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Die Präsidentschaftswahlen in Iran rücken näher und die Wähler*innen stehen vor einem Dilemma. Für die Hardliner im Regime hingegen ist die Sache klar: Sie wollen ihre Macht festigen, koste es, was es wolle.
Bild: Daragahi
Borzou Daragahi
Keine der Optionen, die sich bei den Präsidentschaftswahlen am 18. Juni bieten, macht die iranischen Wähler*innen glücklich. Ihre Wahlmöglichkeiten sind – selbst gemessen am ohnehin beklagenswerten Standard der Islamischen Republik – sehr begrenzt.
Mit keiner der Strategien, die sie im letzten Vierteljahrhundert entwickelten, um einen friedlichen politischen Wandel im Land voranzutreiben, waren die Iraner*innen erfolgreich.
Die wiederholt zum Schweigen gebrachte Mehrheit des Landes, de facto ein Bündnis der Mittelschicht, Frauen, Jugendlichen und Minderheiten im Land, strömte bei den Präsidentschaftswahlen 1997 und 2001 und den Parlamentswahlen des Jahres 2000 an die Wahlurnen. Die Wahlbeteiligung lag 1997 bei 80 und 2001 bei 67 Prozent.
Geändert hat sich dennoch nichts. Die in den Institutionen des iranischen Deep State eingebetteten extremistischen Hardliner blockierten die Agenda des Reformpräsidenten Mohammed Chatami und der Fraktion der reformorientierten Front Zweiter Khordad, die nominell im iranischen Parlament die Mehrheit hatte.
„In den ersten Jahren der Amtszeit Mohammad Chatamis [Ende der 1990er] erstarkte die Mittelschicht im Land. Sie glaubte, sie könnte die Struktur des Landes mitbestimmen und das System durch die Wahl kompetenter Politiker*innen erneuern”, erklärt ein Autor aus Teheran. „Doch ihre Initiativen wurden abrupt gestoppt. Die Hardliner taten alles, um die Reformer*innen zum Schweigen zu bringen. Chatamis Untätigkeit und Schwäche in der zweiten Amtszeit ließen seine Wähler*innen frustriert zurück.“
Empört und entsetzt angesichts der Aussicht auf eine weitere Präsidentschaft Ali Akbar Hashemi Rafsandschanis verzichtete die Mittelschicht 2005 auf eine Stimmabgabe. Die Wahlbeteiligung sank auf 59 Prozent. Doch das Ergebnis, das sie am Ende bekam, war schlimmer als der Kandidat, den sie verhindern wollte. Präsident Mahmoud Ahmadinedschad verstärkte nicht nur die Repression, nahm zuvor gewährte Freiheiten zurück und trieb die Wirtschaft weiter in die Krise, er beschädigte mit giftigen Reden und Gesten auch massiv den Ruf Irans auf internationalem Parkett.
Im Vorfeld der Wahlen von 2009 trugen iranische Aktivist*innen die grüne Farbe der Wahlkampagne von Mir-Hossein Mousavi auf die Straße. Erfüllt von Bürgerstolz hofften sie, Ahmadinedschad aus dem Amt jagen zu können. Am Wahltag vermeldeten offizielle Stellen eine Beteiligung von 80 Prozent. Nach dem skrupellosen Wahlbetrug durch die Anhänger*innen des Regimes, der Ahmadinedschad einen irrealen, überwältigenden Sieg bescherte, versammelten sich die Menschen erneut zu Demonstrationen. Die Staatsmacht schlug ihren friedlichen Protest mit Tränengas, Knüppeln und scharfer Munition nieder.
Trotz größerer Skepsis unterstützten die Aktivist*innen 2013 und 2017 den moderaten Pragmatiker Hassan Rohani. Mit einer Wahlbeteiligung von über 70 Prozent verhalfen sie ihm in beiden Jahren zu einem Sieg über die Hardliner. Allerdings war Rohani nie ein Reformer, sondern vielmehr durch und durch ein Mann des Systems. Seine Wähler*innen irrten, als sie annahmen, dass die Apologeten des düsteren Regimes, die Kommandeure der Revolutionsgarden, Geheimdienstler und fanatischen Gefolgsleute der Welayat-e Faqi im Umfeld des Klerus in Ghom sowie die Institutionen des Obersten Führers, die schon Chatami (der 2013 ebenfalls antreten wollte) nicht duldeten, dem Zentristen Rohani gestatten würden, den politischen Raum zu öffnen, die Beziehungen zu den Weltmächten zu reparieren und dem Land ein gewisses Maß an Rechtsstaatlichkeit zu bringen. Der politischen Reife und Mäßigung der Wähler*innen begegneten sie mit eisiger Gleichgültigkeit. Chamenei und seine Kader in der Justiz und im Sicherheitsapparat verschärften die Repressionen, verweigerten sich jeglicher Transparenz und stoppten Rohanis Agenda einer „Reform Light“.
Hilfe bekamen sie von Donald Trump, dessen Politik des „maximalen Drucks“ und der Sabotage des Joint Comprehensive Plan of Action jene diskreditierte, die im Umfeld der Regierung für eine Annäherung argumentierten oder zumindest ein gewisses Maß an friedlicher Koexistenz mit den Vereinigten Staaten empfahlen.
Soweit die Vorgeschichte der nun anstehenden Präsidentschaftswahlen in Iran. Beobachter*innen konstatierten wenig überrascht, dass der Klartext redende Außenminister Mohammad Javad Zarif bereits vor dem 18. Juni durch ein geleaktes Audiointerview und eine von den Hardliner-Medien propagierte Schmutzkampagne aus dem Rennen gekickt wurde. Es wunderte auch niemanden, dass der Wächterrat die Kandidatur des nach den Aufständen von 2009 einige Zeit inhaftierten Reformers Mostafa Tadschzadeh nicht zuließ.
Das Gremium aus zwölf Vertretern des Klerus und der Justiz agiert zunehmend unverblümt als Handlanger der Hardliner des Regimes. Sein Programm trägt die Handschrift der Extremisten in der Elite der Islamischen Republik. Da Chamenei bereits über achtzig Jahre alt ist, sehen seine Jünger die Wahlen als eine großartige Gelegenheit, einen Nachfolger zu salben und die Zukunft Irans entsprechend ihren Interessen zu gestalten.
Durch den Ausschluss des ehemaligen Parlamentspräsidenten Ali Laridschani, vorgeblich weil seine Tochter Fatemeh Ardeshir-Laridschani in den USA lebt und arbeitet, zeigte das Regime einmal mehr, dass auch ein durch und durch pragmatischer Konservativer rechts von Präsident Hassan Rohani nicht mehr akzeptabel ist.
Den für die Mittelschicht annehmbaren, zur Wahl zugelassenen Kandidierenden – Zentralbankgouverneur Abdolnasser Hemmati und Chatamis früherer Minister für Jugend und Sport Mohsen Mehralizadeh – fehlt es nicht nur an Charisma, sondern auch an öffentlicher Unterstützung und Knowhow. Mehralizadeh wäre als Präsident eine schwächere, weniger aufgeklärte Version Chatamis; Hemmati ein noch zahnloserer Rohani, ohne dessen institutionelle Kompetenz und Unterstützung. Beides wissen die Iraner*innen nur zu gut.
„Meine Bekannten gehen nicht wählen”, berichtet ein mit den Reformer*innen sympathisierender Journalist in Teheran. „Sie wollen diese Wahlen nicht mit ihrer Stimmabgabe legitimieren. Es ist bekannt, dass die Zahlen nicht stimmen. Jede*r sieht, was hier geschieht. Das ist alles nur schöner Schein für die Außenwelt.“
In den ersten Junitagen wird das staatliche Fernsehen eine Reihe voraufgezeichneter Debatten ausstrahlen. Jedem der sieben zugelassenen Kandidaten stehen dreißig Minuten zur Verfügung. Die Sender berichten umfassend über die kommenden Wahlen.
Ungeachtet der Tatsache, dass er während einer der größten Wirtschaftskrisen in der Geschichte Irans an der Spitze der Zentralbank stand, versprach Hemmati in einem TV-Interview, im ersten Jahr seiner Präsidentschaft eine Million neue Arbeitsplätze zu schaffen. Mohsen Rezai, Ex-Kommandeur der Revolutionsgarden und bereits mehrfach Kandidat für das Amt des Präsidenten, stellte in seinem Gespräch mit dem Sender eine fünffache Steigerung der monatlichen Barsubventionen in Aussicht, ein Programm, das die Inflation unweigerlich weiter anheizen wird.
Dagegen wird selbst im politischen Establishment des Landes deutliche Kritik laut. Aufrufe zum Wahlboykott kommen nicht zuletzt von Hassan Khomeini, dem Enkel des Gründers der Islamischen Republik, und vom früheren Präsidenten Mahmoud Ahmadinedschad.
„Die Mittelschicht ist unzufrieden. Sie will Wandel, sie will Verbesserungen in verschiedenen Bereichen, insbesondere in der Wirtschaft”, erklärt Mohammad Hashemi, Wissenschaftler und Autor in Teheran. „Allerdings fehlt es an zugkräftigen, charismatischen Kandidaten. Das ist das große Problem. Denn wenn [die Mittelschicht] nicht zur Wahl geht, wird ein Hardliner oder konservativer Politiker Präsident werden. Es wiederholt sich dann, was wir bei den letzten Parlamentswahlen erlebten.“
Mit frecher, geradezu boshafter Arroganz lehnte der Wächterrat die Kandidaturen des Regimeanhängers Laridschani oder des populären Reformers Tadschzadeh ab. Allzu offensichtlich und alles andere als subtil ist der Versuch, das Spielfeld in Richtung des von Chamenei präferierten Nachfolgers und ebenfalls aus Mashhad stammenden Raissi zu kippen, damit dieser die Wahlen gewinnt.
Die Dreistigkeit, mit der vorgegangen wird, ist auch eine Konsequenz des anstehenden Kampfes um die Nachfolge Chameneis. Die Hardliner brauchen jemanden, um den sie sich scharen können, wenn der Revolutionsführer stirbt, und Raissi, der Mann mit dem schwarzen Turban, ultrakonservativer Vertreter des Klerus und überzeugter Anhänger der Welayat-e Faqi, entspricht exakt diesen Anforderungen.
Chamenei und sein Zirkel fühlen sich stark: Sie überlebten einen Marathon von Herausforderungen, darunter mehrere Runden landesweiter Proteste gegen das Regime, vier Jahre Donald Trump und seine Kampagne des „maximalen Drucks“, den Absturz des Ölpreises und die verheerenden, anhaltenden Folgen des Coronavirus.
Die Demonstrationen von 2009 und ihre Nachwehen zeigten deutlich, wie tief die Kluft zwischen Regime und Mittelschicht ist. Die Proteste, die Ende 2017 begannen, und in denen vor allem die Unter- und untere Mittelschicht aus den entfernten Provinzen, die das Regime eigentlich als eigene Basis betrachtet, auf die Straße gingen und gegen den Obersten Führer der Islamischen Republik Parolen anstimmten, war ein eklatanter Beweis für die große Wut, die die iranische Öffentlichkeit verspürt.
„Wirtschaftsprobleme, Freiheitsbeschränkungen, Menschenrechtsverletzungen und internationale Isolierung zerstörten die Hoffnungen der Mittelschicht”, kommentiert ein Autor in Teheran. „Dass Wandel möglich ist im Iran, glaubt niemand mehr wirklich.”
Chamenei und seine Handlanger können sich also nicht länger der Illusion hingeben, die Islamische Republik genieße die Unterstützung des Volkes. Vielleicht werben er und seine Verbündeten deshalb so aggressiv für Raissi – kaum vier Jahre, nachdem ihm die Wähler*innen eine beschämende Niederlage gegen Rohani verpassten. Hardliner im Klerus und im Sicherheitsapparat mobilisieren jedenfalls für den sechzigjährigen Juristen, der in den vergangenen zwei Jahren die iranischen Justizbehörden leitete.
Eine Überraschung am 18. Juni ist dennoch nicht ausgeschlossen. Vielleicht gelingt es Hemmati am Ende, die Wählenden hinter sich zu bringen, wenngleich er nicht einmal Rohanis Unterstützung genießt. Mehralizadeh, der einzige Reformer unter den sieben Kandidierenden, könnte ebenfalls mehr Stimmen einsammeln als erwartet. 2013 trieb erst in den letzten Tagen vor der Wahl eine Blitzkampagne in den sozialen Medien die Wähler*innen zu Rohani.
Sollten die Iraner*innen ihre Stimmen für Hemmati oder Mehralizadeh abgeben, dann jedoch nicht, weil sie deren Programme befürworten oder ernsthaft Veränderungen erwarten. Es wird dann eher eine Protestwahl gegen Chamenei sein. Ebenso wie der Revolutionsführer ihre Hoffnungen auf ein Mindestmaß an Demokratie oder Good Governance in Iran enttäuschte, könnten sie nun seine Hoffnung auf die Wahl Raissis sabotieren. Raissi wird der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt und steht auf der Sanktionsliste der USA. Er ist einer der Juristen, die für die in den späten 1980er-Jahren verübten Massenexekutionen von Tausenden Gefangenen im Gefängnis von Evin verantwortlich gemacht werden.
Chameneis Hybris und seine schamlose Ignoranz gegenüber Wählerwünschen demonstrieren, dass die Masken in der Islamischen Republik gefallen sind. Chamenei, flankiert von uniformierten Angehörigen der Streitkräfte und zahlreichen im Schatten agierenden, das Regime stützenden Paramilitärs, droht den Iraner*innen mit höhnischem Lachen. Die Wähler*innen könnten am 18. Juni ebenso höhnisch antworten.
Borzou Daragahi ist Journalist in Istanbul. Seit 2002 berichtet er über den Nahen Osten, Nordafrika und Europa. Als internationaler Korrespondent schreibt er für The Independent und ist ferner Senior Non-Resident Fellow des Atlantic Council. Von 2002 bis 2007 lebte er in Teheran.
Auf Twitter: @borzou
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