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Zwölf Abgeordnete jüdischer Abstammung zählten am 4. August 1914 zur sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, als diese einstimmig für die Bewilligung der Kriegskredite abstimmte. „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich“, erklärte der Parteivorsitzende Hugo Haase, selbst jüdischer Abstammung, den ersten Schritt seiner Partei im Rahmen der Burgfriedenspolitik der Kriegsjahre.
Bild: Eduard Bernstein, Karl Kautsky, Joseph Herzfeld und Hugo Haase als Delegierte der USPD auf dem Friedenskongress 1917 in Stockholm, AdsD-6/FOTA02730, Nutzungsrechte: AdsD
Haase war einer von 14 SPD-Abgeordneten, die bei der Fraktionssitzung am vorigen Tag die Kriegskredite ablehnten, später jedoch dem Parteibeschluss folgten. Neben Haase stimmte intern auch der jüdische Abgeordnete Joseph Herzfeld gegen die Kriegskredite. Den zwei jüdischen Kriegsgegnern der ersten Stunden schlossen sich weitere an: Im März 1915 stimmten schon fünf jüdische SPD-Abgeordnete – darunter Eduard Bernstein – in der Fraktionssitzung gegen die Kredite. Sieben waren es im Dezember 1915, die im Reichstagsplenum ihre Stimme gegen die Kriegskredite abgegeben haben oder sich der Abstimmung fernhielten. In dieser Haltung veröffentlichten Haase und Bernstein gemeinsam mit Karl Kautsky am 19. Juni 1915 das „Gebot der Stunde“: ein Artikel in der Leipziger Volkszeitung, der zu diesem Zeitpunkt zum wichtigsten politischen Text aus Deutschland gegen den Ersten Weltkrieg avancierte.
Die Spaltung der Fraktion
Am 24. März 1916 hielt Haase im Reichstag seine bekannte Rede gegen den Krieg. Dabei wurde er nicht nur von dem SPD-Abgeordneten Wilhelm Keil als „Verräter“ bezeichnet. Auch Mitglieder der Fortschrittlichen Volkspartei versuchten ihn antijüdisch zu diffamieren: „Wieder mal ein Jude, ein Jude, was wollen denn die Juden hier? Bravo Keil!“ Anschließend wurden 20 Abgeordnete um Haase aus der Fraktion ausgeschlossen, die in Folge die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft (SAG) als unabhängige Fraktion gründeten. Unter den insgesamt elf Abgeordneten jüdischer Abstammung fanden sich schließlich sechs in der neuen Fraktion wieder – ein deutlich überproportionaler Anteil. Ein Jahr später waren sie Teil der neugegründeten, pazifistisch-orientierten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die bis 1922 existierte, bis sie sich wieder mit der Mehrheits-SPD (MSPD) zusammenschloss.
Eine Erklärung für den großen Anteil jüdischer Abgeordneter in der innerparteilichen Opposition, die sich durch die Ablehnung des Krieges definierte, muss auch die Tatsache in Betracht ziehen, dass die andere Hälfte der jüdischstämmigen SPD-Abgeordneten diesen Schritt nicht gingen. Auch muss hier erwähnt sein, dass zehntausende deutsche Juden, genau wie die damals überwiegende Mehrheit der deutschen Gesellschaft, sich für den Krieg begeisterten, in großen Zahlen für das Vaterland fielen (ca. 12.000 gefallene deutsche Soldaten waren Juden) und sich nach dem Krieg in der Reichsfront jüdischer Frontsoldaten (RjF) organisierten. Dass verhältnismäßig viele jüdische Sozialdemokraten die Fortsetzung des Krieges ablehnten, ist durchaus einer Erwähnung und Diskussion wert. Doch sollte daraus nicht der Trugschluss gezogen werden, dass die Kriegsgegnerschaft eine jüdische Bewegung war oder dass Juden im Allgemeinen Kriegsgegner waren. Juden und Jüdinnen standen in den Kriegsjahren auf beiden Seiten der gespaltenen Partei, was erneut die Bandbreite zwischen Integration und Assimilation in die deutsche Gesellschaft kenntlich macht.
Das Beispiel Hugo Haase verdeutlicht diese Ambivalenz: Nach dem Votum gegen die Kriegskredite im Dezember 1915 wurde dieser bald darauf, am 25. März 1916, zum Rücktritt als Parteivorsitzender gedrängt. Bereits zuvor war er im Fraktionsvorstand durch Georg Gradnauer ersetzt worden, ebenfalls jüdischer Abstammung. Eduard David aus dem Parteizentrum nannte Gradnauer „de[n] letzte[n] der Juden, auf den ich noch Vertrauen setze“. Er war aber gar nicht das einzige jüdische SPD-Mitglied, das die Kriegspolitik des Deutschen Reiches unterstützte. Neben ihm standen der Reichstagsabgeordnete Max Cohen-Reuss, der Herausgeber der Sozialistischen Monatshefte Joseph Bloch, der patriotische Reichstagsabgeordnete Otto Landsberg und viele andere – in den verschiedenen deutschen Parlamenten, in der Presse und bei den Ortsvereinen der Partei. Dazu hatte auch der Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank gezählt, der sich bei Kriegsausbruch freiwillig zum Dienst meldete und bereits am 3. September 1914 in Lothringen fiel.
Druck aus den eigenen Reihen
Und trotzdem zeigen die scharfen Reaktionen gegen jüdische Kriegsgegner_innen, dass in Kriegszeiten auch in der SPD die nationalistischen Wellen so hoch waren, dass man sich dort als Jude als ein „guter“ Deutscher erweisen musste. In jener Partei, die sich seit Anfang der 1890er-Jahre scharf gegen den Antisemitismus positionierte und bis kurz vor Kriegsausbruch einen Weltkrieg scharf ablehnte, waren Jüdinnen und Juden während des Krieges durch manche Personen aus den eigenen Reihen nur bedingt als gleichwertige Genoss_innen akzeptiert. Dieser Druck, sich beweisen zu müssen, könnte daher zumindest theoretisch einen Einfluss auf jene Abgeordnete ausgeübt haben, der stärker als bei nichtjüdischen Abgeordneten war.
Diese Tendenz blieb zum Teil auch nach Kriegsende bestehen. Auf dem Weimarer Parteitag von 1919 wurde Eduard Bernstein – einer der Kriegsgegner, der ziemlich früh nach Kriegsende zur MSPD zurückkehrte – durch den zukünftigen Kanzler Hermann Müller aufgrund seiner Unterstützung des Friedensvertrags von Versailles als „Rabbiner von Minsk“ beschimpft.
Bernsteins patriotischer Pazifismus
Die jüdischen Reichstagsabgeordneten der SPD (und ab 1917 auch der USPD) gingen ihren Weg als deutsche Sozialdemokrat_innen, entweder als Gegner oder Befürworter des Krieges, nicht aber als Juden. In einem Fall jedoch können wir jedoch eine jüdische (und zwar deutsch-jüdische) Erklärung eines Reichstagsabgeordneten für dessen pazifistische Haltung finden, nämlich die von Eduard Bernstein: In der Broschüre „Die Aufgaben der Juden im Weltkriege“ schrieb er 1917 von einer Mission der Juden im Weltkrieg, nämlich der Vermittlung zwischen den Nationen. Darauf stellte Bernstein die drei Patriotismen dar, die die Juden besäßen. Die ersten zwei waren der „Patriotismus von Juden für das Land, dem sie als Staatsbürger angehören, den man als Landespatriotismus bezeichnen kann, und das stärkere oder geringere Solidaritätsempfinden von Juden für die Judenheit im Allgemeinen, das wohl am besten mit dem Wort Stammpatriotismus bezeichnet wird“. Der dritte sei das Weltbürgertum bzw. „das weltbürgerliche Bewusstsein, das keinem Kulturmenschen fremd sein darf, dem Juden, der nicht die Assimilation so weit treibt, die Erinnerung an seine Herkunft mit Füßen zu treten, ein Stück Erbe, das ihm stets gegenwärtig sein sollte, wenn er zu Fragen der großen Völkerpolitik Stellung zu nehmen hat. Er muss auch weltbürgerlichen Patriotismus kennen und empfinden“.
Bernsteins Erklärungsansatz darf nicht auf alle jüdischen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten jener Zeit angewendet werden. Die Formulierung war eher der Versuch eines Theoretikers, der während der Kriegsjahre eine starke Annährung an seine jüdische Identität durchlief. Als immer selbstbewussterer Jude und Internationalist versuchte Bernstein, eine Verbindung zwischen seiner pazifistischen Haltung und seiner vielschichtigen Wahrnehmung als Deutscher, wie er sich immer definierte, zu finden. Seine Erklärung mag überzeugend sein, sie trifft jedoch keinesfalls auf alle jüdischen Abgeordneten zu, nicht einmal unter den Kriegsgegnern.
Bernstein konnte trotz der heftigen Kritik und Feindlichkeit, die er 1919 erleben musste, seinen Weg zurück in seine alte Partei finden. Bei anderen dauerte es bis zur Wiedervereinigung beider Parteien 1922, andere kehrten nie in die SPD zurück. Für den ehemaligen SPD-Vorsitzenden und Mitbegründer der USPD Hugo Haase kam das tragische Ende sehr früh: Ein Jahr nach Kriegsende wurde er Opfer eines rechten Attentats. Am 8. Oktober 1919 wurde er von einem Rechtsextremen am Berliner Reichstag angeschossen und verstarb ein Monat später.
Yuval Rubovitch
Literatur:
Bernstein, Eduard: Die Aufgaben der Juden im Weltkriege, Berlin 1917.
David, Eduard: „Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David“, o.O. 1916, [bearbeitet 1966 von Susanne Miller].
Miller, Susanne/Heinrich Potthoff: Kleine Geschichte der SPD. Darstellung und Dokumentation 1848–1990 (7. Auflage), Bonn 1990.
Mosse, Werner E. (unter Mitw. v. Arnold Paucker) (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Ein Sammelband (2. Auflage), Tübingen 1998.
Rubovitch, Yuval: Marxismus, Revisionismus, Zionismus: Karl Kautsky, Eduard Bernstein und die Frage der jüdischen Nationalität, Berlin/Leipzig 2021.
Theimer, Walter: Geschichte des Sozialismus, Tübingen 1988.
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