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Am 2. September 2024 wäre Peter von Oertzen 100 Jahre alt geworden. Anlässlich dieses runden Jubiläums stellen wir in unserem Blogbeitrag einen Aspekt seiner vielschichtigen Biografie ins Zentrum, der seinen Einsatz für Menschenrechte und die internationale Solidaritätsarbeit verdeutlicht.
Peter von Oertzen (1924-2008) war als Kultusminister und Bezirksvorsitzender in Niedersachsen, als sozialdemokratischer Programmatiker und Stratege sowie als linker Netzwerker und als integrativer Brückenbauer für viele Jahrzehnte eine prägende Persönlichkeit innerhalb der SPD. Im Gegensatz zu anderen sozialdemokratischen Spitzenpolitikern seiner Generation wie etwa Egon Bahr, Hans Matthöfer, Horst Ehmke oder Hans-Jürgen Wischnewski, deren politisches Denken und Handeln schon in den 1950er-Jahren international ausgerichtet war, beschränkte sich sein Handlungsfeld jedoch weitgehend auf die Bundesrepublik. Bis zu seinem 50. Lebensjahr war er nicht aus Europa herausgekommen. Seine Souveränität in der niedersächsischen Landespolitik, in der sozialistischen Theoriediskussion und in der sozialdemokratischen Organisationspolitik hatten ihre Kehrseite in einem begrenzten Erfahrungsschatz bei außen- und wirtschaftspolitischen Themen. Ihm fehlten längere Aufenthalte im Ausland und der entsprechend selbstverständliche Umgang mit den ungeschriebenen Spielregeln der internationalen Politik. Für einen wirklichen Dialog mangelte es ihm auch an den notwendigen Sprachkenntnissen. Dies reduzierte unvermeidlich seinen Stellenwert als Spitzenpolitiker, je mehr ab den 1970er-Jahren transnationale Fragestellungen und internationale Verträge das politische Geschehen dominierten. Das leidenschaftliche Interesse für das Geschehen in der „Dritten Welt“ und in Lateinamerika, das beispielsweise seine Töchter wie viele aus ihrer Generation wie selbstverständlich mitbrachten, verstärkte bei ihm aber einen Perspektivwechsel, der ihn über das bundesrepublikanische Parkett hinaus agieren ließ.
Dabei stand insbesondere das humanitäre Engagement für verfolgte Sozialist:innen in Chile im Fokus. Von Oertzen wurde damit ein wichtiger politischer und finanzieller Förderer des sich international formierenden Menschenrechts-Aktivismus der 1970er Jahre. Der Putsch des chilenischen Militärs unter der Führung des Generals Augusto Pinochet am 11. September 1973 markierte für von Oertzen eine weltpolitische Zäsur, die ihn zum politischen Handeln trieb. Seine unmittelbare Sorge galt seiner jüngeren Tochter Susanna, die sich just zu dieser Zeit zu einem Auslandsemester in der Hauptstadt Santiago de Chile befand. Zu seiner Erleichterung konnte sie aber bald darauf ohne Schwierigkeiten das Land verlassen, in dem nun willkürliche Verhaftungen und der Einsatz von Terror, Folter und Mord gegen die Anhänger Salvador Allendes an der Tagesordnung waren.
Doch welche Möglichkeiten hatte von Oertzen im weit entfernten Deutschland, um selbst aktiv zu werden, ohne direkten Einfluss auf die Regierungspolitik und die Situation vor Ort? Als Kabinettsmitglied konnte er zumindest über die Flüchtlingspolitik in Niedersachsen mitbestimmen. Da viele politisch Verfolgte in die Deutsche Botschaft in Santiago de Chile oder in die argentinische Hauptstadt Buenos Aires flüchteten und dort um politisches Asyl baten, beschloss die sozialdemokratische Landesregierung im Dezember 1973, das Kontingent für chilenische Flüchtlinge zu erhöhen und die niedersächsischen Kommunen und das Auffanglager in Friedland um die Bereitstellung von Wohnraum zu ersuchen. Da sich die sozial-liberale Bundesregierung vor allem aufgrund der Haltung der FDP sträubte, mit einer freizügigen Asylpolitik eine Flucht von Chilen:innen nach Europa zu ermöglichen, sah er seine Aufgabe darin, auf die Parteispitze und auf Mitglieder der Bundesregierung einzuwirken, um den von einer breiten Solidaritätsbewegung artikulierten Forderungen nach humanitärer Hilfe Nachdruck zu verleihen. In seiner Partei konnte er dabei auf viele Gleichgesinnte zählen, nicht nur unter den Jusos.
Bereits im Oktober 1973 hatten SPD-Parteivorstand und Parteirat Resolutionen verabschiedet, die den Militärputsch und die Ermordung Allendes entschieden verurteilten und die Bundesregierung zu Sanktionen gegenüber der Militärjunta einerseits und zur Gewährung von politischem Asyl andererseits aufforderten. Wischnewski setzte sich als Bundestagsabgeordneter (und nach dem Kanzlerwechsel 1974 als Staatsminister im Auswärtigen Amt) für die Freilassung der inhaftieren Oppositionellen in Chile ein. Mit dem Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Hans Matthöfer, der die offiziellen Kontakte der Bundesregierung zu Allende geknüpft hatte und nun die Chile-Solidarität der SPD federführend organisierte, vereinte von Oertzen die Überzeugung, dass den verfolgten chilenischen Sozialist:innen schnell und unbürokratisch mit Stipendien oder Arbeitsplatzzusagen geholfen werden müsse.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung, die in Abstimmung mit Matthöfer ein Stipendienprogramm für chilenische Sozialwissenschaftler:innen aus Mitteln des BMZ aufgelegt hatte, setzte ihren Schwerpunkt auf eine Unterbringung der Geförderten an anderen Universitäten in Mittel- und Südamerika. Manche, die sich vor den Todesschwadronen Pinochets in die Deutsche Botschaft gerettet hatten, strebten dennoch nach Europa. In anderen lateinamerikanischen Staaten erwartete sie kein sicherer Aufenthalt, zudem drohte Pinochet mit einer Abriegelung der Grenzen.
Von Oertzen erfuhr von dieser Sachlage über persönliche Informanten aus Buenos Aires und Santiago. Der WDR-Auslandskorrespondent Peter Laudan, der sich zu Recherchen in Argentinien und Chile befand, war ein guter Bekannter von ihm. Von ihm hörte er aus erster Hand von den unsicheren Zuständen in der argentinischen Hauptstadt für Geflüchtete aus Chile. Der deutsche Soziologe Klaus Meschkat, der vom Regime über Wochen inhaftiert worden war und nur durch diplomatischen Druck wieder freikam, informierte von Oertzen nach seiner Freilassung regelmäßig aus Argentinien, wo er vom örtlichen FES-Büro unterstützt wurde. In der chilenischen Hauptstadt wiederum hielt der Wirtschaftswissenschaftler Karl-Heinz Stanzick, mit dem von Oertzen aus einem gewerkschaftlichen Zeitschriftenprojekt verbunden war, beim dortigen Instituto Latinoamericano de Investigationes Sociales (ILDIS) der FES zumindest bis April 1974 die Stellung, sodass die Solidaritätsbewegung in Deutschland einen Ansprechpartner vor Ort hatte.
Dank dieser exklusiven Informationen sah sich von Oertzen in der Position, im Parteivorstand sowie in persönlichen Briefen an Bundeskanzler Willy Brandt und einzelne Staatssekretäre auf ein stärkeres Engagement zu drängen. Auf seinen Vorschlag hin verabschiedete der SPD-Vorstand im Dezember 1973 eine Erklärung, dass der Bundeskanzler seine Richtlinienkompetenz dahingehend einsetzen solle, „mit allem Nachdruck bei den zuständigen Ressortministern darauf hinzuwirken, dass die erforderlichen Maßnahmen – insbesondere Stellung der Ausreiseanträge bei der Junta, Erteilung der Einreisegenehmigung, vor allem aus Drittländern – mit größtmöglicher Beschleunigung ergriffen werden.“
Doch auf diese Willenserklärung allein ließ es von Oertzen nicht ankommen. Bereits zuvor hatte er in einem persönlichen Gespräch und in einem Brief „herzlich, ja flehentlich“ an Brandts Einsicht appelliert, „dieses Problem nicht als eine zweitrangige Angelegenheit zu betrachten.“ Mit Bezug auf dessen Engagement im spanischen Bürgerkrieg 1936 mahnte er: „Chile ist für mich eine Art von Prüfstein, so wie für Deine Generation vielleicht Spanien eine Art von Prüfstein war.“ Die SPD setze ihre „Glaubwürdigkeit in gewissen moralisch-politischen Grundsatzfragen“ aufs Spiel und riskiere „eine Zerstörung des Vertrauens“ und „eine Vergiftung der politischen Diskussion“, wenn sie nicht „wenigstens gegenüber den Flüchtlingen bedingungslos Solidarität“ wahre. Um die Ernsthaftigkeit seiner Haltung zu unterstreichen, deutete er sogar persönliche Konsequenzen an, falls die Bundesregierung keine Kurskorrektur vornehme: „ich sage ganz offen: müsste ich zu der Erkenntnis kommen, dass unter Umständen hier taktische Rücksichten gegenüber dem Koalitionspartner eine unbedingte moralisch-politische Verpflichtung beeinträchtigt hätten, dann wäre in meinem Vertrauen zur Partei ein entscheidendes Stück unheilbar zerstört.“
In den nächsten Monaten betätigte er sich als Kontaktstelle und Vermittler zwischen der internationalen Solidaritätsbewegung, der Bundesregierung und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Geld spielte dabei natürlich eine gewichtige Rolle. So organisierte er über den SPD-Schatzmeister und FES-Vorsitzenden Alfred Nau eine Unterstützung in Höhe von 10.000 DM für das Comite de Solidaridad con la Lucha de los Pueblos Latinoamericanos, das sich für die chilenischen Flüchtlinge in Buenos Aires einsetzte. Über Stanzick und das ILDIS stellte von Oertzen aus seinen privaten Rücklagen die gleiche Summe zur Verfügung, um die Arbeit des engagierten deutschen Pfarrers Helmut Frenz, den späteren Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International, für Verfolgte und Inhaftierte vor Ort zu unterstützen und Flugtickets für Ausreisewillige zu finanzieren.
Zusammen mit dem Berliner Chile-Komitee vermittelte er Studienplätze, Stipendien und Arbeitsstellen für politisch exponierte und in ständiger Lebensgefahr schwebende chilenische, bolivianische und brasilianische Studierende und Wissenschaftler:innen, um ihnen von ihren Fluchtorten in Argentinien oder Mexiko die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Sie scheiterten mitunter an den Sicherheitsbedenken der deutschen Staatsschutzbehörden, die eine Einreise von terroristischen Strömungen befürchteten. Von Oertzen argumentierte in dieser Situation gegenüber Brandt, dass man angesichts von diktatorischen Regimen und dem nachgewiesenen Einsatz von Folter gegen Oppositionelle in Brasilien, Chile oder Argentinien nicht die gleichen Kriterien für politisches Engagement anlegen dürfe wie in der Bundesrepublik: „Die Frage, wie man ein Regime gleich dem brasilianischen anders als mit Gewalt bekämpfen soll, hätte ich bei Gelegenheit von der politischen Führung des Auswärtigen Amtes bzw. der FDP sehr gern beantwortet.“ Er betrachtete die Situation in Brasilien und Chile als Bürgerkrieg: „so wie die Dinge jetzt liegen, können wir gegenüber der chilenischen Linken nur an zwei Orten stehen: diesseits der Barrikade oder jenseits.“ Er verglich den bewaffneten Widerstand in Lateinamerika deshalb mit den Hitler-Attentätern des 20. Juli 1944, die in einer rechtlosen Situation zum Einsatz von Gewalt gegriffen hatten.
Zu seinem 50. Geburtstag, den von Oertzen am 2. September 1974 beging, bat er um einen Verzicht auf Geschenke und stattdessen um Spenden für die Chile-Arbeit von Amnesty International. 3.800 DM kamen auf diese Weise zustande, unter anderem von Herbert Wehner, Hans-Jürgen Wischnewski, Holger Börner und Hans Matthöfer. Dank dieser und weiterer Geldsammlungen im Partei- und Gewerkschaftsmilieu konnte ein eigenes Büro für die Chile-Ko-Gruppe von Amnesty International in Frankfurt am Main finanziert werden. Insgesamt spendete von Oertzen für die Chile-Solidarität über die Jahre „mehrere 10.000 DM“, was nach seinen Aussagen den größten Teil seiner finanziellen Reserven ausmachte.
Philipp Kufferath
Zum Weiterlesen:
Philipp Kufferath: Peter von Oertzen (1924–2008). Eine politische und intellektuelle Biografie, Wallstein Verlag, Göttingen 2017. Eine englische Übersetzung erscheint 2025 bei Brill.
Philipp Kufferath: Stratege, Netzwerker und Brückenbauer. Zum 100. Geburtstag des sozialistischen Intellektuellen Peter von Oertzen (1924–2008).
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