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Analyse der Europawahl 2024 in Deutschland

Mehrheit für die stabile Mitte trotz starkem rechten Rand

Die Wahl zum Europäischen Parlament 2024 hinterlässt gemischte Botschaften. Es gibt keine europaweit einheitlichen Trends, dafür sind die Ergebnisse der einzelnen Ländern zu unterschiedlich. Trotz leichter Verluste bilden die demokratischen Parteifamilien nach wie vor die stabile Mitte Europas. Allerdings haben die rechten Ränder des Parteienspektrums deutlich hinzugewonnen. Die Zugewinne der rechten Parteien im Parlament kommen vor allem aus Deutschland, Frankreich und Italien.  

Die deutschen Ergebnisse spiegeln diese europäischen Trends ein Stück weit wider:
 

  • Die Union gewinnt leicht dazu und stabilisiert sich als stärkste Kraft.

  • Die Ampelparteien bekommen die Unzufriedenheit mit der Regierung zu spüren und verlieren insgesamt, vor allem die Grünen im Vergleich zu 2019.

  • Die SPD wird drittstärkste Kraft und erzielt ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Europawahl. 

  • Nach ihrem Rekordergebnis von über 20 Prozent 2019 stürzen die Grünen um acht Prozentpunkte auf knapp 12 Prozent ab und sind die Hauptleidtragenden einer abflachenden pro-europäischen Welle.

  • Die AfD etabliert sich als feste Größe im deutschen Parteienspektrum. Sie ist dabei nicht mehr nur Ausdruck von Proteststimmen und Unzufriedenheit, sondern findet auch für ihre rechtsextremen Positionen Zuspruch 

  • Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) schafft aus dem Stand ein beachtliches Ergebnis und hat das Potential die Linken auch im Bund abzulösen. 

  • Die kleinen Parteien profitieren noch einmal von der fehlenden 5-Prozent-Hürde und steigern ihre Mandatszahl im Vergleich zu 2019. 

Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick

Hauptergebnisse

Wie bei den Europawahlen 2019 geht die Union als stärkste Kraft mit 30 Prozent aus der Wahl hervor und kann leichte Zugewinne (1,2 Prozentpunkte) verzeichnen. Demgegenüber verlieren alle Ampelparteien: Die SPD wird mit knapp 14 Prozent drittstärkste Partei und verliert gegenüber der letzten Europawahl knapp zwei Prozentpunkte. Herbe Verluste verzeichnen die Grünen. Nach ihrem Rekordergebnis von über 20 Prozent 2019 stürzen sie auf knapp 12 Prozent ab und sind die Hauptleidtragenden einer abkühlenden pro-europäischen Welle. Auch die FDP verliert leicht gegenüber den letzten Europawahlen, kann sich aber bei fünf Prozent halten. Eine weitere Verliererin ist die Linke, die auf 2,7 Prozent abrutscht und damit ihr Ergebnis von 2019 halbiert. Der AfD gelingt es knapp fünf Prozentpunkte hinzuzugewinnen und schneidet mit knapp 16 Prozent als zweitstärkste Kraft ab. In Ostdeutschland ist sie mit knapp 27 Prozent stärkste Kraft vor der Union. Die weiteren Gewinner des Wahlabends sind die Sonstigen Parteien. Traditionell schneiden Kleinstparteien bei Europawahlen gut ab, da sie keine 5-Prozent-Hürde nehmen müssen. Insgesamt erhalten sie über 20 Prozent. Besonders sticht das Bündnis Sahra Wagenknecht heraus, das aus dem Stand 6,2 Prozent erhält. 
 


Mit einer Rekordwahlbeteiligung von knapp 65% war die Mobilisierung auf etwa gleich hohem Niveau wie bei der ersten der EP-Wahl von 1979. Über das gesamte Bundesgebiet ist die Wahlbeteiligung recht ausgeglichen verteilt. Nur in Bremen ist sie leicht gesunken (minus 6 Prozentpunkte), überall sonst gab es leichte Zunahmen. Alle Bundesländer mit überdurchschnittlicher Wahlbeteiligung hatten zeitgleich Kommunalwahlen. Einzige Ausnahme ist Bayern, welches aber bei Wahlen auf Bundesebene generell eine hohe Wahlbeteiligung verzeichnet. Sachsen-Anhalt belegt, trotz Kommunalwahlen nur einen der hinteren Plätze, verzeichnet aber dennoch einen Anstieg von 7,5 Prozentpunkten bei der Wahlbeteiligung. Den höchsten Anstieg verzeichnete mit acht Prozentpunkten Brandenburg. BSW, AfD und Kleinstparteien profitieren am stärksten von der gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahl.  
 

Wer hat wen gewählt?

Betrachtet man die Ergebnisse nach Ost- und Westdeutschland getrennt, so zeigen sich bei fast allen Parteien große Unterschiede hinsichtlich ihres Abschneidens. Der größte Unterschied von 15 Prozentpunkten findet sich bei der AfD. Sie kommt in Ostdeutschland auf 28 Prozent, in Westdeutschland dagegen nur auf 13 Prozent. Umgekehrt sieht das Bild bei der Union aus, die einen Unterschied von 11 Prozentpunkten zwischen Ost und West aufweist. In Westdeutschland haben 32 Prozent der Wähler:innen für die Union gestimmt, in Ostdeutschland dagegen nur 21 Prozent. Auch Grüne und SPD haben im Westen besser abgeschnitten, hier beträgt der Unterschied aber nur sechs bzw. fünf Prozentpunkte. Etwas größer ist der Unterschied beim Bündnis Sahra Wagenknecht, welches in Ostdeutschland 12 Prozent zählt, in Westdeutschland nur fünf Prozent.  

In Ostdeutschland schneiden somit AfD, BSW und Linke überdurchschnittlich ab, in Westdeutschland erzielen Union, SPD, Grüne, FDP sowie Freie Wähler und Volt klar bessere Ergebnisse. Die Ampelparteien kommen in Ostdeutschland zusammen auf 20 Prozent und liegen damit hinter den Einzelergebnissen von AfD und Union. In Westdeutschland kommen SPD, Grüne und FDP dagegen zusammen auf 34 Prozent.
 


Aufgrund der Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, umfasst die jüngste Wähler:innengruppe nun den Altersbereich 16 bis 24 Jahre. Auffällig in dieser Gruppe ist die häufige Wahl von Kleinstparteien: Ein Drittel von ihnen hat Parteien gewählt, die bei der Bundestagswahl mit ihrem Ergebnis an der Fünfprozenthürde gescheitert wären. Aber auch Union und AfD konnten in der jüngsten Altersgruppe um 5 bzw. 12 Prozentpunkte zulegen und kommen jeweils auf 17 bzw. 16 Prozent. Die Grünen verlieren am stärksten bei den jungen Wähler:innen. Sie stürzen bei den 16-24 Jährigen um 23 Prozentpunkte ab und kommen dort nur noch auf 11 Prozent. Danach folgt bei den Jüngsten die SPD mit neun Prozent, gefolgt von Volt, die auf sieben Prozent kommen.  

Auch bezogen auf das Alter sieht man klare Profilbildungen je nach Partei: Union und SPD schneiden bei der Altersgruppe ab 60 Jahren klar am besten ab. Ihre Ergebnisse in der ältesten Altersgruppe sind ungefähr doppelt so hoch wie bei den Wähler:innen unter 35 Jahren. Die AfD erreicht mit 20 Prozent ihr bestes Ergebnis bei den 35-44 Jährigen, bei den über 60 Jährigen kommt sie dagegen nur auf 12 Prozent. Bei BSW sieht man kaum ein Altersprofil, die Ergebnisse liegen in allen Altersgruppen zwischen fünf und 6 Prozent. Wie bereits bei der letzten Bundestagswahl holt die FDP bei jungen Männern unter 25 Jahre mit neun Prozent ihr bestes Ergebnis. 


Wie aufgrund der Ergebnisse bei der Altersverteilung zu vermuten ist, zeigt sich, dass die Union bei den Rentner:innen 41 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Auf dem zweiten Platz landet die SPD mit 21 Prozent. Nur 11 Prozent der Renter:innen haben ihr Kreuz bei der AfD gemacht, danach folgen die Grünen mit acht Prozent und das BSW mit sieben Prozent. 

Schaut man auf die Berufstätigen liegt die Union bei den Angestellten, Beamt:innen und Sebständigen jeweils an erster Stelle. Ihr bestes Ergebnis holt die Union dabei im Beamtentum: 34 Prozent von ihnen haben für die Union gestimmt, an zweiter Stelle liegen die Grünen mit 20 Prozent, gefolgt von der SPD mit 13 Prozent. Bei den Selbständigen und den Angestellten kommt die AfD jeweils auf den zweiten Platz mit 17 bzw. 15 Prozent. Jeweils dicht gefolgt von den Grünen (15 und 13 Prozent). 

Diejeningen, die ihre Tätigkeit mit "Arbeiter" angegeben haben, haben zu einem Drittel die AfD gewählt. Auf dem zweiten Platz liegt die Union mit 24 Prozent. Die SPD kommt hier nur auf 12 Prozent an dritter Stelle.Auch bei den Arbeitslosen wurde am häufigsten die AfD gewählt (25 Prozent), gefolgt von SPD (13 Prozent) und Union (12 Prozent). Die vergleichsweise geringen Prozentzahlen erklären sich dadurch, dass fast ein Drittel der Stimmen der Arbeitslosen auf kleine und Kleinstparteien entfallen sind. 

Wahlmotive

Dass es sich bei der diesjährigen Europawahl um eine Nebenwahl also eine Wahl, bei der es nicht so sehr um europapolitische Belange, sondern eher um eine Bilanzwahl der aktuellen Regierungen handelt, kann man auch für Deutschland bestätigen. Während sich die Relevanz von Bundes- und Europapolitik 2019 etwa die Waage hielten, kann man für dieses Jahr von einer leichten Trendumkehr sprechen. Hauptmotivation für den Wahlgang war bei dieser Europawahl für die Mehrheit der Bürger:innen die Bundespolitik. So antworteten 55 Prozent der Wähler:innen bundespolitische Themen seien für sie wahlentscheidend gewesen, gegenüber 38 Prozent, die angaben, europapolitische Themen seien ausschlaggebend gewesen. Somit ist das Ergebnis auch als eine Kritik an der Regierung zu verstehen. 
 


Die geopolitischen Verschiebungen seit der Europawahl 2019 finden auch in Widerhall in den für die Europawahl am relevantesten eingestuften Themen. Bestimmte 2019 der Klima- und Umweltschutz unangefochten die Rangliste der wahlentscheidenden Themen, so führen in diesem Jahr Friedenssicherung und soziale Sicherheit die Liste an. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die mit dem Krieg verbundenen Folgekosten in Form von Inflation und Energiepreisen bestimmen die diesjährige Themenagenda. Blickt man auf die Themenpräferenzen nach Parteianhänger:innen so ist das Gesamtbild nicht mehr so einheitlich und differenziert sich aus. Für Anhänger:innen der Grünen ist der Umwelt- und Klimaschutz weiterhin das wichtigste Thema (52 Prozent), für SPD-Anhänger:innen stellt die Frage der sozialen Sicherung eine Top-Priorität dar (35 Prozent) direkt gefolgt von der Friedenssicherung (32 Prozent). Dieses Thema ist sowohl für BSW- (37 Prozent) als auch für Unions-Wähler:innen (28 Prozent) das entscheidende, bei Grünen-Anhänger:innen steht Friedenssicherung auf Platz zwei. Dass die Frage von Krieg und Frieden eine so hohe Bedeutung erhält, bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass die Wähler:innen derselben Auffassung sind, mit welchen Mitteln Frieden erreicht werden kann. Im Gegenteil – hier zeigen sich die parteipolitischen Unterschiede insbesondere in Bezug auf Fragen von Waffenexporten und den Vorbedingungen für Friedensverhandlungen. Lediglich für AfD-Anhänger:innen ist Zuwanderung das unbestritten wichtigste Thema, von 46 Prozent wird es am relevantesten eingestuft. Bei BSW-Anhänger:innen kommt das Thema Zuwanderung auf Platz zwei, bei Unions-Anhänger:innen lediglich auf Platz vier.   
 


Die Bewertung der eigenen wirtschaftlichen Lage hat auch Einfluss auf die Wahlentscheidung, denn hier kommt zum Ausdruck, mit welchen Sorgen und Wünschen die Wähler:innen auf das eigene Leben blicken. Von denjenigen, die in der Nachwahlbefragung angegeben haben, ihre eigene wirtschaftliche Lage sei sehr gut oder gut, haben ein Drittel die Union gewählt. Das sind doppelt so hohe Werte wie bei allen anderen Parteien. Spiegelbildlich verhält es sich bei denjenigen, die mit ihrer wirtschaftlichen Lage unzufrieden sind. So sind es zu ein Drittel AfD-Wähler:innen, die die eigene Situation als weniger gut oder schlecht einschätzen. Auch wenn die AfD mittlerweile eher aus Überzeugung denn aus Enttäuschung gewählt wird, zeigt sich nach wie vor auch eine tiefe Unzufriedenheit der Wähler:innenschaft, die an der Wahlurne zum Ausdruck gebracht wird.
 

Wählerwanderungen

Die Analyse der Wähler:innenströmevon infratest dimap zeigt, dass viele Wähler:innen die Möglichkeit genutzt haben, kleinere oder neue Parteien zu wählen. Da es keine Prozenthürde bei der Wahl zum Europaparlament gibt, war das Risiko relativ gering, hier eine Alternative auszuprobieren. Die drei Parteien der Koalitionsregierung haben besonders stark an die Kategorie der "sonstigen Parteien" verloren. Den größten Abfluss in Richtung kleine Parteien erfuhren die Grünen (-860.000), gefolgt von der SPD (-640.000) und der FDP (-500.000). 
 


Die bei der Bundestagswahl erfolgreiche SPD stellt für die meisten anderen Parteien die Hauptstimmenlieferantin. Doch besonders alarmierend ist aus sozialdemokratischer Sicht, dass die SPD seit der Bundestagswahl am stärksten in das Nichtwahllager verloren hat(-2.490.000). Von den konkurrierenden Parteien kann die Union den größten Stimmenanteil der SPD abknöpfen (-1.450.000). Danach folgen dann die "sonstigen Parteien" (-640.000), das BSW (-580.000) und dann erst die AfD (-570.000). Von der Größenordnung ähnlich die verstorbenen Wähler:innen mit -510.000 Stimmen.  
 


Im Vorfeld der Wahlen wurden viele Mutmaßungen angestellt, von welchen anderen Parteien das neue Bündnis Sahra Wagenknecht Wähler:innenstimmen abziehen wird. Laut dem Modell von infratest dimap konnten 580.000 Stimmen, die bei der Bundestagswahl 2021 noch an die SPD gingen, vom BSW gewonnen werden. Auf dem zweiten Platz dann der Zufluss ehemaliger Wähler:innen der Linken (+470.000), gefolgt von Union (+260.000) und FDP (+230.000). Danach folgt erst die AfD (+160.000), die zuvor oftmals als potentielle Hauptstimmenlieferantin ausgemacht wurde. Ähnliche Zuströme wurden von den Grünen (+150.000) und Nichtwähler:innen (+140.000) berechnet. Die Analysen verdeutlicht, dass die Annahme, das BSW würde die AfD klein machen, sich nicht erhärtet hat, sondern einer ganz eigenen parteipolitischen Auseinandersetzung bedarf.

Konsequenzen für die europäischen Institutionen

Die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, insoweit sie am 10. Juni absehbar ist, stellt sich wie folgt dar: Die Europäische Volkspartei ist mit Abstand stärkste Fraktion. Die sozialdemokratische S&D Fraktion bleibt zweitstärkste Kraft. Die liberale Renew bleibt wohl knapp dritte Kraft. Am rechten Rand des Parlaments verzeichnen die Fraktionen EKR und ID Zugewinne, dazu kommt eine Reihe von (noch) nicht fraktionsgebundenen Parteien. Die Grünen  sowie die Linken haben Stimmen eingebüßt und bilden kleinere Fraktionen 

Die Zahlen sind noch mit Vorsicht zu genießen. Erstens gibt es viele bislang fraktionslose MdEPs, darunter beispielsweise das BSW aus Deutschland. Die Verhandlungen über ihre Zugehörigkeit werden in den kommenden Tagen an Fahrt aufnehmen. Zweitens haben sich vor allem am rechten Rand Veränderungen ergeben, indem die AfD aus der ID-Fraktion ausgeschlossen wurde. Es ist durchaus möglich, dass sich hier noch weitere Verschiebungen ergeben. 


Die Wahl der Kommissionspräsidentin 

Die Spitzenkandidatin der EVP, Ursula von der Leyen, geht davon aus, dass eine zweite Amtszeit für sie möglich ist. Die Chancen dafür stehen gut. Die Nominierung im Rat dürfte von der Leyen bekommen, immerhin wird hier mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt.  

Im Europaparlament ist die Wahl etwas diffiziler, da die Fraktionsdisziplin nicht im gleichen Maße ausgeprägt ist, wie in nationalen Parlamenten. Das macht die Berechnung einer sicheren Mehrheit schwieriger. Denn die Fraktionen, auf deren Zustimmung von der Leyen bisher setzte, EVP, S&D und die liberale Renew, verfügen über eine Mehrheit von 38 Stimmen. Das könnte ausreichend sein, um ihre Wahl zu garantieren, birgt aber Risiken einer Kooperation der EVP mit den Rechtsparteien.  

Daher sollten die Fraktionen von S&D und Renew im Vorfeld klar signalisieren, wie sie mit potentiellen informellen Kooperationen zwischen der EVP und den Rechtsfraktionen umgehen werden. Die bisherigen, eher losen Kooperationsmodelle im Europaparlament sind nicht geeignet, ein Abdriften in Richtung rechts zu verhindern. Dafür bedarf es expliziterer Absprachen und klarer Procedere. Dies sollte die Grundbedingung der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament dafür sein, dass sie eine Kommissionspräsidentin von der Leyen erneut stützt. 


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