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Lydia Struck erkundet in einem Gastbeitrag für unseren Blog die Entstehungsgeschichte eines Fotos der sozialdemokratischen Politikerin Marie Juchacz und begibt sich dafür auf Spurensuche in der „Historischen Presse der deutschen Sozialdemokratie online“.
Bild: Collage von Lydia Struck mit der Briefmarke "100 Jahre Frauenwahlrecht" von Frank Philippin lizenziert unter Bundesfinanzministerium (BMF). Aus urheberrechtlichen Gründen ist bei einer Nutzung der Abbildung zwingend eine Abbildungsgenehmigung einzuholen. Bitte richten Sie alle Fragen zur Nutzung des Bildes an: LC5@bmf.bund.de.
Am 18. Mai 1919 drückt der Fotograf Robert Sennecke auf den Auslöser seines Fotoapparates. Im Januar desselben Jahres haben die Frauen in Deutschland erstmals von ihrem Recht Gebrauch machen können, zu wählen und gewählt zu werden.
Vor Sennecke steht nun eine der gewählten Frauen, die SPD-Abgeordnete und Frauenrechtlerin Marie Juchacz (1879-1956), die als erste Frau am 19. Februar 1919 in der Weimarer Nationalversammlung das Wort ergriffen hat: ein Triumph für die Frauen der SPD.
Elisabeth Röhl berichtet darüber in ihren „Tagebuchblättern aus Weimar“ in der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“: „Und dann kommen wir Frauen das erstemal [sic] zu unserem Rechte der Rede im Parlament. […] Historisch gewordenes Recht!“ Weiter vorne im Blatt wird die Rede im Wortlaut wiedergegeben.
Marie Juchacz will für Deutschland das Beste, doch fürchtet das Schlimmste für die Zukunft. Sie vermutet, dass Deutschlands Wirtschaft Jahrzehnte benötigt, sich von den Folgen des Krieges und den Bedingungen der Friedensverträge zu erholen.[1] Sie kritisiert die Aufrechterhaltung der Wirtschaftsblockade der Entente-Mächte, die dem deutschen Volk das Wiederaufrichten „bitter schwer“ machen und betont, dass ein wirtschaftlicher Erfolg Deutschlands im wechselseitigen Interesse aller Völker sei. Eine friedliche Lösung ist ihr Ziel.
Nun, drei Monate später, tritt Marie Juchacz zwischen zwei Großkundgebungen, die für diesen Tag angesetzt sind, auf dem Balkon des Ordenspalais in Berlin in Erscheinung. Sie ist von Seiten der SPD-Frauen ausersehen, an den Vertragsverhandlungen in Versailles teilzunehmen und dort für Frauen und deren besondere Interessen einzutreten. Ob die Entente diesen Vorschlag akzeptieren wird, bleibt zu diesem Zeitpunkt noch abzuwarten.[2]
Als das Foto entsteht, ahnt der Fotograf nicht, dass Marie Juchacz Ende 1919 die Arbeiterwohlfahrt (AWO) gründen wird, die im Laufe von 100 Jahren zu einem der bedeutendsten Wohlfahrtsverbände Deutschlands heranwachsen soll.
Im Jahr 2019 steht das Foto daher vielerorts im Fokus von Feierstunden und wird auf der Sonderbriefmarke „100 Jahre Frauenwahlrecht“ abgebildet.
Mithilfe der Volltextsuche gelingt es in der „Historischen Presse der deutschen Sozialdemokratie online“ zu überprüfen, bei welchem Anlass das Marie-Juchacz-Foto entstand.
Das Originalfoto
Das „Balkon-Foto“ von Robert Sennecke (Ullstein-Bild) ist eines der beliebtesten Marie-Juchacz-Motive. Die dunklen Haare zum Knoten gesteckt, lehnt sich Juchacz leicht über das Balkongeländer. Dynamisch ballt sie die Fäuste und ruft einer endlosen Menschenmenge, die nur durch den Bildrand begrenzt ist, etwas zu.
Der Balkon gehört zum Ordenspalais im Berliner Regierungszentrum am Wilhelmplatz 8/9, darin befindet sich die Presseabteilung der Reichsregierung und des Auswärtigen Amtes. Im Hintergrund das Reichskanzlerpalais (Wilhelmstr. 77) und eine Baulücke, auf deren Bauzaun einige Menschen sitzen. Selbst im winzigen Format einer Briefmarke strahlt das Foto den Kampfgeist von Marie Juchacz aus.
Die Briefmarke
Die 70-Cent-Briefmarke „100 Jahre Frauenwahlrecht“, ist seit Januar 2019 (02.01.2019) erhältlich. In seiner Arbeit vereint Designer Frank Philippin einen Ausschnitt des besagten Marie-Juchacz-Fotos mit einem plakativen, dreifarbigen Schriftzug, der an die großformatigen, feministischen und konsumkritischen Werke der US-amerikanischen Künstlerin Barbara Kruger erinnert. Marie Juchacz steht hier stellvertretend für alle Frauen, die das Wahlrecht für Frauen erkämpften.
Die Ereignisse
Die Großkundgebungen für Sonntag, 18.05.1919 werden bereits im Voraus in der Parteizeitung der SPD „Vorwärts“ vom 16.05.1919 angekündigt.[3]
Die Anzeige: „Kommt Alle! Gegen Vergewaltigung[4]! Für Völkerversöhnung!“ ruft im „Vorwärts“ zu sechs 11-Uhr-Kundgebungen mit 14 Redner*innen in Berlin auf, deren zentralen Inhalte sich um die „Versailler Verhandlungen“ drehen. Die Versammlung mit Marie Juchacz findet in den Germaniasälen statt. Nach einer Schlussresolution und nach großem Beifall marschieren die Teilnehmenden zum Wilhelmplatz, wo sie zeitgleich mit den fünf anderen Demonstrationszügen gegen Mittag eintreffen. Im „Vorwärts“ vom 19.05.1919 heißt es: „Gewaltige Menschenmassen hatten sich am Sonntagmittag in der Wilhelmstraße zusammengeballt, um in größter Einheitlichkeit für einen Frieden einzutreten, der nicht die Grundlage zu neuen Konflikten schafft, sondern der die Völker versöhnt und eint, der einen dauernden Völkerfrieden herbeiführt.“ Die Stimmung am Wilhelmplatz ist friedlich. Reichspräsident Ebert spricht. Am Ende seiner Rede fordert er die Menge auf, in seinen letzten Satz mit einzustimmen: „Das junge republikanische Deutschland, die Völkerversöhnung und der Friede, er lebe hoch!“
Als Marie Juchacz den Balkon des Ordenspalais verlässt, hat sie noch eine weitere Versammlung vor sich: Die Kundgebung „Gegen die Entrechtung der Arbeiter durch die Friedensbedingungen“ im Beethovensaal ist zu ½ 4 Uhr angekündigt. Der Artikel „Gegen die Entrechtung der Arbeiter“, Morgen-Ausgabe, „Vorwärts“,19.5.1919, gibt Aufschluss darüber, dass Marie Juchacz in den Germania-Sälen als Vertreterin der Frauen spricht. Der „Vorwärts“ zitiert aus ihrer Rede folgendes: „Die Entente fordert mit Recht von uns den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete, aber sie verlangt ihn zu Unrecht, wenn sie alles tut, um die Lebenshaltung des deutschen Volkes zu untergraben. Wir können und dürfen nicht dulden, daß unsere Sozialgesetzgebung durch diesen Frieden abgeschnürt wird. Wir deutschen Männer und Frauen aber wollen Sturm laufen, gegen diesen Vertrag, damit er nicht unterzeichnet wird.“
Die Recherche in der „Historischen Presse der deutschen Sozialdemokratie online“ hat zur Aufklärung der Geschichte eines Marie-Juchacz-Fotos beigetragen. Hier ist nur eine Auswahl aufgeführt. Zu den angeschnittenen Themen kann mithilfe der Volltextsuche weitergehend geforscht werden.
[1] Vgl. Roehl, Fritzmichael: Marie Juchacz, Leben und Arbeit. (Manuskript 3. Kopie), 1961, S. 170.
[2] Vgl. „Politische Umschau“, in: Gleichheit vom 23.05.1919, S. 136.
[3] Neben dem „Vorwärts“ schaltet auch die Parteizeitung der USPD „Freiheit“ den Artikel am 16.5.1919, kritisiert die Veranstaltungen jedoch bereits am 19.5.1919 scharf.
[4] Mit „Vergewaltigung“ ist hier kein sexueller Übergriff gemeint. Der Begriff sollte vielmehr auf eindringliche Weise verdeutlichen, dass man die Bedingungen des Versailler Vertrags als brutale, skrupellose Entrechtung der deutschen Arbeiterschaft und damit des gesamten deutschen Volkes betrachtete.
Lydia Struck ist Kulturanthropologin und Autorin des Buches "‘Mir geht so vieles durch den Kopf und durchs Herz‘: Marie Juchacz - Briefe und Gedanken zum Neuanfang der AWO“. Sie ist eine Urgroßnichte von Marie Juchacz. Veröffentlichungen von Lydia Struck im Bestand der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung finden Sie hier.
Zur 100. Jubliäum der Arbeiterwohlfahrt ist im letzten Jahr der Band „Geschichte der Arbeiterwohlfahrt“ von Philipp Kufferath und Jürgen Mittag erschienen, den Sie ebenfalls hier im Bestand unserer Bibliothek finden.
Eine Liste mit zahlreichen Veröffentlichungen von und über Marie Juchacz aus unserem Bestand finden Sie hier.