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Wie der „Vorwärts“ 1930 über die Koalitionsbildung in Thüringen berichtete

Die „Historische Presse der deutschen Sozialdemokratie online“ bietet einen unmittelbaren Zugang zur zeitgenössischen Berichterstattung des „Vorwärts“ über das erste Regierungsbündnis bürgerlich-konservativer Parteien mit der NSDAP in Thüringen vor 90 Jahren.

Anlässlich der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020 hat der Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung Kurt Beck am 7. Februar an die erste Thüringer Landesregierung unter Beteiligung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) im Jahr 1930 erinnert. Dabei hat er die Frage nach den Lehren gestellt, die wir heute aus diesem historischen Vorgang ziehen können. Eindringlich warnt er in seinem Statement vor Bündnissen mit völkisch-rechtsnationalen Kräften und der Illusion, diese einhegen und ins parlamentarisch-demokratische System integrieren zu können. In unserem Bibliotheks-Blog bieten wir nun einen tieferen Einblick  in die politischen Vorgänge vor 90 Jahren anhand von Berichten aus dem historischen „Vorwärts“. Da der „Vorwärts“ im Volltext durchsuchbar digital vorliegt, können wir in einer Art Zeitreise die Entwicklung der Ereignisse aus der Sicht der damaligen Leser verfolgen.

 

09.12.1929: Das Wahlergebnis liegt vor

Die Landtagswahl in Thüringen vom Vortag schafft es auf die Titelseite des „Vorwärts“. Unaufgeregt wird dort über die Stimmverluste der politischen Gegner Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) berichtet. „Die Erbschaft der Deutschnationalen“, so stellt der Vorwärts fest, „tritt, wie überall bei den Wahlen in letzter Zeit, die Nationalsozialistische Partei an.“ Die Auswirkungen dieser Verschiebung sieht man aber zunächst gelassen: „Politisch-parlamentarisch sind in Thüringen vorerst keine Veränderungen zu erwarten.“

"Neuwahlen in Thüringen", in: Der Abend, Spätausgabe des "Vorwärts". 09.12.1929.

 

11.12.1929: Die Koalitionsverhandlungen beginnen

Obwohl die SPD mit 18 Sitzen klar stärkste Partei geworden ist, hat sie in Thüringen keine Machtperspektive. Die bürgerlich-konservativen Parteien, die das Land in den Jahren zuvor in unterschiedlichen Koalitionen regiert haben, verweigern der SPD die Zusammenarbeit. Ihr Bündnis kommt auf insgesamt 23 Sitze im Landtag, während NSDAP und KPD jeweils 6 Sitze erlangt haben. Parteien wie das katholische Zentrum und die liberale DDP, die als Koalitionspartnerinnen für die SPD infrage gekommen wären, haben in Thüringen kaum Stimmen erhalten. So macht sich ein Bündnis aus folgenden Parteien an Verhandlungen zur Regierungsbildung:

  • Der Thüringer Landbund ist eine nationalistisch-konservativ ausgerichtete Regionalpartei, die vor allem eine bäuerliche Klientel anspricht.
  • Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP)  ist die bedeutendste nationalkonservative Partei der Weimarer Republik. In ihr verbinden sich völkische, antisemitische und monarchistische Elemente. Seit 1928 ist sie unter ihrem neuen Reichsvorsitzenden Alfred Hugenberg in einem Radikalisierungsprozess begriffen.
  • Die Deutsche Volkspartei (DVP) ist eine nationalliberale Partei, die auf Reichsebene Teil einer Großen Koalition unter dem SPD-Reichskanzler Hermann Müller ist. Bis zu seinem Tod im Oktober 1929 war sie von Gustav Stresemann dominiert worden, rückt aber nun gleichfalls nach rechts und wird bis 1932 fast ihre gesamte Wählerbasis verlieren.
  • Die Reichspartei des deutschen Mittelstands ist eine wirtschaftsliberale Klientelpartei, die die Interessen von Haus- und Grundbesitzern und Handwerkern vertritt. Sie profitiert vom Niedergang der klassischen liberalen Parteien wie der DVP und der DDP. Mitglieder der Mittelstandspartei werden später häufig zur NSDAP wechseln.

Am 12.12.1929 berichtet der „Vorwärts“ in einer kleinen Meldung auf Seite 2, dass diese Parteien Verhandlungen mit der NSDAP aufgenommen haben und ein NSDAP-Innenminister im Gespräch ist.

"Neuer Ordnungsblock in Thüringen?", in: Vorwärts, 12.12.1929.

 

11.01.1930: Wer ist Wilhelm Frick?

Nachdem der „Vorwärts“ den Verhandlungsprozess in mehreren kleineren Meldungen beobachtet hat, berichtet er Anfang Januar erstmals ausführlicher über den designierten Polizeiminister Wilhelm Frick und geht dabei auf die verrohte und enthemmte Rhetorik ein, die von NSDAP-Vertretern in die Parlamente getragen wurde.

„Die Nationalsozialistische Partei erklärt so oft, als es nur verlangt wird, daß sie auf die Verfassung von Weimar pfeift. Ihre Redner versichern von der Tribüne des Reichstags herab, daß sie die politischen Führer der Mehrheit des deutschen Volkes aufzuhängen und zu köpfen beabsichtigen, falls sie zur Macht gelangen. Ausgerechnet diese Partei des Hochverrats und der Morddrohung soll künftig in Thüringen das Polizeiministerium führen! Wir nehmen selbstverständlich nicht an, daß der künftige führende Polizeiminister nun die Thüringer Sozialdemokraten verhaften und an den Galgen hängen wird. Wir stellen jedoch fest, daß der künftige Thüringer Polizeiminister ein Hochverräter ist.“

Auch für den „Vorwärts“ war es demnach tröstlich, dass Frick als Landesinnenminister einer demokratischen Republik die Drohungen seiner Partei gegen Vertreter anderer Parteien (noch) nicht in die Tat umsetzen konnte. Der Vorwurf des Hochverrats bezieht sich auf Fricks gerichtlich nachgewiesene Beteiligung am „Hitler-Ludendorff-Pusch“ im November 1923.

„Polizeiminister Frick“, in: Vorwärts, 11.01.1930.

 

11.01.1930: Die DVP zaudert. Hitler ist in Weimar eingetroffen

Am selben Tag scheint die DVP sich angesichts der Presseberichte über Frick noch einmal zu besinnen und zieht die Zusage einer Beteiligung am Kabinett zurück. Bereits tags zuvor ist Adolf Hitler in Weimar eingetroffen und hat „vor einem Publikum von etwa 120 geladenen Gästen, insbesondere Vertretern von Wirtschaftskreisen und Behörden sowie rechtsgerichteten Intellektuellen, einen Vortrag über das Thema ‚Politik und Wirtschaft‘“ gehalten. Der „Vorwärts“ berichtet unter der Überschrift „Deutsche Volkspartei gegen Frick“:

"Deutsche Volkspartei gegen Frick", in: Vorwärts, 12.01.1930.

 

13.01.1930: Die Regierung kommt zustande

Die Regierung kommt nun doch zustande. Der „Vorwärts“ berichtet darüber am nächsten Morgen in einem großen Artikel und beleuchtet nun ausführlicher die Beteiligung Fricks am Putschversuch von 1923. Auch der zuvor erwähnte Auftritt Hitlers in Weimar wird nun genauer betrachtet. Nach einem Bericht aus der „Weimarer Zeitung“ wird Hitlers Rede wörtlich zitiert:

„Jedes Volk muß nach Prinzipen erzogen werden, das Deutsche aber ist prinzipienlos geworden. Und in dieser Zeit regiert in Deutschland eine Partei, die den Verfall zu ihrer Grundidee gemacht hat, die das Volk wie zwei unversöhnliche Gegner auseinandergerissen hat. Wir gehen einem großen Bürgerkrieg entgegen. […] Unser Kampf gilt unserem Volk und Vaterland. Wer unserem Volke Feind ist, der sieht in uns seinen Todfeind. Versöhnung gibt es nicht. Hier kann es nur eins geben: Rettung unseres Volkes, wenn es sein muß durch Erledigung unserer Gegner“

"Putschist Frick ist Minister", in: Vorwärts, 14.01.1930.

 

24.01.1930: „Hakenkreuzeid auf die Verfassung“

Zur Wahl und Vereidigung Fricks als Innenminister am 23.01. berichtet der „Vorwärts“ aus dem Thüringer Landtag. Demnach appellierte der SPD-Fraktionsvorsitzende August Fröhlich dort an die Abgeordneten der DVP, Frick nicht zu wählen, da dieser den kurz zuvor gestorbenen DVP-Außenminister Stresemann als „vom Ausland bezahlt“ diffamiert habe. Der DVP-Politiker Friedrich Knittel, der sich gegen die Koalition eingesetzt hatte, habe daraufhin „in höchster Erregung“ den Plenarsaal verlassen. Die dann folgende Reaktion des Fraktionsvorsitzenden der DVP Theodor Bauer beschreibt der „Vorwärts“ so:  

„Auf die Ausführungen des sozialdemokratischen Abgeordneten Fröhlich antwortete der Fraktionsvorsitzende der Deutschen Volkspartei, daß er die Erklärungen Fricks gegenüber dem Reichsaußenminister Dr. Stresemann für eine bedauerliche Entgleisung halte. Die Fraktion werde jedoch die Regierungsgemeinschaft an den Äußerungen Fricks nicht scheitern lassen. Daß der Deutschen Volkspartei die Nationalsozialistische Partei politisch und weltanschaulich näher stünde als die Sozialdemokratie, sei im Übrigen kein Geheimnis.“

"Hakenkreuzeid auf die Verfassung", in: Vorwärts, 24.01.1930.

 

In diesem indirekten Zitat des Thüringer DVP-Fraktionsvorsitzenden drückt sich sehr präzise die Einstellung des damaligen bürgerlich-konservativen und nationalliberalen Lagers des Landes aus, vor der Kurt Beck heute warnt. Für die Parteien der Regierungskoalition war es naheliegender, ein Bündnis mit einer Partei einzugehen, deren Führer offen von der „Erledigung unserer Gegner“ sprach, als ein Bündnis mit der SPD auch nur zu erwägen.

Der Einwand, dass Thüringer Landbund, DNVP, Mittelstandspartei und DVP 1930 allesamt ein mehr oder weniger problematisches Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie hatten und deshalb nicht mit der Thüringer CDU und FDP von heute vergleichbar sind, ist berechtigt. Um so wichtiger ist es heute, dem völkischen Nationalismus auch von konservativ-liberaler Seite eine klare Absage zu erteilen, seine Gefährlichkeit für seine Gegner_innen und vor allem für die aus seiner Sicht nicht zum „Volk“ gehörenden Menschen zu erkennen und sich auf keiner Ebene mit ihm gemein zu machen.

 

 

Wenn Sie die Ereignisse in Thüringen nach Fricks Ernennung zum Innenminister anhand des „Vorwärts“ weiter verfolgen möchten, können Sie so vorgehen:

  • Startseite der „Historischen Presse der deutschen Sozialdemokratie online“ aufrufen.
  • Die „erweiterte Suche“ aufrufen.
  • Untersuchungszeitraum  von/bis in die beiden Datumsfelder eingeben. Z.B. 01.01.1930 ins obere Feld und 01.01.1932 ins untere Feld.
  • Suchwort ins obere Feld eingeben. Beispiele: „Thüringen“ „Frick“
  • Auf die Lupe klicken.
  • Anschließend kann man die erzielten Treffer hintereinander betrachen, die Seiten als pdf herunterladen oder neue Suchwörter ausprobieren.

 

 

 

 

 


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