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Das Foto von Philipp Scheidemanns Ausrufung der Republik am 9. November 1918 ist kein Fake. Es steckt voller Rätsel - aber Rätsel kann man lösen ...
9. November 1918: Ende des Kaiserreichs und Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann – sofort sehen wir den damaligen Staatssekretär, SPD-Parteivorsitzenden und späteren Reichsministerpräsidenten am Fenster stehen. Doch Halt, sollte das nicht auf einem Balkon des Reichstagsgebäudes geschehen sein? Welche Aufnahmen zeigen nun das Ereignis? Die Fotos und Filmfragmente von Fenstern des Reichskanzlerpalais an der Wilhelmstraße? Oder der fast verwackelte Schnappschuss vor dem Reichstagbalkon?
Die fotografische, filmische und auch schriftliche Überlieferung zur Ausrufung der Republik während der Novemberrevolution in Berlin ist ein verworrenes Geflecht, in das sich Fehler und Ungereimtheiten hineingeschlichen haben. Manchen ist das vielleicht zu anstrengend, denn sie möchten uns glauben machen, die Fehler und Ungereimtheiten steckten in den Dokumenten selbst – als handele es sich um die Auswüchse bewusst versuchter Irreführung. Als seien uns damals wie heute montierte, gefälschte, nachträglich inszenierte oder mutwillig vertauschte Aufnahmen untergejubelt worden, um perfekte Bilder für etwas zu liefern, das eigentlich gar nicht dokumentiert sei und das sich als geschichtliche Randnotiz viel nebensächlicher, unspektakulärer abgespielt habe oder – darauf läuft es perfide zwischen den Zeilen hinaus – das sich womöglich nicht einmal in irgendeiner Form ereignet habe, sondern aus "Mangel an identitätsstiftenden Momenten heraus" als "Scheidemann-Legende" fabriziert worden sei. So wurden und werden Verdächtigungen gestreut und Zweifel an der Echtheit von Bildmaterial und schriftlich fixierter Rede geschürt, um den wichtigen Text- und Fotozeugen den Malus der Manipulation anzuhängen.
In Wirklichkeit haben wir es mit keiner "Legende", sondern höchstwahrscheinlich mit größtenteils rundum authentischen Dokumenten (Ausnahmen: einige schriftliche Erinnerungen) zu tun, deren Überlieferung hingegen in den vergangenen hundert Jahren arg gelitten hat, so dass vieles aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen worden ist. Fügen wir möglichst alles wieder zusammen: es gibt interessante, teils bislang nicht beachtete Spuren und Indizien zu entdecken.
Was genau Philipp Scheidemann – nachdem er in den späten Mittagsstunden des 9. November etwa zwischen 13.30 und 14 Uhr im Restaurant des Reichstags aufgebrochen war – vom Balkon aus zu der in ihrem Umfang nicht bezifferbaren Menschenmenge gesprochen und gerufen hat, darüber gibt es verschiedene, teils vermeintlich, teils tatsächlich abweichende Berichte mehrerer Zeugen, denen wir in einem späteren Blogbeitrag auf den Zahn fühlen werden. Zuallererst nehmen wir das Foto unter die Lupe, welches jenen historischen Augenblick von Scheidemanns Ansprache – wohl kaum exakt die Sekunden der Ausrufung – eingefangen hat. Es ist das einzige Bild, das hiervon überliefert ist: weniger eine professionelle Fotografie, mehr ein Schnappschuss, dem im Laufe der Jahre und Jahrzehnte alle anderen, hochwertigen Scheidemann-am-Fenster-Fotografien den Rang abgelaufen haben, so dass diese dem originalen Schnappschuss der Ausrufung immer wieder vorgezogen werden.
Die Erstveröffentlichung des Schnappschusses erfolgte in der Berliner Illustrierten Zeitung, Nr. 47 vom 24. November 1918, also fünfzehn Tage später – nicht auf der Titelseite, sondern auf Seite 4 als "seltene Aufnahme" in durchaus großem Format (11 x 15,5 cm). Das ursprüngliche belichtete Negativ oder Positiv (auf Fotoplatte oder – wahrscheinlicher – auf Rollfilm) gilt als verschollen. Ein als Original angesehener, mit 3,8 x 5,5 cm recht kleiner Kontaktabzug befindet sich in der fotografischen Sammlung Ullstein, zu deren Verlag die Berliner Illustrierte Zeitung gehörte. Ob die Rückseite dieses Abzugs aufschlussreiche Merkmale bzw. Notizen enthält, ist nicht bekannt.
Was sehen wir auf dem Schnappschuss? Drei Balkons im Hauptgeschoss an der Westfassade des Reichstagsgebäudes mitsamt ihren hohen Fenstern, auf dem mittleren Balkon sind neben- und hintereinander mindestens zehn Personen versammelt – einer von ihnen, allem Anschein nach der Redner, steht mit beiden Füßen auf der Brüstung des Balkons, ohne sich abzustützen. Ihm bzw. ihnen winken und jubeln mit geschwenkten Hüten unten im vorderen Bereich des Bildes etwa zwei Dutzend Bürger (wohl allesamt männlich) zu, die der Kamera ihre Rücken zuwenden. Der Kontaktabzug weist an den Rändern zwei interessante Details auf, die in jeder Druckfassung weggeschnitten worden sind. Zum einen steht ganz rechts auf dem benachbarten Balkon noch eine weitere Person. Zum anderen verläuft an der oberen linken Ecke eine schräge Linie, bei der es sich um den originalen Bildrand handeln könnte: es sieht ganz so aus, als sei das Foto schief aufgenommen und durch Zuschnitt begradigt und verkleinert worden.
Das Reichstagsgebäude verfügt allein an der Westfassade über zwölf Balkons, aber der Schauplatz dieser Szene ist dennoch zu lokalisieren. Jeweils ein breiterer Balkon ganz links und rechts in den Ecktürmen spielt von vornherein keine Rolle; außerdem werden nur sechs Balkons – Nr. 3, 4, 5, 8, 9, und 10 – links und rechts von einem identischen Balkon flankiert. Von diesen sechs bleiben wiederum nur noch drei übrig, wenn man die Berichte der anwesenden Zeugen hinzunimmt, die Scheidemanns Laufweg beschrieben haben: demnach betrat er die nördliche Wandelhalle, hielt sich dort nicht lange auf, stürmte ins Postzimmer (dessen Balkon hinter Tresen und Arbeitstischen nicht ohne weiteres zugänglich war) und von dort aus durch eine Verbindungstür ins angrenzende, große Lesezimmer, dem Balkon Nr. 2, 3, 4 und 5 vorgelagert waren. Mehrere Männer, zumeist weitere Reichstagsabgeordnete, folgten ihm – auf jenen Balkon, der dem Eingang des Lesezimmers am nächsten lag.
Dass der Architekt und die Bauherren des Reichstagsgebäudes bei der Dekoration des Mauerwerks außen wie innen ihrem Faible für verzierendes Geschnörkel freien Lauf ließen und allerlei bedeutungsschwangeren Fassadenschmuck anbrachten, ist heute noch beispielsweise an den beiden Wappenfriesen des großen Portals zu erkennen. Nicht wiederhergestellt wurden nach 1945 hingegen die zehn wohl weitgehend zerstörten Schlusssteine eines jeden wuchtigen Fensters der Westfassade im Hauptgeschoss mit jeweils einem weiblichen oder männlichen Nixenkopf als idealisierte Allegorie von Flüssen, die das Deutsche Reich durchströmten – und auch die Wappen jeweils einer Reichsstadt über jeder Balkon-Glastür gehören nunmehr der Vergangenheit an. Während die Flüsse in ihrer künstlerischen Gestaltung schwer zu bestimmen und in ihrer Abfolge nicht gesichert zu sein scheinen, listet eine zeitgenössische Abhandlung, die alle kleinen wie groben Schnitzer im heraldischen Zuckerguss aufspießt und gnadenlos seziert, die an den Balkons der Westfassade links und rechts vom Portikus angebrachten zwölf Wappen von links nach rechts präzise auf: "Stuttgart, Frankfurt a. M., Leipzig, Köln, München, Berlin (hier kommt das Portal), Breslau, Dresden, Königsberg, Straßburg, Nürnberg und Hannover". Wer auf dem Schnappschuss der Ausrufung genau hinsieht, erkennt die drei Kölner Kronen mitsamt der elf Tropfen bzw. Tränen über der linken Balkontür, das Münchner Kindl hinter Scheidemann und rechts den Berliner Bären. Es war also der zweite Balkon links vom Portal. Er ist seit langem als der Ort der Ausrufung der deutschen Republik bekannt und wird im Deutschen Bundestag durch Gedenktafeln klar identifiziert. Was die Zweifler freilich nicht daran hindert, diesen hochrangigen Erinnerungsort als verklärendes Denkmal, als geschichtsleere Kulisse einer Inszenierung zu bespötteln.
Später entstandenen Fotos Scheidemanns an verschiedenen Fenstern des Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße wurde und wird auch heute noch leichtfertig nachgesagt, dort sei die Ausrufung entweder am Nachmittag des 9. November wiederholt oder gar bis zu zehn Jahre später nachgestellt worden. Das ist, wie sich in einem späteren Blogbeitrag zeigen wird, blanker Unsinn. Doch die Mär von der für die Kameras nachgespielten Ausrufung hat sich derart hartnäckig gehalten, dass diese haltlose Verdächtigung zuweilen selbst dem Schnappschuss vor dem Reichstagsgebäude angehängt wird: als sei Scheidemann einige Tage später – irgendwann vor dem 24. November – noch einmal bzw. erst jetzt auf den Balkon gestiegen, um vor bestellten Claqueuren und nur einem einzigen Fotografen Theater zu spielen ...
Manche Historiker glauben heute zu wissen, niemand habe den vom Balkon aus sprechenden Scheidemann verstehen können. Und auch sonst sind viele vorschnelle Urteile gefällt worden über die auf dem Foto sichtbare Figur des sich in halsbrecherischer Höhe auf angeblich "äußerst schmaler" Balkonbrüstung angeblich "akrobatisch" bewegenden Redners, der in seiner Größe angeblich nicht zu den anderen Balkongästen passe. Das sind alles nur Behauptungen, die letztere lässt sich per Lineal am schnellsten widerlegen. Und wer kann schon mit Sicherheit sagen, ob Scheidemann schwindelfrei war oder nicht? Seine späteren Auftritte auf den Fensterbrettern der Reichskanzlei mehrere Meter über dem Straßenboden sprechen eher dafür. Wer weiß denn, ob Scheidemann ungesichert auf der Brüstung stand oder ob er an den Unterschenkeln festgehalten wurde? Zeugenberichte weisen explizit darauf hin; möglicherweise ist der neben Scheidemann stehende Herr soeben dabei, zuzugreifen. Wissen wir, wie lange er überhaupt auf der Brüstung stand? Womöglich datiert das Foto aus den Sekunden vor seiner Ansprache? Anfangs wird er sicherlich mit Jubel und geschwenkten Hüten begrüßt worden sein, so dass er mit erhobener Hand für Ruhe sorgen und sich Gehör verschaffen musste? Niemand weiß, wie es danach weiterging: sprang er kurz danach wieder zurück auf sicheren Boden? Wer will das so genau sagen können, wo es doch nur dieses eine Foto gibt? Genau bekannt hingegen ist, dass die aus massivem Stein gehauene Brüstung des Balkons mit mehreren Handbreit allemal solider und breiter gebaut ist als manche dies auf dem Papier unterstellen. Und schließlich vermag niemand abzuschätzen, wie laut Scheidemann zu reden pflegte – eben dies darf bei populären und rhetorisch gewandten Politiker_innen jener Jahrzehnte, in denen man sich auf großen Versammlungen noch nicht auf technische Verstärkung via Mikrofon und Lautsprecher verlassen konnte, als Grundqualifikation getrost vorausgesetzt werden, zumal die Mauern und Säulen des rechterhand benachbarten Reichstagsportals seine Schallwellen reflektiert haben könnten. Zudem wissen wir nicht, wie der Wind an der Westfassade wehte und wie viele unten wirklich zuhörten, da außer diesem Schnappschuss keine verlässlich zu datierende Aufnahme der gesamten Menschenmenge vor dem Reichstagsgebäude am Mittag des 9. November existiert (siehe unten).
Um die Fotografie als lediglich "gefühlt authentisch" und somit als Fälschung beiseiteschieben zu können, mäkeln die Zweifler an vorgeblichen Merkwürdigkeiten herum, die dem Foto vor allem bei der Erstveröffentlichung eigen sind. Ja, in der Berliner Illustrierten Zeitung wurde der im Original gänzlich verschwommene Kopf des Redners mit winzigen Strichen so retuschiert, dass Gesichtszüge ansatzweise erkennbar scheinen – allerdings verstärkte man damals in Fotografien Konturlinien und zeichnete feine Details nach, das war bei Illustrierten eine angesichts der Unzulänglichkeiten des damaligen Druckverfahrens gängige Praxis.
Ja, die Figur des Redners weist in der Berliner Illustrierten Zeitung an den Beinen merkwürdig gerade, helle Umrisse auf, wie eine woanders ausgeschnittene und in das Foto hinein geklebte Silhouette. Und ja, später (1919 im Deutschen Revolutions-Almanach zur Illustration des wichtigen Berichts eines Anwesenden sowie spätestens 1928 in Scheidemanns Memoiren eines Sozialdemokraten) sind zwei verschiedene Zeichnungen aufgetaucht, die das Gezeigte mehr interpretierten als dokumentierten, indem die Personen auf dem Balkon eindeutige Gesichtszüge erhielten und die Menschenmenge ins Uferlose potenziert wurde. All dies sind jedoch Bearbeitungen, die Tage, Monate oder Jahre danach durch Dritte vorgenommen wurden und die der originalen Fotografie nicht anzulasten sind.
Die Druckfassung in der Berliner Illustrierten Zeitung ist als Erstveröffentlichung der Fotografie und aufgrund der Angabe ihres Fotografen "Erich Greiser, Berlin-Lichtenberg" von immenser Bedeutung, ansonsten taugt dieser Abdruck praktisch nichts. Die nach dem Originalabzug wohl wichtigste Druckfassung ist vielmehr eine von zwei verschiedenen undatierten, aber von einer dem Verbund Neue Bromsilber-Convention angeschlossenen Druckerei vermutlich noch 1918 hergestellten Postkarten, die das originale Foto nahezu vollständig und in ausgezeichneter Qualität abbildet und dabei offensichtlich auf jegliche Retusche verzichtet. Hier sucht man die angeblichen scharfen Kanten an den Beinen des Redners (der sich übrigens im Fenster dahinter spiegelt!) vergebens – weil es sie nicht gegeben hat und weil sie ausschließlich bei der fotomechanischen Reproduktion für die Berliner Illustrierte Zeitung entstanden sind. Dasselbe gilt für den nur wenige Tage nach der Erstveröffentlichung erfolgten Abdruck des Schnappschusses in der Wiener Illustrierten Zeitung vom 8. Dezember 1918 (vgl. ANNO), den bislang niemand beachtet hat und der ebenfalls eine eigenständige Wiedergabe des Originals in weitaus besserer Qualität bietet.
Wer es darauf anlegt, die Fotografie als eine aus verschiedenen Elementen zusammengesetzte Bildmontage zu diskreditieren, sollte hierfür Belege liefern, anstatt von irgendwelchen Gutachten ungenannter Fotografieexperten zu raunen und zu behaupten, dass die Perspektive und die Proportionen der dargestellten Personen angeblich "seltsam unstimmig" seien. Man könnte sich auch einfach mal mit den damaligen baulichen Gegebenheiten vor Ort vertraut machen, zumal ihnen die heutige Architektur sehr weit ähnelt. Es ist nämlich ganz einfach:
Die Menschen im ersten Stock sind mitnichten zu klein. An einem solchen Balkon des Reichstags können zwischen beiden Säulen sehr wohl sechs oder sieben Menschen nebeneinander stehen – mit zahlreichen, im Internet veröffentlichten Erinnerungsfotos von Repräsentanten des Staates (vgl. bundesbildstelle.de) und von Besuchergruppen (vgl. Twitter: Tweet 1 und 2) während ihres geschichtlichen Abstechers auf den Scheidemann-Balkon gibt es genügend Anschauungsmaterial.
Unten vor der Westfassade des Reichstagsgebäudes führte links wie rechts (ebenso wie heutzutage auch!) eine lange, leicht geschwungene und sanft ansteigende Rampe vom Erdboden hinauf zu der erhöhten Freitreppe vor dem Portikus. Die auf dem Schnappschuss abgebildete Reihe der jubelnden Bürger ist leicht schief, nämlich rechts höher als links, weil der feste Untergrund, auf dem sie alle stehen, zur rechten Seite hin ansteigt. Auch der Fotograf stand auf dieser schiefen Ebene, weswegen das Foto – wie oben bemerkt – leicht schief geknipst worden sein dürfte. Die Bürger erscheinen zudem weitaus größer als die Personen im ersten Stock, weil sie vom Balkon viel weiter entfernt sind, als es aus diesem Blickwinkel zunächst scheinen mag, denn sie stehen keineswegs direkt an der Fassade des Reichstags: zwischen der Fassade und dem Rand der Rampe klaffte ein Freiraum von etwa neun oder zehn Metern. Andere Fotos des Reichstagsgebäudes zur damaligen Zeit, auf denen die erste, links wie rechts symmetrisch gebaute Rampe vor allem von der Seite her gut einzusehen ist – etwa eine Fotografie des Trauerzuges für Reichskanzler Hermann Müller anno 1931 – zeigen auf, wie der Schnappschuss entstanden sein dürfte:
Die sichtbaren Zuhörer werden auf dem Bürgersteig an der dem Reichstag zugewandten Mauer der Rampe gestanden und Scheidemann zugewunken haben, während der Fotograf so weit wie möglich zurück lief. Die breite Rampe bot ihm Platz genug, zumal er auf die andere, dem Kaiserplatz zugewandte Mauer der Rampe geklettert sein mag. Machbar war dies auf jeden Fall, denn an der etwa ein Meter hohen Mauer verlief auf halber Höhe in ganzer Länge ein Vorsprung, der mit Leichtigkeit als Steighilfe für einen Zwischenschritt zu nutzen war; auf der breiten Mauer konnte man gefahrlos stehen, ja, selbst ein Stativ aufstellen (was am 9. November wohl nicht geschah, aber auf Fotos von anderen Anlässen vor dem Reichstag oft der Fall ist). Auf dieser Mauer hätte der Fotograf mit seiner Kamera die Köpfe der auf der anderen Seite der Rampe versammelten Bürger wohl tatsächlich so überragt, wie es auf seinem Foto der Fall ist.
Führt man sich all dies vor Augen, so ist partout nicht einzusehen, was an Erich Greisers Fotografie "unstimmig" sein soll. Es ist ein keineswegs perfekt gelungenes Foto, vielmehr ein schiefer, so gerade eben nicht verwackelter Schnappschuss, der in der Aufregung kaum besser gelingen konnte und der gerade deshalb authentisch ist.
In ihrem Eifer, der Fotografie jeglichen dokumentarischen Wert abzusprechen und sie wahlweise als Bildmontage oder als nachgestelltes Schmierentheater abzustempeln, hat manch einer auch vor dem Fotografen nicht haltgemacht und Zweifel an dessen Identität bzw. Existenz gesät – eine Identität, von der dank der Berliner Illustrierten Zeitung immerhin der Name "Erich Greiser" mitsamt ungefährem Wohnsitz "Berlin-Lichtenberg" überliefert ist. (Wer indes nach "Erich Greifer" sucht – hat da jemand den irgendwo in Fraktur gedruckten Namen nicht richtig entziffert? – kommt natürlich vollends vom Weg ab ...)
Wie ist Erich Greiser ausfindig zu machen? Es liegt nahe, ihn in den Berliner Adressbüchern jener Jahre zu suchen – und tatsächlich kommen in den von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin digitalisierten Adressbüchern von 1918 und 1919 zwei Einträge für jeweils einen Erich Greiser zum Vorschein. Manche Zweifler ließen es damit bewenden und leiteten daraus, dass der eine Erich Greiser als Kupferschmied und der andere Erich Greiser als Mechaniker seinen Lebensunterhalt verdiente, umgehend den Trugschluss ab, diese beiden kämen kaum in Frage, denn gesucht sei ja ein Fotograf dieses Namens, von dem nach wie vor jede Spur fehle, zumal einem Berliner Fotohistoriker der Name "Erich Greiser" gänzlich unbekannt sei. Derart abenteuerliche Argumente bemüht wohl nur, wer kategorisch ausschließt, dass der Schnappschuss einem Amateurfotografen gelungen sein könnte. Während der Kupferschmied Erich Greiser über Jahre hinweg in N 113 (Berlin-Wedding) in der Dänenstraße 6 ansässig war und daher ausscheidet, wohnte der Mechaniker Erich Greiser anno 1918 bzw. schon seit längerer Zeit in O 112 in der Finowstraße 27a (ein Eckhaus inkl. zweiter Adresse Oderstraße 11) – in Berlin-Lichtenberg (heute: Friedrichshain)! Warum soll er nicht eine kleine Fotokamera mit Rollfilm besessen und in seiner Freizeit damit fotografiert haben? Genauere, biografische Informationen zu diesem Herrn wären möglicherweise noch zu ermitteln; bereits jetzt steht nach Recherchen in den im Landesarchiv Berlin verwahrten und im Genealogie-Portal Ancestry digitalisiert vorliegenden Personenstandsregistern der Berliner Standesämter fest, dass er am 26. Oktober 1883 als Karl Heinrich Erich Greiser in Berlin auf die Welt kam, am 28. März 1908 geheiratet hat (Braut: Frieda Peters), anschließend in das Eckhaus Finowstr. 27a / Oderstr. 11 zog, wo die Familie Ende 1911 ein Kind bekam, das im Januar 1913 starb, dass Greiser den Adressbüchern zufolge 1921 oder 1922 Berlin-Lichtenberg verließ, offenkundig um nach Berlin-Mahlsdorf zu ziehen, wo er Jahre später, am 6. April 1939 nach "Selbstmord durch Erhängen" in seiner Wohnung tot aufgefunden wurde. (All diese einzelnen Puzzlestücke fügen sich dank übereinstimmenden Angaben zu Beruf, Wohnort, Ehepartnerin, Eltern und anderen Daten in mehreren Urkunden zweifelsfrei zusammen.)
Obwohl die Personenstandsregister in ihrer Eigenschaft als die wichtigste und vor allem verlässliche genealogische Quelle weitaus umfangreichere Informationen als die Berliner Adressbücher bieten, scheint in ihnen noch niemand gesucht zu haben, sonst wäre wohl längst aufgefallen, dass dort sogar ein weiterer Erich Greiser in Berlin-Lichtenberg als zweiter Kandidat für den Urheber des Schnappschusses auftaucht. Jener Erich Fritz Greiser war Maschinenarbeiter und wurde am 14. September 1900 in der Scharnweberstraße 43 in Berlin-Lichtenberg (heute: Friedrichshain) in unklare Familienverhältnisse hinein geboren. Seine Geburtsurkunde erzählt, dass er mit ursprünglich anderem Nachnamen als unehelicher Sohn der Dienstmagd Auguste Emma Burisch auf die Welt kam. Am Rande dieses Eintrags im Geburtenregister wurde später vermerkt, dass Erich Fritz Burisch mit Wirkung vom 15. Dezember 1921 seinen Nachnamen in Greiser umändern ließ. Die Gründe hierfür sind derlei amtlichen Anmerkungen nicht zu entnehmen, doch vieles spricht dafür, dass Erich im frühen Kindesalter zur Adoption freigegeben wurde und bei einer Familie Greiser aufwuchs – höchstwahrscheinlich bei dem Stakermeister Gustav Greiser, der bereits 1900 in eben jener Scharnweberstraße nur einige Häuser entfernt wohnte und der am 17. März 1928, als Erich Fritz Greiser in Berlin-Lichtenberg heiratete (Braut: Erna Charlotte Auguste Bartz), als dessen Trauzeuge im Alter von 63 Jahren zugegen war – inzwischen wohnte er wie auch Erich in der von der Scharnweberstraße abzweigenden Kronprinzenstraße 52 (heute: Jessnerstraße). Es ist wohl anzunehmen, dass Adoptivsohn Erich nicht erst nach Erreichen der Volljährigkeit den Nachnamen Greiser offiziell übernommen, sondern ihn auch vorher wie selbstverständlich mit sich geführt haben wird und ihn im November 1918 jenen Presseleuten genannt hätte, denen er seinen Schnappschuss übergab. Das sind freilich nur Vermutungen, aber so könnte es sich abgespielt haben. Falls er jener Erich Greiser war, so wäre der Fotograf des Schnappschusses – entsprechenden Randvermerken auf seiner Geburts- und auf seiner Heiratsurkunde zufolge – am 17. September 1973 in Königs Wusterhausen gestorben. Wohlgemerkt: in Brandenburg, in der DDR. Vielleicht eine triftige Erklärung dafür, dass er in all den Jahrzehnten der Nachkriegszeit das Foto der Ausrufung der Republik durch den erfolgreichen Konkurrenten Karl Liebknechts nicht für sich reklamierte?
Wer von den beiden es auch gewesen sein mag: Erich Greiser ist kein Phantom. Mindestens zwei mögliche Kandidaten kommen für den Amateurfotografen ernsthaft in Betracht und es gibt keinen Grund, dem als Urheber des Schnappschusses genannten "Erich Greiser, Berlin-Lichtenberg" seine Existenz abzusprechen.
Von all den Nebelkerzen, die rund um den Ausrufungs-Schnappschuss und seine Abdrucke geworfen worden sind, bleibt im Grunde nur heiße Luft übrig – wenn man genau hinsieht und sich nicht von den Fehlerchen und falschen Behauptungen täuschen lässt, die bis heute nicht nur durch die Datenbanken der Bildagenturen wabern, sondern die auch – leider – selbst in verdienstvollen Veröffentlichungen anzutreffen sind. Und damit sind nicht nur Schulbücher gemeint. Wenn sogar in zwei großangelegten, anlässlich des 100-Jahre-Jubiläums veröffentlichten Dokumentationen der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages der Schnappschuss mit der Behauptung "Fotomontage: nachgestellte Szene vom November 1918" erscheint und mehrmals im Brustton der Überzeugung behauptet wird, "dass es kein authentisches Bildmaterial von Scheidemanns Auftritt am 9. November 1918 gibt", da "die überlieferten Fotografien und Zeichnungen […] alle im Nachhinein erstellt bzw. nachgestellt worden" seien, ohne dass eine genauere Untersuchung stattfindet – dann ist da leider jemand den notorischen Zweiflern auf den Leim gegangen. Geschieht das an so herausgehobener Stelle, ist es natürlich Wasser auf die Mühlen derer, die fortwährend das Märchen von der "Scheidemann-Legende" kolportieren. Richtig ist es deshalb noch lange nicht.
Dem Schnappschuss vom 9. November 1918 wird offenbar keinerlei Eignung zur Bild-Ikone beigemessen, so dass Bildredaktionen viel zu oft und allzu bereitwillig auf eine der zahlreichen Aufnahmen Philipp Scheidemanns an Fenstern des Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße zurückgreifen, wann immer es gilt, die Ausrufung der Republik zu illustrieren. Was als Reflex zwar durchaus verständlich ist, der damit einhergehenden Geschichtsvermittlung aber einen Bärendienst erweist – noch dazu, wenn derlei als Symbolbilder missbrauchte Ersatzmotive nicht genauso gekennzeichnet, sondern schlechterdings als Aufnahmen vom 9. November verkauft oder gar als "nachgestellt" entwertet werden.
Die möglichst richtige Datierung und Einordnung historischer Fotografien ist ein mühseliges, extrem kleinteiliges Geschäft, für das im hektischen Alltag stark frequentierter Bildagenturen offensichtlich nicht immer Zeit bleibt. Gleichwohl wäre es eine lohnende Aufgabe, im Wirrwarr der Scheidemann-am-Fenster-Fotos gründlich aufzuräumen und den alten Fotografien ihren historischen Kontext zurückzugeben. Wir werden das – so gut es eben geht – in einem bald folgenden Blogbeitrag versuchen und werfen nun abschließend noch einen Blick auf ein Foto ohne Philipp Scheidemann, das nahezu überall der Ausrufung der Republik am Reichstag zugeschrieben wird – das aber im Gegensatz zum Schnappschuss sicherlich nicht von jenem Ereignis stammt ...
Die imposante, vermutlich vom Dach eines Kraftfahrzeugs aus erstellte Aufnahme einer Menschenansammlung am Bismarck-Denkmal auf dem dicht an dicht gefüllten Königsplatz vor dem Reichstagsgebäude wird heutzutage oft auf den 9. November 1918 datiert und zur Illustration der Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann genutzt. Dies ist keiner neuzeitlichen Schludrigkeit geschuldet, denn bereits Ende 1918 brachten etliche (vor allem auswärtige) Publikationen dieses Foto mit diesem Ereignis in Verbindung, obwohl oder gerade weil der Balkon des Lesezimmers hinter dem linken Bildrand verschwindet.
Als mutmaßliches Pendant dieses Fotos existiert eine Aufnahme, die im Gegenschuss die Szenerie auf dem Königsplatz aus dem diagonal entgegengesetzten Blickwinkel – inkl. Siegessäule an ihrem damaligen Standort – abgelichtet hat. Auch auf diesem Foto hat ein Demonstrant tollkühn die Atlas-Skulptur am Bismarck-Denkmal erklommen und thront breitbeinig auf der Himmelskugel – was allein noch kein Beweis ist, denn bei späteren Demonstrationen anno 1919 kam dies ebenfalls vor. Aber höchstwahrscheinlich sind auf beiden Fotos dieselben weiteren, im wahrsten Sinne des Wortes herausragenden Demonstrant_innen bei den Figurengruppen des Denkmal-Ensembles am jeweils gleichen Ort zu sehen, ebenso auf einem undatierten Foto, das am 24. November 1918 in der Wiener Illustrierten Zeitung (vgl. ANNO) erschien. Das Gegenschuss-Motiv mit der Siegessäule wurde wohl zuerst in der Vossischen Zeitung in deren Beilage Zeitbilder am 17. November 1918 publiziert (vgl. ZEFYS – S. 1) und dort – ebenso wie in der Zeitschrift Wiener Bilder am 24. November 1918 (vgl. ANNO) – auf den 10. November datiert.
Auf allen drei Fotos fällt die helle Sonneneinstrahlung auf, welche zu der auf praktisch sämtlichen Bildern vom 9. November dokumentierten trüben Wetterlage – anfangs regnerisch, später diesig-bewölkt und grau – nicht so recht passen will. Freilich könnte am 9. November zwischendurch einmal die Wolkendecke durchbrochen worden sein, doch die Daten der unweit gelegenen Wetterstation Dahlem weisen den 10. November klar als freundlicher und auch sonniger aus (vgl. kachelmannwetter.de). Mehr noch: auf dem Foto des Reichstagsgebäudes zeigen sowohl die langen Säulen der Westfassade und der Sockel des Bismarck-Denkmals einerseits wie auch die Schlagschatten der im vorderen linken Bereich stehenden Demonstrant_innen auf dem Boden andererseits recht präzise – einer Sonnenuhr gleich – an, dass die Sonne gerade so im Süden steht, dass ihre Strahlen eben erst um den südwestlichen Eckturm des Reichstags herum gewandert zu sein scheinen und nun auch die Fassade der Westseite erreicht haben. Einfachen astronomischen Berechnungen zufolge war dies in diesen beiden Novembertagen ziemlich exakt mittags, also gegen halb zwölf bis 12 Uhr der Fall (vgl. sonnenverlauf.de) – für die Ausrufung am 9. November zwischen 13.30 und 14 Uhr ist dies deutlich zu früh. Auch deshalb spricht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alles für den 10. November. Für diesen Tag war in mehreren Tageszeitungen, u.a. in der Morgenausgabe der Vossischen Zeitung vom 10. November 1918 (vgl. ZEFYS – S. 2), zur großen Volksversammlung am Bismarck-Denkmal vor dem Reichstag aufgerufen worden – um 12 Uhr.
All dies sind genügend Anzeichen dafür, dass die drei Fotos der Menschenmenge vor dem Reichstagsgebäude am 10. November entstanden sein dürften. Die einzige erhalten gebliebene Fotografie, die sich dank zahlreicher Indizien der tatsächlich erfolgten Ansprache und Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann auf dem Balkon des Reichstages am 9. November 1918 zuordnen lässt, ist und bleibt Erich Greisers Schnappschuss.
Sven Haarmann
Fortsetzung folgt: Das Scheidemann-Rätsel (2): Die Ausrufung der Republik Das Scheidemann-Rätsel (3): Das Fenster zur Wilhelmstraße
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Dieser Beitrag von Dr. Bernd Braun erschien 2012 und war Teil des Projekts "Erinnerungsorte der Sozialdemokratie".
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