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"Jutta Courage" und ihr Vorbild

Der 14. September 1994, keine historische Wegmarke, kein Anlass für einen Gedenktag - oder doch? Am 14. September, vor 25 Jahren, wurde erstmals eine Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts: Jutta Limbach. Sie blieb bis heute die einzige Frau in der Reihe der Präsidenten und Vizepräsidenten dieses Verfassungsorgans.

 

Bild: von AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung Jutta Limbach auf der AWO-Bundeskonferenz in Bremen vom 29. - 31.10.2004.

Von "frauenbewegter Herkunft"

Jutta Limbach, am 10. September 2016 verstorben, ist vielen durch ihre Persönlichkeit und ihre verschiedenen öffentlichen Ämter in lebhafter Erinnerung. 1934 in Berlin geboren gelang ihr eine bemerkenswerte Karriere: Sie studierte ab 1954 in Berlin und Freiburg Jura, legte 1958 das Erste und 1962 das Zweite Staatsexamen ab. 1966 folgte die Promotion, 1971 ihre Habilitation mit einer Schrift über "Das gesellschaftliche Handeln, Denken und Wissen im Richterspruch". 1972 wurde sie als erste Frau Professorin an der Juristischen Fakultät in Berlin. 1989 übernahm sie in einem rot-grünen Senat unter Walter Momper das Berliner Justizministerium. 1994 wurde sie im März zur Richterin am Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts gewählt, im September dann als erste Frau an die Spitze dieses höchsten deutschen Gerichts.

Seit 1964 war Jutta Limbach mit dem Juristen Peter Limbach verheiratet. 1964, 1967 und 1969 wurden die gemeinsamen Kinder geboren, die am Bonner Familienwohnsitz aufwuchsen, während sie von Berlin oder Karlsruhe pendelte; sie selber nannte ihre Fernbeziehung "ambulante Ehe". In ihrem Berufsleben verband sie fachliche Kompetenz mit einem freimütigen und fröhlichen Charakter. Sie war keine Freundin erstarrter Hierarchien und scheute sich nicht, diese im Berliner Ministerium aufzubrechen. Nicht alle Beamte waren begeistert.

Jutta Limbach bezeichnete sich selbst als ein "Geschöpf einer frauenbewegten Herkunft": Bereits ihre Großmutter Elfriede Ryneck war Politikerin und von 1919 bis 1933 Parlamentsabgeordnete für die SPD. "Aber am stärksten hat mich eine Vorfahrin meiner eigenen Familie beeinflusst: meine Urgroßmutter Pauline Staegemann" schreibt Jutta Limbach in einer Biographie über ihr Vorbild.

"Lohngleichheit der Männer- und Frauenarbeit"

Pauline Staegemann (1838 - 1909) erlebte die desolate Situation der Arbeiterinnen im deutschen Kaiserreich am eigenen Leib. Als Dienstmädchen weitgehend rechtlos, als Arbeiterin noch schlechter bezahlt als die Männer, als Frau von politischer Betätigung ausgeschlossen, als Sozialdemokratin von der Polizei beobachtet und mehrfach wegen ihres Engagements verhaftet.

Um das Familieneinkommen aufzubessern und um nach dem frühen Tod ihres Mannes ihre Kinder ernähren zu können, führte sie in Berlin einen Gemüseladen, der bald Treffpunkt für Mitglieder und Funktionäre der frühen Arbeiterbewegung wurde. 1873 gründete sie den "Berliner Arbeiterfrauen- und Mädchenverein"; dieser gilt heute als die erste sozialdemokratisch orientierte Frauenorganisation. Anders als die bereits bestehenden, bürgerlichen Wohltätigkeitsvereine wollten Pauline Staegemann und ihre Mitstreiterinnen an den gesellschaftlichen Wurzeln rühren, die die soziale Ungleichheit produzierten. So forderten sie die völlige Gleichberechtigung der Frauen und natürlich das Frauenwahlrecht.

Den bürgerlichen Wohltäterinnen war dies suspekt: Staegemann und ihre "Genossinnen" wurden als "wahre Hyänen" beschimpft. Auch den Behörden war der Verein ein Dorn im Auge, das Preußische Vereinsgesetz bot die Grundlage 1874 zu seinem vorläufigen und 1877 zu seinem endgültigen Verbot. Ihm wurde u.a. zur Last gelegt, durch die Frauen auch auf die Männer und auf die Kindererziehung sozialistischen Einfluss auszuüben. Pauline Staegemann kam in Haft, weitere Gefängnisaufenthalte sollten in den kommenden Jahren folgen.

Pauline Staegemann ließ sich nicht einschüchtern oder entmutigen. Sie gründete weitere Vereine in Berlin, die sich für die Wahrung "der geistigen und materiellen Interessen der Arbeiterinnen, insbesondere die Regelung der Lohnverhältnisse" einsetzten und die "Lohngleichheit der Männer- und Frauenarbeit" forderten - und die immer wieder durch das Preußische Vereinsgesetz verboten wurden. Erst 1908 trat das Reichsvereinsgesetz in Kraft: nun konnten auch Frauen politischen Vereinen oder Parteien beitreten. Pauline Staegemann starb am 5. September 1909. Emma Ihrer rühmt im Nachruf auf "Mutter Staegemann" deren "Mut und Energie ... sowie auch eine außergewöhnliche Rednergabe, die sie befähigte, ohne jede Weitschweifigkeit immer den Kern der Frage in packender Weise zu treffen und die Zuhörer mit fortzureißen."

Elfriede Ryneck, geborene Staegemann und später Großmutter Jutta Limbachs, gehörte zu den ersten Frauen, die 1908 offiziell der SPD beitraten. 1872 geboren wuchs sie in diesem prägenden, politischen Umfeld auf. Nach der Volksschule besuchte sie u.a. die sozialdemokratische Arbeiterbildungsschule; 1898 heiratete sie Emil Ryneck - Angestellter beim Vorwärts-Verlag, 1899 wurde der Sohn Erich geboren.

Dem Vorbild ihrer Mutter folgend engagierte sich Elfriede Ryneck vor allem für die Heimarbeiterinnen, aber auch in einer Kinderschutzkommission. 1912 wurde sie in den Zentralvorstand des Verbandes der Sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, 1919 als eine der ersten Frauen in den SPD-Parteivorstand gewählt. Von 1919 bis 1933 war sie Abgeordnete zunächst in der Weimarer Nationalversammlung, dann im Deutschen Reichstag und schließlich im Preußischen Landtag. Ihr spezielles Arbeitsgebiet war die Sozialpolitik; folgerichtig gehörte sie zu den Frauen, die mit Marie Juchacz 1919 die Arbeiterwohlfahrt gründeten, deren zweite Vorsitzende sie bis zum Verbot 1933 war. Als Delegierte trat sie immer wieder mit Wortbeiträgen auf den SPD-Parteitagen in Erscheinung.

Ihr langes politisches Engagement wurde durch die Machtübergabe an die NSDAP beendet. Elfriede Ryneck wurde erwerbslos, zog sich ins Privatleben zurück und überdauerte die Nazi-Herrschaft mithilfe ihres Sohnes. Sie starb am 19. Januar 1951. In der Zeitschrift der Arbeiterwohlfahrt "Neues Beginnen" erinnert Lotte Lemcke an eine mütterliche Frau, deren hervorstechender Zug ihres Wesens die Heiterkeit war. Und: "Du warst immer ein Mensch, der, allem Konventionellen abgeneigt, die unmittelbar menschliche, aufrichtige, unsentimentale Beziehung bevorzugte."

"Heiter und streitbar"

So überschrieb "Die Zeit" ihren Nachruf auf Jutta Limbach - Attribute, die offenbar gleichermaßen für ihre Großmutter und Urgroßmutter galten. Emma Ihrer zitiert 1909 (!) in ihrem Beitrag einen Brief, der  Pauline Staegemann würdigt: "Dann steht sie vor mir als eine große Idealistin, der unter reichsten persönlichsten Opfern auf ihre Weise in einer Zeit für die Befreiung der Frau eintrat, als nur wenige daran dachten. Jetzt, wo die Frauenemanzipation glücklicherweise in aller Munde ist und immer mehr Verständnis findet, ist es leicht, dafür zu wirken. Aber in der ersten Zeit mit ihrem Sturm und Drang gehörte Mut dazu ..."


Die Bezeichnung "Jutta Courage" ist dem Titel eines Artikels im "Spiegel" vom 3. August 1992 entnommen.

Der Nachruf in der "Zeit" ist nach Registrierung gleichfalls online verfügbar.

Zahlreiche Beiträge von Jutta Limbach finden Sie im Katalog der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.


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