Diese Webseite verwendet Cookies
Diese Cookies sind notwendig
Daten zur Verbesserung der Webseite durch Tracking (Matomo).
Das sind Cookies die von externen Seiten und Diensten kommen z.B. von Youtube oder Vimeo.
Geben Sie hier Ihren Nutzernamen oder Ihre E-Mail-Adresse sowie Ihr Passwort ein, um sich auf der Website anzumelden.
Zum Weihnachtsfest im Jahr 1900 schlug der Vorwärts in seinen am 25. Dezember herausgegebenen Ausgaben keine allzu besinnlichen Töne an.
Bild: von B0red lizenziert unter CC0 1.0
„Wie mit der unentrinnbaren Regelmäßigkeit einer periodischen Naturerscheinung“, so eröffnete der Vorwärts seine Ausgabe vom 25. Dezember 1900, „hat der Zeitungsleser zu Weihnachten mit den obligatorischen Weihnachtsartikeln zu rechnen.“ Tatsächlich folgte diesem Satz gerade kein klassischer, christliche Lehren und weihnachtliche Besinnlichkeit transportierender Text, sondern eine äußerst kritische Rückschau und Bewertung der Politik des zurückliegenden Jahres. Insbesondere die „Thaten, die im verflossenen Jahre in Afrika und Asien verübt wurden“, boten neben der grundsätzlich formulierten Kritik an den herrschenden Verhältnissen und an der Knechtschaft der Arbeiterklasse, Anlass zu einer solch deutlichen und schonungslosen Bestandsaufnahme.
Bankrotterklärung der Moral im Boxeraufstand
Die scharfe Kritik an der Kolonialpolitik und die Feststellung einer „Bankrotterklärung der Moral und des offiziellen Christentums“ zielten vor allem auf die Aktivitäten der Kolonialmächte im Rahmen des Boxeraufstandes in China. Zu dessen Niederschlagung entsandte Wilhelm II im Juli 1900 ein 17.000 Mann umfassendes Truppenkontingent nach China und hielt am 27. Juli zur Verabschiedung von Truppen in Bremerhaven die später als solche bezeichnete 'Hunnenrede', in der er ein rücksichtsloses Vorgehen der deutschen Truppen nach dem Vorbild der „Hunnen unter ihrem König Etzel“ gegen die aufständischen Chinesen einforderte. Ausführlich widmete sich der Vorwärts in seiner Ausgabe vom 29. Juli 1900 dieser Rede und ihrer möglichen Lesarten, und der Parteitag der SPD im September diskutierte die von Paul Singer vorgestellte und später einstimmig angenommene Resolution „gegen die abenteuerliche gewaltsame Chinapolitik der Regierung“, mit der sich die „Sozialdemokratie als Feindin jeder Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen durch Menschen“ positionierte. Jedoch stand nicht allein diese Chinapolitik einem gemäßigteren Ton im Weihnachtsartikel des ersten Vorwärts des neuen Jahrhunderts im Wege.
Raubzug Großbritanniens im Burenkrieg
Auch der seit 1899 wütende „Burenkrieg“ zwischen Großbritannien und den beiden Burenrepubliken „Oranje-Freistaat“ und „Südafrikanische Republik (Transvaal)“ bot Anlass für eine umfassende Kritik der imperialistischen Aktivitäten der Kolonialstaaten. Dieser Krieg, von Großbritannien mit großer Härte und teilweise nach dem Prinzip der 'verbrannten Erde' geführt, um den Zugriff auf die reichhaltigen Bodenschätze der Region zu sichern und die Vergrößerung und Stabilisierung des britischen Kolonialgebiets in Afrika zu gewährleisten, schien dem Vorwärts gleichsam wenig geeignet, zum Weihnachtsfest einen milden oder versöhnlichen Ton anzuschlagen. Stattdessen wurden vor diesem Hintergrund die vermeintlichen moralischen Errungenschaften des Christentums, dessen Gebot der Nächstenliebe im Kontakt mit anderen Völkern gänzlich verloren gehe, infrage gestellt. Allenfalls sei die christliche Lehre „gut genug, um verwahrlosten Individuen im eigenen Gesellschaftskörper Scheu vor Leben und Eigentum einzuflößen, gut genug, um die besitzlose Masse vor ‚Begehrlichkeiten‘ zu bewahren.“
Weihnachtsabend mit der Marseillaise
Eben diese Einstellung zur Rolle der Kirche in der Gesellschaft, gepaart mit dem weiter wachsenden Selbstbewusstsein der Sozialdemokratie, spiegelt dann auch der Text von Ernst Preczang „Ein Weihnachtsabend“ im „Unterhaltungsblatt des Vorwärts“ vom 25. Dezember 1900. Desillusioniert und gepeinigt durch „des Lebens scharfe Kralle“ findet der anonyme Protagonist in diesem Gedicht Gemeinschaft nicht dort, wo „der alte Klang der Weihnachtsglocken“ zu vernehmen ist, sondern unter einem „Dach, das über eine Schande der frommen Zeit die roten Ziegeln deckt“. Diese Gemeinschaft der Arbeitenden emanzipiert sich zunehmend auch von der Kirche, denn „das Wort der Liebe tilgt den Mangel nicht.“ Folgerichtig ist somit dann dort, wo erst „rauhe Stimmen das Wunderlied der heiligstillen Nacht“ singen, die Marseillaise zu hören. Damit versinnbildlichen beide Texte in den Vorwärts-Ausgaben zum ersten Weihnachtsfest des neuen Jahrhunderts den auch vom Mainzer Parteitag der SPD formulierten Anspruch der Sozialdemokratie, den „Kampfe für die Befreiung des Proletariats aller Länder“ anzunehmen. Und vor allem mit dieser Perspektive, so schließt letztlich der Vorwärts-Weihnachtsartikel, „kann die ringende Menschheit trotz alledem die frohe Botschaft des Weihnachts-Evangeliums hoffnungsfreudig vernehmen“.
Resolution des Mainzer SPD-Parteitags zur Chinapolitik (PDF-Dokument, Resolution ab S. 93)Titel zum Boxeraufstand in der FES-BibliothekTitel zum Burenkrieg in der FES-Bibliothek