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Schafft das Gymnasium ab!

Das deutsche Gymnasium ist ein Heiligtum. Wer es antastet, wird exkommuniziert, bzw. aus dem politischen Betrieb verbannt.

Bild: Anna Lehmann von Elke Seeger

Das deutsche Gymnasium ist ein Heiligtum. Wer es antastet, wird exkommuniziert, bzw. aus dem politischen Betrieb verbannt. So erging es der schwarz-grünen Koalition in Hamburg als sie vor fast zehn Jahren die Gymnasialzeit um zwei Jahre kappen wollte, damit Schülerinnen und Schüler zwei Jahre länger gemeinsam zur Grundschule gehen können. Eine bürgerliche Mehrheit schmetterte das Gesetz per Volksentscheid ab und jagte den CDU-Bürgermeister Ole von Beust und die Grüne Kultusministerin Christa Goetsch aus dem Amt.

Seither wagte es keine politische Koalition mehr, das Gymnasium in Frage zu stellen. Genauer gesagt, das Prinzip für welches es steht: Die Aufteilung von Kindern noch vor der Pubertät auf angeblich begabungsgerechte Schulformen.

Gymnasium: Refugium der neuen bürgerlichen Mittelschicht

Die neue bürgerliche Mittelschicht hat das Gymnasium als Refugium für den eigenen Nachwuchs und Quelle des Statuserhalts verteidigt.

Stimmt nicht, werden einige einwenden. Ist nicht auch die Mischung an den Gymnasien viel bunter geworden, wechseln nicht mittlerweile bis zu fünfzig Prozent der Kinder eines Jahrgangs nach der Grundschule auf ein Gymnasium? Und hat sich nicht gerade die Lesekompetenz von Kindern, deren Eltern Facharbeiter_innen oder ungelernte Arbeiter_innen, sind verbessert? Stimmt alles.

Und dennoch: Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Leseleistungen hat sich seit Jahrzehnten kaum gelockert, wie die aktuelle Pisa-Studie offenbart. Er ist weiterhin deutlich stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Bei Pisa 2000 war Deutschland das Land, in dem der sozioökonomische Hintergrund am stärksten über die Kompetenzen mitentschied. Die Stärke des Zusammenhangs, der soziale Gradient, hat sich seither um gerade mal 6 Punkte verbessert. Seit 2009 ist er wieder gewachsen.

Als ein Journalist sie bei der Vorstellung der Pisa-Studie fragte, ob dieser straffe Zusammenhang vielleicht etwas mit dem gegliederten Schulsystem und der frühen Aufteilung der Kinder zu tun habe, konnte die wissenschaftliche Leiterin von Pisa-Deutschland, Kristina Reiss, nur die Schultern zucken: Die frühe Trennung von Kindern sei ein deutscher Sonderfall, deshalb könnten im internationalen Vergleich keine Schlüsse gezogen werden.

Ein deutscher Sonderfall, an dem niemand rüttelt. Nicht die CDU, die den Status quo blind verteidigt, nicht Grüne, Linke oder FDP. Nicht die SPD. Den letzten ernsthaften Versuch, den Klassencharakter des Schulwesens grundlegend zu ändern, unternahmen die Sozialdemokraten vor 100 Jahren. In der Weimarer Republik sollte das aus der Kaiserzeit stammende Schulsystem reformiert werden, die SPD wollte eine achtjährige Einheitsschule einführen. Gab dieses Ziel aber in Koalitionsverhandlungen mit der Zentrumspartei auf. Ein teures Zugeständnis.


Es ist Zeit, Strukturen in Frage zu stellen

Der Weimarer Schulfrieden gilt bis heute, zumindest im Hinblick auf das gegliederte Schulsystem. Doch Stabilität ist kein Selbstzweck. Es ist Zeit, radikaler zu denken. Es ist Zeit, Strukturen in Frage zu stellen, die weder gerecht noch effizient sind. Weder ist das allgemeine Kompetenzniveau in Deutschland Spitze, noch werden Schüler_innen am oberen und unteren Ende des Spektrum besonders effektiv gefördert. Jede fünfte Schüler_in kann in der neunten Klasse nicht gut genug lesen, um mittellangen Texten Informationen zu entnehmen. Jede Fünfte! Diese Schüler_innen sammeln sich zudem an den nicht-gymnasialen Schularten, die Leistungsspitze fehlt dort fast gänzlich.

Nun ist nicht jede nicht-gymnasiale Schule eine Brennpunktschule. Im Gegenteil, es gibt hervorragende Gesamtschulen, die es verstehen Kinder mit unterschiedlichen Startbedingungen so zu fördern, dass die milieubedingten Unterschiede kleiner werden und die Spitze breiter wird.

Doch es gibt eben auch die anderen Schulen. Schulen, an denen fast alle Kinder aus Haushalten kommen, die Sozialleistungen beziehen. Oft sind die Eltern nach Deutschland zugewandert. Ich habe eine solche Schule fünf Jahre lang für die taz begleitet und festgestellt:  Die Schülerschaft ist bunt gemischt. Es gibt die Streber und die Faulen, die Extrovertierten und die Introvertierten, es gibt die, denen alles zufliegt und jene, die sich mühen müssen. Eins ist den Schüler_innen aber gemeinsam: Sie kommen aus armen Familien. Arm vor allem an jenem Kapital, welches heute mehr denn je über Aufstieg und Status entscheidet: Dem kulturellen Kapital. Lesen ist für viele kein Hobby, sondern eine Pflichtübung, Museen, Theater oder Opern besuchen sie nur mit ihren Lehrer_innen.

Dabei mangelt es den Eltern nicht an Ehrgeiz: Sie wollen gern, dass ihre Kinder Arzt oder Anwalt werden, dass sie Berufe mit hohem sozialen Prestige ergreifen. Aber sie können ihnen weder Role Model sein noch den Kindern das nötige Handwerkszeug mitgeben. Jenes Wissen, jene Codes, Gesten und Gepflogenheiten, die die Kinder der Akademikerschicht ab Geburt mitbekommen und die es ihnen so leicht machen, sich später an den Universitäten und in den Funktionseliten der Gesellschaft zu bewegen.

Was ist nötig? Anreize und Investitionen nach der Maxime „Ungleiches ungleich behandeln“

Was also ist zu tun? Schulstrukturveränderungen per Gesetz sind politisch nicht durchsetzbar. Also bleiben Anreize. Nötig sind meines Erachtens gewaltige Investitionen in Bildung nach der Maxime: „Ungleiches ungleich behandeln“.

Generell muss der Staat, das heißt vor allem die zuständigen Länder, natürlich viel mehr Geld in die Schulen, in Personal aber auch in Bauten und Einrichtung stecken. Das heißt aber nicht, dass alle Schule gleich viel bekommen. Je höher der Anteil von Schüler_innen aus sozial wenig privilegierten Haushalten ist, desto besser wird die Schule gestellt: es gibt mehr Lehrer_innen, Erzieher_innen und Sozialpädagog_innen und kleinere Klassen.

Derzeit ist es genau anders herum: Schüler_innen mit niedrigem sozioökonomischem Status sind häufiger von Unterrichtsausfall betroffen als sozial privilegierte Schüler_innen. Die Schulleiterin der Schule, die ich für die taz begleitet habe, konnte kurz vor Schuljahresbeginn Stellen nicht besetzten. Es gab kaum Bewerbungen, weil die frisch examinierten Lehrer_innen lieber an Gymnasien unterrichten.

Um den Mangel kurzfristig zu beheben, müssten Lehrer_innen nach dem Studium verpflichtet werden, an einer Schule zu unterrichten, an der sie gebraucht werden. Selbst wenn jemand für Deutsch und Geschichte an Gymnasien ausgebildet ist, könnte er oder sie demnach auch an Oberschulen oder Grundschulen eingesetzt werden. In erster Linie sind sie ja Pädagog_innen. Mittelfristig sollte die schulartspezifische Ausbildung aufgehoben werden - zugunsten von zwei Lehrämtern, nämlich für die Unter- und die Oberstufe.

Parallel dazu sollte der Bund ein milliardenschweres Ganztagsschulprogramm auflegen, welches an ein Programm für längeres gemeinsames Lernen gekoppelt ist: Schulen, die Kinder im Tagesverlauf und über die Jahre länger und anregender zusammen unterrichten bekommen demnach alle Unterstützungen:  für Fortbildungen und Kooperationen, für zusätzliches Personal und für notwendige Um- und Anbauten. Diese Schulen sollten die besten des Landes sein, sie müssten Vorbild und  Ansporn zugleich sein.

An Schulen, die Kinder umfassend fördern, werden auch Akademikereltern ihre Kinder bereitwillig schicken. Das zeigen die Beispiele der schulpreisprämierten Schulen, die sich oft in sozialen Brennpunkten zu Vorzeigeschulen entwickelten und deren Schülerschaft mit den Jahren vielfältiger und bunter wurde. Denn am Ende wollen alle Eltern vor allem eins: Die beste Schule für ihre Kinder. Ziel muss es sein, dass alle Schulen in Deutschland die besten Schulen mit den besten Schüler_innen sind.

Anna Lehmann ist Bildungsjournalistin der taz.

Eine Antwort von Wolfgang Harnischfeger auf diesen Artikel finden Sie hier.

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