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Frankensteins Fotolabor

Halloween ist die Nacht der Geister und Dämonen - doch inzwischen erwachen die Toten jederzeit per Video-Voodoo zu neuem Leben ...

Ein größenwahnsinniger Wissenschaftler, der auf dem Friedhof soeben beerdigte Verstorbene wieder ausgräbt, gehenkte Mörder vom Galgen stiehlt und seinem buckligen Assistenten den Einbruch in ein medizinisches Institut befiehlt, um dort ein präpariertes Gehirn zu entwenden - wer kennt sie nicht, den einst von Mary Shelley erdachten und ab 1931 ungeheuer populär verfilmten Dr. Frankenstein und vor allem seine bemitleidenswerte Kreatur: das aus Leichenteilen zusammengeflickte Monster, das sich im Labor dank der elektrischen Kraft eines Gewittersturms tatsächlich zu regen beginnt ...
 

"Look!"

Auch in der Archäologie und in der Geschichtswissenschaft werden vergangene Überreste dem Reich der Toten entrissen, um diese möglichst plausibel wieder zusammenzufügen, auf dass sie als geschichtliche Rekonstruktion der Ereignisse nachfolgende Generationen aufklären mögen. Auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Reichweite wird jedoch bisweilen ein mit Schauereffekten verstärktes Hexengebräu angerührt: Das gruselige Genre des Dokutainments hat Horrorklassiker wie "Das Schreckenskabinett des Dr. Knopp" hervorgebracht, die Zartbesaiteten wie Hartgesottenen auch heute noch das Fürchten lehren.

Wer neu angefertigte, auf alt getrimmte Aufnahmen zum Schreien findet, sei erst recht vor dem umgekehrten Fall gewarnt - jene faulen Zaubersprüche, die historische Fotografien und Filme mit schwarzmagischer Software traktieren und sie heutigen Sehgewohnheiten unterwerfen, sind nichts für schwache Nerven! Schwarz-weiße Schnappschüsse lassen sich inzwischen nicht nur automatisch kolorieren, sondern auch in übereinandergeschichtete Ebenen zerlegen, so dass der freigestellte Vordergrund über dem an den Nahtstellen retuschierten Hintergrund schwebt und während der Kamerafahrt am Foto entlang eine pseudo-dreidimensionale Tiefe vorgaukelt - als sei den jetzigen Zuschauer_innen die wahre, starre Momentaufnahme nicht mehr zuzumuten.

"It's moving!"

Werden antike, ruckelige Filmaufnahmen nicht nur von Staub und Spinnweben gesäubert, sondern auf modernste Formate und Auflösung hochskaliert, in der Geschwindigkeit korrigiert, zugleich mit auf 60 Frames pro Sekunde drastisch erhöhter, zwangsläufig interpolierter, also neu errechneter Bildrate in der Bewegung geglättet und in der Kameraführung stabilisiert, rücken frühere Zeiten auf wundersame Weise in die Gegenwart und wirken so nah, als seien sie mit der Technik von heute gefilmt worden. Eine Schneeballschlacht im Lyon des ausgehenden 19. Jahrhunderts scheint gerade erst bei Twitter hochgeladen worden zu sein und im Wuppertal des Jahres 1902 gleicht die Aussicht aus der nagelneuen Schwebebahn einem Kameradrohnenflug. Außer den üblichen Handgriffen behutsamer Restaurierung wird alten Filmaufnahmen neuerdings eine Aktualität eingeimpft, die einen nunmehr unverfälschten, von der zwangsläufig rückständigen Aufnahmequalität nicht länger verschleierten Blick in die Vergangenheit suggeriert. Solche Rekonstruktionen sind nur mithilfe hinzugefügter, auf künstlichem Wege erfundener Bildinformationen zu erreichen, so dass sie allenfalls annähernd simulieren, wie eine damalige Realität mit heutigen filmischen Mitteln festgehalten worden sein könnte. Vollwertige historische Quellen sind das dann aber nicht mehr.

In der audiovisuellen Alchemistenküche blubbert, zischt und qualmt es unaufhörlich und die Grenzen von Technik, Ethik und Moral verschieben sich fortwährend ins gestern noch Unfassbare. Dass sich in Deepfake-Apps selbst innerhalb bewegter Videos Gesichter bereits austauschen und fremdsteuern lassen, hat längst zu hinterhältigen Fälschungen geführt - und zu grandiosem Quatsch: Das Sondierungs-Selfie des ersten grün-gelben Annäherungstreffens von Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner und Volker Wissing nur zwei Tage nach der Bundestagswahl 2021 ging tags darauf auch deshalb viral, weil der Spieltrieb der sozialen Medien den neuen Stil der vormaligen Gegenspieler_innen auf die Schippe nahm und die vier zu absurden Gesängen anstiftete. Solange die dem Bild aufgezwungene Trällerei in ihrer gleichförmigen Bewegung erkennbar ist, funktioniert ein solches Witzvideo als Meme, als Karikatur bestens. Schwierig wird's hingegen, sobald derlei Filmchen zum Standbild gefrieren - welches zeigt das echte Selfie?
 

Keines, sie sind alle falsch.

"It's alive!"

Mit dem Feingefühl einer Kettensäge schlägt "Deep Nostalgia" in dieselbe Kerbe. Seit dem Frühjahr 2021 lassen sich auf der genealogischen Plattform MyHeritage alte Familienfotos (sodenn man sie diesem Unternehmen überhaupt anvertrauen möchte) nicht nur aufhübschen und angeblich täuschend echt nachfärben: die neue Funktion "Deep Nostalgia" ermöglicht es nun auch, Porträts in kurzen Clips zu animieren, ihnen also fremde Blicke und Bewegungen in standardisierten Abläufen aufzuzwingen - eine laut Ankündigung "realistische Darstellung, wie sich eine Person auf einem alten Foto hätte bewegen und aussehen können, wenn sie auf Video aufgenommen worden wäre".

Wie Urgroßvater Karl, Großtante Rosa, Opa August und weitere sozialdemokratische Vorfahren wohl auf diesen Hokuspokus reagieren?
 


Die ersten drei Beispiele zeigen, wie sehr das Ergebnis vom Erscheinungsbild der porträtierten Person abhängt und dass sich ein Sozialistenbart jeglicher Fremdbestimmung zu widersetzen pflegt; August Bebel hingegen ist perfekt geeignet. Je besser die Fotos sind, umso gruseliger erscheint die Illusion - Faszination und Unbehagen halten sich in etwa die Waage ...
 


Nicht bloß unbehaglich, sondern grauenvoll wird es allerdings, sobald man um den historischen Kontext eines Fotos weiß: Der junge Willy Brandt - von den Nazis ausgebürgert, staatenlos und erst vor wenigen Wochen aus dem von Deutschland okkupierten Norwegen geflohen - hatte bei der Aufnahme des Fotos für seinen neuen, durch die norwegische Legation in Stockholm ausgestellten Reisepass gewiss andere Sorgen, als mit der Kamera zu flirten. Und Kurt Schumachers hintergründiges Lächeln erscheint schlichtweg bizarr, schließlich stammt die Vorlage aus der Fotoserie seiner erkennungsdienstlichen Behandlung im KZ Dachau.

"It's alive! It's aliiive!"

Wer die eigenen Urahnen nie in Aktion erlebt hat und dies nun mit "Deep Nostalgia" nachholen möchte, sollte sich das gut überlegen - und zwar, bevor der Starkstromhebel umgelegt wird und der Spuk beginnt. Die in Frankensteins Fotolabor malträtierten Vorfahren kommen uns in ihrer vorgetäuschten Leibhaftigkeit keinen Deut näher. Sie bleiben eine hohle Illusion, die eigene Erinnerungen zu überlagern droht. Künstliche Intelligenz verunstaltet echte, lebendige Fotos zu blutleeren, seelenlosen Zombies, wenn sie Wahrhaftigkeit und Authentizität zum Teufel jagt.

Gleichwohl werden diese herbeigerufenen Geister schwerlich zu bannen sein, selbst wenn man sie lieber heute als morgen zurückdrängen möchte in die virtuelle Hölle, der sie entsteigen konnten. Die bange Frage, ob Fotos und Filmaufnahmen echt sind, ob sie lediglich gereinigt oder eben manipuliert und gefälscht wurden, stellt sich künftig dringlicher denn je. Historiker_innen wie Archivar_innen bleibt der schwache Trost, dass neben informationstechnischer Forensik auch die klassische archivische Tugend, analoge wie digitale Originale fälschungssicher im Archiv zu verwahren, fortan wichtig bleiben und noch weitaus wichtiger werden wird - während Frankensteins untote Fotomonster durch den nebelverhangenen Mediensumpf stapfen und all jene in den Wahnsinn treiben, die den Deepfake-Irrlichtern folgen ...

Sven Haarmann
 

Zum Weiterlesen, Weiterschauen und Weiterhören:


Übrigens: MyHeritage kennzeichnet animierte Fotos lediglich durch zwei kleine weiße Symbole in der unteren linken Ecke. Wir haben daher die elf "Deep Nostalgia"-Videosequenzen von Karl Marx, Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht, August Bebel, Rosa Luxemburg, Friedrich Ebert, Otto Wels, Kurt Schumacher und Willy Brandt zusätzlich mit einem DEEPFAKE-Wasserzeichen versehen.


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