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Mit Karl Marx und Ferdinand Lasalle hatten zwei bedeutende Vertreter der sozialistischen Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts einen jüdischen Familienhintergrund (im Fall Marx konvertiert). Doch auch Stephan Born, zentraler Organisator der „Arbeiterverbrüderung“ im Revolutionsjahr 1848, gehörte zu jenen Menschen, die sich in und für die sozialen und demokratischen Bewegungen engagierten und aus einem jüdischen Elternhaus stammten.
Geboren als Simon Buttermilch 1824 in Polnisch-Lissa (heute Leszno) in der preußischen Provinz Posen, konvertierte Born 1860 zum Protestantismus. Ist es angemessen, in einer Reihe über Juden und Jüdinnen in der Arbeiter_innenbewegung über jemanden zu schreiben, der in seiner rund 150 Seiten starken Autobiografie nicht ein einziges Mal die Worte Jude, Judentum oder jüdisch gebrauchte, geschweige denn seine Konversion und seinen Namenswechsel thematisierte? Doch, wie viele Beispiele dieser Blogreihe zeigen, war das ein häufig wiederkehrendes Muster: Man streifte sein Judentum ab, entweder indem man konvertierte oder/und sich von der Religion als Deutungs- und Identifikationsrahmen löste. So gesehen, passt Stephan Born hervorragend in die Reihe „Jüdische Menschen in der Arbeiter_innenbewegung“.
Stephan Borns Abkehr vom Judentum lässt sich vermutlich aus seinem familiären Hintergrund erklären, denn bereits seine Eltern wandten sich dem Reformjudentum zu. In Leszno lebte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine starke jüdische Minderheit, die rund 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Im jüdischen Viertel gab es seit 1799 eine Synagoge, vermutlich die älteste Synagoge Großpolens, aus deren Talmudschule bedeutete Rabbiner hervorgingen. Aus Leszno stammte auch Leo Baeck, dessen Vater dort bereits als Rabbiner und Religionslehrer tätig war. Die Familie Buttermilch löste sich jedoch von traditionell-rabbinischen Anschauungen. Allerdings erfolgte noch keine Abkehr von der jüdischen Religion, sondern eine Ausrichtung auf das Reformjudentum. Stephan Borns Vater Meir Buttermilch schickte seine Söhne auf das Gymnasium; dem ältesten ermöglichte er ein Medizinstudium. Leidtragender dieser Entscheidung war allerdings Stephan, da der Maklerfamilie nun das Schulgeld fehlte, um ihm weiterhin den Besuch des Gymnasiums zu ermöglichen. Stattdessen absolvierte Stephan ab 1840 in Berlin eine Lehre zum Buchdrucker – eine Ausbildung, die er sich selbst gewünscht hatte. In diesen Zeitraum fällt auch der Namenswechsel zu „Born“, den neben Stephan und seinen Brüdern auch Meir Buttermilch wählte; allerdings gab nur Stephan sich auch einen neuen Vornamen. Die Konversion zum Protestantismus erfolgte bei Stephan Born vermutlich erst im Jahr 1860 bei seiner Heirat mit Friederike Julie Agnes Temme, der Tochter eines in die Schweiz emigrierten preußischen Juristen.
Der Jugendliche und junge Erwachsene Stephan Born war ehrgeizig und bildungsbeflissen. Er absolvierte seine Lehrzeit und suchte doch mehr im Leben. So suchte er Berliner Bibliotheken auf, besuchte in seiner Mittagspause Vorlesungen an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, ging ins Theater, versuchte sich an ersten schriftstellerischen Arbeiten und trat dem Berliner Handwerkerverein in der Sophienstraße bei, „eine Bildungsstätte für heranwachsende Revolutionäre“, wie er in der autobiografischen Rückschau den Verein charakterisierte.
Wie sehr sich Born schon in dieser frühen Zeit mit der sozialen Frage beschäftigte, zeigt die von ihm anonym veröffentlichte Broschüre über den „Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen“. Darin wandte er sich gegen ein von oben eingesetztes, patriarchales Unterstützungswesen. Stattdessen sollte ein emanzipatorischer Reformprozess angestoßen werden. Aus eigener Kraft und durch Vereinigung sollte sich die Arbeiterschaft von „Rohheit und Unkultur“ befreien und „Gerechtigkeit ohne Blutvergießen“ erlangen.
Gedanklich so ausgerüstet, ist es kein Wunder, dass Born auf seiner Gesellen-Wanderschaft zu den „Hotspots“ westeuropäischer Demokratiebewegungen in Leipzig, Brüssel und Paris wanderte. Er bewegte sich in einem Umfeld, in dem ihm Menschen wie Robert Blum und Friedrich Engels begegneten. Born wurde Mitglied des Bundes der Gerechten, der sich später in Bund der Kommunisten umbenannte. Engels jedenfalls war von dem jungen Buchdrucker angetan, sah in ihm aber auch einen noch formbaren Propagandisten des Bundes der Kommunisten: „Pauke ihn noch etwas ein“, schrieb er an Karl Marx im Oktober 1847, „wenn er [Born] [nach Brüssel] hinkommt; der Kerl ist von allen für unsre Sachen am zugänglichsten und wird auch in London gute Dienste leisten, wenn er noch etwas präpariert wird.“
Stephan Born machte seine Sache in London beim zweiten Kongress des Bundes der Kommunisten ohne Frage sehr gut, noch dazu, da mit ihm „die Deutschen durch einen Arbeiter repräsentiert sind“, wie Engels feststellte. Doch schon wenige Monate später mussten Marx und Engels feststellen, dass Born seine eigenen Vorstellungen von der Lösung der sozialen Frage und sozialer Konflikte hatte. Bereits im Vorfeld als auch in der Revolution selbst hatten sich zahlreiche Handwerker- und Arbeitervereine gegründet, teils noch in der Tradition der Gesellenvereine, teils sich aus ihnen lösend. Born erkannte das Potenzial dieser Selbstorganisation für den Emanzipationsprozess der Arbeiterschaft. Nach seiner Ansicht brauchte es nicht den blutigen (Klassen-)Kampf. Reformen waren nach seinem Verständnis der erfolgversprechendere Weg, der nach seiner Auffassung auch näher an den Erwartungen der organisierten Arbeiterschaft zu liegen schien.
Als Netzwerker gelang es Born Ende August/Anfang September 1848 mit weiteren Mitstreitern auf einem Kongress, die Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung aus der Taufe zu heben. Organisatorisch war die Arbeiterverbrüderung mit einer Zentrale in Leipzig ausgestattet, die über Bezirks- und Lokal-Komitees über alle deutschen
Staaten vernetzt sein sollte. Rund 170 Vereine mit insgesamt ca. 15.000 Mitgliedern gehörten ihr an. Sozialpolitisch ging es um die Stärkung der Selbsthilfe der Arbeiter durch selbstorganisierte Arbeitsbüros. Die Produktion sollte gemeinschaftlich in Produktivgenossenschaften erfolgen. Politisch forderte die Arbeiterverbrüderung das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer. Ein laizistisches Schulsystem und die Abschaffung von Schulgeld lassen zumindest noch indirekt etwas von Stephan Borns Herkunft und dem Abbruch seiner Schullaufbahn erahnen
In der Rückschau hat Stephan Born sich mit Verweis auf die Gründung der Arbeiterverbrüderung von seinen ursprünglichen kommunistischen Überzeugungen klar abgesetzt: „Weggewischt waren für mich mit einem Male alle kommunistischen Gedanken, sie standen mit dem, was die Gegenwart forderte, in gar keinem Zusammenhang. Man hätte mich ausgelacht oder bemitleidet, hätte ich mich als Kommunisten gegeben.“ Doch Stephan Born konstruierte hier in der Rückschau einen Zwiespalt, der sich auch später in der historischen Forschung im Ost-West-Systemkonflikt halten sollte: hier die Kommunisten, dort die Sozialreformer in der 1848er-Revolution. Doch das Umfeld von Stephan Borns Arbeiterverbrüderung und den kommunistischen Vereinen um Karl Marx und Friedrich Engels gestaltete sich wesentlich verschlungener, als es diese Dichotomie-Bildung wahrhaben will.
Beispielweise polemisierte Born 1848 in der Zeitung Das Volk, die das Zentralkomitee der Arbeiterverbrüderung herausgab, einerseits gegen den existierenden Klassenstaat. Er sei „die Organisation der herrschenden Klasse zur Unterdrückung der schwächeren“ sowie „die Organisation der Kapitalisten zur Ausbeutung der Arbeiter“. Das war mehr als wahlverwandt mit Anschauungen, die in den kommunistischen Gruppen vorherrschten. Zudem hoffte Born auf die politische Revolution zur Durchsetzung der Demokratie – und mit „dem Sturze der Monarchie stürzt sonach auch das Kapital“.
Doch andererseits lehnte Born eine „soziale Revolution“ ab. Hier vertraute er vielmehr auf die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Arbeiterschaft. Die zu gründenden Produktivassoziationen sollten dazu dienen, dass die „so organisierten Arbeiter sich selbst ein Kapital anschaffen“, um „dem Kapital seine erdrückende Macht“ zu nehmen. So blieb bei Stephan Born das Verhältnis zum Kapital und zur Revolution merkwürdig ambivalent. Born entfernte sich dabei einerseits von grundlegenden Umsturzhoffnungen eines „Kommunistischen Manifests“, ohne sich mit einem seichten Reformismus zufrieden zu geben.
Dieses ideologische wie organisatorische Beziehungsgeflecht zwischen beiden Richtungen der Arbeiter_innenbewegung erklärt darüber hinaus, dass die Akteure sich nicht einfach entlang einer klassenkämpferischen Revolutionspartei hier und einer sozialdemokratischen Reformpartei spalteten. Als sich längst abzeichnete, dass Born eigene Ideen verfolgte, stand er noch in engem Kontakt mit Marx. Die Situation war zwischen 1848 und 1850 noch zu sehr im Fluss, um daraus aus der Rückschau jene bipolare Zuspitzung zwischen Reform- und Revolutionspartei zu konstruieren, die so
lange die Forschung prägte. Der Gegensatz war erkennbar, aber nicht unüberbrückbar. Schließlich war Stephan Born auch keineswegs nur der fähige Kongressorganisator oder Sozialreformer, sondern beteiligte sich 1849 aktiv an der sogenannten Dresdner Mairevolution.
Nach 1849 ging Stephan Born ins Exil in die Schweiz. Die politische Bühne betrat er nicht mehr. Zunächst gründete er eine eigene Druckerei, die er offensichtlich erfolgreich leitete und gewinnbringend verkaufte, denn danach nahm er seinen vor der Revolution abgebrochenen Bildungsweg wieder auf. Er studierte, wurde Lehrer, Journalist und Redakteur. An der Universität Basel schrieb er seine Habilitation über „Die romantische Schule in Deutschland und Frankreich.“ Mit dem Kommunismus hatte der Exilant Born nichts mehr zu tun. Aber er blieb, wie Walter Grab es in einem biografischen Beitrag schrieb, „den Idealen des politischen Fortschritts und der sozialen Reformen treu“. Mit der Gründung der Arbeiterverbrüderung als einer überregional agierenden Arbeiterbewegung im Namen von Sozial-, Bildungs- und Politikreform hat er einen wichtigen Beitrag für die deutsche Arbeiterbewegung geleistet. Seine jüdische Herkunft spielte dabei wohl kaum eine Rolle, seine Erfahrung als ein von Entfaltungsmöglichkeiten und Bildung (zunächst) Ausgeschlossener umso mehr.
Jürgen Schmidt
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