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Heute vor 70 Jahren starb die SPD-Politikerin Hildegard Wegscheider. Die erste Frau mit Abitur in Preußen war auch eine der ersten Frauen mit Promotion. In der Weimarer Republik war sie langjährige preußische Landtagsabgeordnete und Vorkämpferin für Frauenrechte.
Bild: Hildegard Wegscheider, August.1946; Rechte: AdsD [6/FOTA124734].
Hildegard Wegscheider wurde am 2. September 1871 in Berlin in eine bürgerliche Pastoren- und Lehrerfamilie geboren. Zunächst besuchte sie die für das Milieu typischen Höheren Töchter- und Mädchenschulen, strebte aber schon bald nach einer eigenen Berufsausbildung. Sie besuchte das Lehrerinnenseminar und bestand das Examen, obwohl sie das Seminar infolge einer später wieder aufgelösten Verlobung verlassen musste. Anschließend konnte sie mit Unterstützung ihrer Mutter und eines Stipendiums des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins Geschichte und Philosophie in Zürich studieren.
Nach wenigen Semestern beantragte sie die Zulassung zum preußischen Abitur, von dem bis dahin Frauen ausgeschlossen waren, und tatsächlich durfte sie im August 1895 die Prüfung in Sigmaringen absolvieren. Wegscheider bestand und war damit die erste weibliche Abiturientin in Preußen. Sie studierte danach an der Universität in Halle/Saale, wo sie 1898 als eine der ersten Frauen in Geschichte promovierte. Nach der Promotion arbeitete Wegscheider als Lehrerin an den Gymnasialkursen der Pädagogin und Frauenrechtlerin Helene Lange in Berlin.
Im Jahr 1899 heiratete Hildegard Ziegler den Arzt Max Wegscheider, wurde bald Mutter zweier Söhne und erlebte sogleich „den Konflikt zwischen Mutterschaft und Berufsarbeit“, wie sie später in ihren Memoiren schrieb. Ihre Anstellung bei Helene Lange verlor sie aufgrund ihrer Schwangerschaft, stattdessen gründete sie zusammen mit Minna Cauer die erste Schule für schulpflichtige Mädchen mit gymnasialem Unterricht in Charlottenburg. Als sie erneut schwanger wurde, wurde sie auch hier auf Veranlassung der preußischen Verwaltung „aus Gründen der Sittlichkeit“ entlassen. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes lehrte sie als Dozentin an der Humboldt-Akademie in Berlin.
Gleichzeitig begann Wegscheider sich vermehrt politisch zu engagieren. Noch während ihrer Schulzeit hatte sie August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ gelesen und war bereits 1893 in Zürich der Sozialdemokratie beigetreten. In den folgenden Jahren hatte sie sich mit Elan in der sozialistischen Abstinenten- und Frauenbewegung betätigt. In Berlin erkannte man ihr agitatorisches Talent, bald war sie als Rednerin u.a. auch im Ruhrgebiet im Einsatz.
An diesem Spagat zwischen Familienleben, Berufstätigkeit und politischer Arbeit scheiterte ihre Ehe. Um wirtschaftlich unabhängig sein zu können, legte die Alleinerziehende 1908 das Staatsexamen für das Lehramt an höheren Schulen ab und arbeitete die nächsten Jahre als Oberlehrerin in Bonn. Dort hielt sie sich ihrer beruflichen Stellung wegen parteipolitisch zurück, engagierte sich aber in der Abstinenzbewegung, der Trinkerfürsorge und der Frauenbewegung. Während des Ersten Weltkriegs übernahm Wegscheider die Leitung ihrer Schule.
Unmittelbar nach der Abdankung des Kaisers und der Ausrufung der Republik begann Wegscheiders Aufstieg als Politikerin. Schnell nahm sie eine führende Rolle in der Bonner SPD ein, die sie schon bald als eine der ersten Frauen in der Stadtverordnetenversammlung und als Delegierte beim SPD-Parteitag im Juni 1919 in Weimar vertrat. Eine mögliche Kandidatur bei den Wahlen zur Nationalversammlung hatte sie aufgrund des überraschenden Todes ihres ältesten Sohnes noch ausgeschlagen, doch schon im Januar 1919 errang sie ein Mandat für die Preußische Landesversammlung. Wegscheider blieb Landtagsabgeordnete bis zum Jahr 1933. Sie engagierte sich vornehmlich in schulpolitischen und frauenrechtlichen Themen.
Im April 1920 wurde Wegscheider als Lehrerin in Bonn beurlaubt und von Konrad Haenisch, dem damaligen sozialdemokratischen preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, dem Provinzialschulkollegium in Berlin zugewiesen. Bei dieser obersten preußischen Schulbehörde war sie fortan als erster weiblicher „Oberschulrat“ für die Aufsicht der Schulen in Berlin und Brandenburg zuständig.
Unter den Nationalsozialisten wurde Wegscheider aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit zwangspensioniert und ihre Pension gekürzt. Auf ihr Landtagsmandat verzichtete sie, „da ich mich nicht mehr in der Lage sehe, meinen Wählern oder meinem Wahlbezirk zu dienen und da dem Landtage eine wirksame Betätigung nicht mehr möglich ist.“ Ihre Wohnung diente fortan als Treffpunkt und Unterschlupf für Oppositionelle und Verfolgte.
Nach Kriegsende beteiligte sie sich, inzwischen über 75 Jahre alt, am Wiederaufbau der Berliner SPD und Arbeiterwohlfahrt. In dieser Zeit wurden ihr bereits zahlreiche Ehrungen zuteil. Schon 1946 wurde eine Schule in Berlin-Grunewald nach ihr benannt, 1952 erhielt sie als eine der ersten Frauen das Bundesverdienstkreuz. Nach kurzer Krankheit starb Hildegard Wegscheider, „eine der hervorragendsten Pionierinnen der sozialdemokratischen Frauenbewegung“, wie sie der sozialdemokratische Pressedienst in seinem Nachruf würdigte, am 4. April 1953 in ihrer Geburtsstadt. Anlässlich ihres 150. Geburtstags erschien zuletzt im Jahr 2021 eine Briefmarke der Deutschen Post im Andenken an die sozialdemokratische Politikerin.
Alexander Braune
Verwendete und weiterführende Literatur (Auswahl):
Publikationen von Hildegard Wegscheider (Auswahl):
Publikationen über Hildegard Wegscheider in der FES-Bibliothek
Publikationen von Hildegard Wegscheider in der FES-Bibliothek
Artikel zum 60. Geburtstag von Hildegard Wegscheider vom 2. September 1931 im Vorwärts
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