oder um die Revolution von 1989 geht, dann ist sein Buch eine Wanderung durch die europäischen Nationalstaaten, unter denen Großbritannien und Deutschland besonders genau angesehen werden. Wenn es um potenziell bedrohliche Entwicklungen geht, also um Globalisierung, um Ölschocks, um das internationale Währungssystem, um marktliberale Konjunkturpolitik oder die Abwendung vom Keynesianismus, wird der Blick international. Auch in den Passagen über die Europäische Union werden nationalstaatliche Akteure meist im Hintergrund belassen. Kershaws Deutung der Europäischen Union ist stark von den europäischen Krisen seit 2009 geprägt. Er sieht die Europäische Union als notwendig und nutzbringend (gleichwohl eher zu wenig supranational), aber 2017, als er dieses Buch schrieb, auch als unfertig an, weil sie in seinen Augen zu wenig unter den Bürgern verankert und nicht genug entscheidungsstark ist angesichts der Globalisierung, des Klimawandels, der Digitalisierung und der multipolaren Weltordnung. Vielleicht hätte er 2020 etwas anders geschrieben.
Am Ende fragt man sich, wie weit die Deutung der Achterbahn, der »Auf-und-Abs« der europäischen Geschichte seit 1950, trägt. Sie erfasst Einiges, aber man hätte gerne dann und wann mehr Diskussion anderer Deutungen gelesen. Was spricht dagegen, die europäische Geschichte seit 1950 zuerst als Abstieg von der Weltherrschaft und dann als Wiederaufstieg zum souveränen Kontinent und Akteur in der Globalisierung zu schreiben? Oder sie zuerst als politische Zerklüftung mit scharfen wirtschaftlichen Gegensätzen und später als politisch organisierten Kontinent mit wirtschaftlichen Konvergenzen zu schreiben?Und was spricht dagegen, die Geschichte Europas in ihren weltgeschichtlichen Zusammenhängen zu schreiben (nicht nur gelegentlich etwa in der Zeit des Koreakriegs oder dem Krieg in Afghanistan und Irak) und die intellektuellen Voraussetzungen der weltoffenen britischen akademischen Institutionen zu nutzen.Solche Fragen ändern nichts daran, dass dieses Buch eine erstklassige, hervorragend recherchierte, gut erzählende und gut analysierende, souverän organisierte, sehr lesenswerte Synthese der Geschichte Europas ist.
Hartmut Kaelble, Berlin
Literatur
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