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Archiv der sozialen Demokratie
Am 8. Oktober 2022 wäre Katharina Focke 100 Jahre alt geworden. Als erste europäische Spitzenkandidatin der SPD, als erste parlamentarische Staatssekretärin im Bundeskanzleramt und als erst dritte Ministerin der deutschen Geschichte nach Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) und Käte Strobel (SPD) setzte sie Maßstäbe für die europäische Einigung und die Mitbestimmung von Frauen.
Als erstes von vier Kindern des Publizisten Ernst Friedlaenders und seiner Frau Franziska (geb. Schulz), einer Ärztin, wurde sie als Elsbeth Charlotte Katharina Friedlaender in Bonn geboren.
Als Elsbeth noch im Kindesalter war, zog die Familie Friedlaender in die USA, wo ihr Vater bei der IG-Farben Tochter Agfa von 1929-1931 an der amerikanischen Ostküste arbeitete. Obwohl beide Eltern nach dem USA-Aufenthalt gerne nach Deutschland zurückgekehrt wären, erkannte Ernst Friedlaender, dessen Großvater Jude evangelischen Glaubens gewesen war, bereits früh, dass eine Rückkehr nicht möglich wäre, solange die Nationalsozialisten in Deutschland an der Macht waren.
So zog die junge Familie in den frühen 1930er-Jahren von den USA in die Schweiz, wo sie mehrfach ihren Wohnort wechselte, bevor sie sich schließlich zwischen 1934 und 1946 in Liechtenstein niederließ. Weil Elsbeths Vater in dieser Zeit keinem Beruf mehr nachgehen konnte, beschäftigte er sich sehr viel mit seinen Kindern. Vor allem seine älteste Tochter machte der hochgebildete Friedlaender bereits früh zu seiner Gesprächspartnerin über seine philosophischen Bücher über die Einigung Europas und die Entwicklung Nachkriegsdeutschlands. Über diese sehr prägende Zeit sagte Focke später: „Es war (…) für mich ein persönliches Glück, daß ich in den Jahren, in denen sich das intellektuelle Bewusstsein bildet (…), im Ausland gelebt habe mit meinem Vater“.
Dennoch kehrte die Familie nach Ende des Krieges nach Deutschland zurück, wo Elsbeth ihrem Vater, der mittlerweile stellvertretender Chefredakteur bei der Zeit war, nach einem Lehramtsstudium in Deutsch, Englisch und Geschichte sowie einer journalistischen Tätigkeit bei der Zeitschrift „Merian“, bei der Arbeit assistierte.
Nach ihrer Promotion über „Das Wesen des Übernationalen“ im Jahr 1954 heirate sie Ernst-Günter Focke, der sich wie Friedlaender nach dem Krieg in föderalistischen Organisationen engagierte. Während Friedlaender von 1954–1957 als Präsident der Europa-Union vorsaß, war Ernst-Günter Focke von 1959–1961 ihr Generalsekretär gewesen. Obwohl sie weiterhin europapolitisch interessiert blieb, zog sich Katharina Focke in dieser Zeit vor allem in die Privatheit mit ihrem Ehemann zurück und übersetzte englischsprachige Romane ins Deutsche. 1961 starb Ernst-Günter Focke nach schwerer Krankheit an seinem 47. Geburtstag. Katharina Focke engagierte sich nun wieder für Europa, namentlich als Geschäftsführerin des Bildungswerks für europäische Politik in Köln. In dieser Position erfuhr sie eine hohe Aufmerksamkeitssteigerung durch die „Erklärung zur Europäischen Einigungspolitik“ (auch „Aueler Erklärung“ genannt) von 1962, die auf ihre Einladung hin im Schloss Auel, wenige Kilometer östlich von Bonn und Köln gelegen, von namhaften Abgeordneten aller im Bundestag vertretenen Parteien ausgearbeitet, unterzeichnet und im Anschluss an alle Bundestagsabgeordneten verschickt wurde.
Als Resultat traf sie nun häufiger mit Persönlichkeiten aus dem Bundestag zusammen. Aus den Reihen der SPD waren dies vor allem der Fraktionsvorsitzende Fritz Erler, der Parlamentarische Geschäftsführer Karl Mommer sowie die spätere Familienministerin und gleichzeitig im Bundestag sowie im Europaparlament vertretene Käte Strobel.
1964 trat Focke dann – nachdem sie sich ein Jahr lang alle drei im Bundestag vertretenen Parteien genau angesehen hatte – in die SPD ein. Das ihr wichtigste Thema – Europapolitik – sah sie nun dort nun am besten vertreten. Dies lag einerseits darin begründet, dass die SPD zwischen dem Ende der 1950er- und dem Beginn der 1960er-Jahre eine europapolitische Wende vollzogen hatte, die unter anderem im Godesberger Programm von 1959 sowie in der Rede von Herbert Wehner vom 30. Juni 1960 im Deutschen Bundestag ihren Ausdruck fand. Hatten sich Teile der SPD vormals noch häufig gegen die Integration der Bundesrepublik in europäische und atlantische Bündnissysteme wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) oder die NATO ausgesprochen, weil sie fürchteten, die deutsche Wiedervereinigung als Perspektive zu verlieren, so sprach Wehner nun von der Notwendigkeit einer „gemeinsamen Außenpolitik“ als „Gemeinschaftsaufgabe der demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik“. Während in der Union in den 1960er-Jahren um den zukünftigen europapolitischen Kurs noch heftig zwischen den Atlantikern und Gaullisten, also den Befürwortern einer europäischen Integration unter amerikanischer versus unter französischer Führung, innerhalb der Partei gestritten wurde, vertrat die SPD ihre neue Ausrichtung nun nahezu geschlossen.
Doch nicht nur dies bewegte Katharina Focke 1964 sich der SPD zuzuwenden. Ebenso war für sie ausschlaggebend, dass die neue europa- und amerikafreundlichere Außenpolitik der SPD mit einem generellen Wandel des Images der Sozialdemokraten hin zu einer moderneren zukunftsorientierten Partei korrespondierte. In den USA war 1960 der Demokrat John F. Kennedy zum amerikanischen Präsidenten gewählt worden. Seine jugendliche Ausstrahlung und sein Charisma, die einen Zukunftsoptimismus in einer Weise befeuerten wie dies bei keinem anderen Politiker der frühen 1960er Jahre der Fall war, war auch für die „neue SPD“ vorbildhaft. Besonders Willy Brandt, seit 1957 Berliner Bürgermeister, gelangte durch sein entschlossenes Verhalten im Zuge des Baus der Berliner Mauer im August 1961 zu einer weit über die Stadtgrenzen hinweg hohen Reputation und Anerkennung. Brandt, zu diesem Zeitpunkt erst 47-jährig, hatte sich bereits im März desselben Jahres bei einer Reise in die USA öffentlichkeitswirksam mit Kennedy getroffen und wurde nun im Wahlkampf 1961 als „deutscher Kennedy“ tituliert.
Die Wirkung von Brandt und Kennedy auf Focke ist nicht zu unterschätzen. Noch im hohen Alter äußerte sie sich voller Bewunderung über Brandt: „Dass es einen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt gab mit dieser Einstellung, mit dieser Ausstrahlung, mit dieser internationalen Fähigkeit und Autorität, der für ein so total anderes Deutschland stand als jene schlimme Zeit, das war für mich wirklich ein ununterbrochenes großes Glücksgefühl und ich bin bis heute dankbar dafür.“
Doch auch Kennedy machte einen immensen Eindruck auf Focke. Besonders dessen Ansprache vom 4. Juli 1962, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, an dem er forderte, der amerikanischen ,Declaration of Independence’ eine ,Declaration of Interdependence’ zwischen den USA und einem vereinten Europa an die Seite zu stellen, war für europäische Föderalisten wie Katharina Focke von immenser Wichtigkeit.
Diese atlantischen europapolitischen Vorstellungen lagen genau auf derselben Linie wie die von Katharina Focke und der SPD zu dieser Zeit. Großbritannien und die USA galten als wichtige Partner Europas und nicht, wie es etwa Charles de Gaulle propagierte, als Hemmnisse für ein „Europa der Vaterländer“. Es verwundert daher nicht, dass zu Beginn des 1964 in Bad Godesberg abgehaltenen Europa-Kongresses der SPD-Bundestagsfraktion, an dem Focke bereits teilnahm, auch der im November 1963 einem Attentat zum Opfer gefallenen Kennedy als derjenige gewürdigt wurde, „der einer Partnerschaft auf der Grundlage der Gleichberechtigung zwischen den mächtigen Vereinigten Staaten von Amerika und den im Entstehen begriffenen Vereinigten Staaten von Europa den Weg bereitet hat.“
Im Jahr 1966 kandidierte Focke dann bereits für die SPD bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, wo sie ihren Wahlkreis im Kölner Süden gewinnen konnte. Doch bereits im Jahr 1969 trat sie auch bei der Bundestagswahl an, da sie das Gefühl hatte, nur in der Bundespolitik wirklich wirkungsmächtige Resultate – vor allem für Europa – zutage fördern zu können. Doch die Ausgangssituation war denkbar schlecht: Trotz ihrer bis dato steilen Karriere wurde sie lediglich auf Platz 64 der Landesliste gesetzt. Zudem kandidierte sie im Wahlkreis Köln II, den bei sämtlichen Wahlen seit Gründung der Bundesrepublik bislang klar Kandidaten der CDU gewonnen hatten, seit 1953 sogar jeweils mit absoluter Mehrheit. Dementsprechend viel investierte Focke, um doch noch ihren Wahlkreis gewinnen zu können. So schrieb die FAZ damals über ihre Kampagne:
„Sie fuhr winkend mit dem Lautsprecherwagen durch die Straßen, hielt vor Kindergärten und Einkaufszentren, wo sie mit den Leuten sprach, verschmähte auch nicht Slogans wie ‚Zecke, zocke, zecke zocke – kluge Frauen wählen Katharina Focke“, verteilte Luftballons und Papiertaschen mit entsprechendem Aufdruck – ganz im amerikanischen Stil. Sie sagt es, ohne mit der Wimper zu zucken, daß sie von Amerika inspiriert wurde, Theodore Whites Buch über Kennedys Wahlkampf hat sie genau studiert. Die Erkenntnis, daß man Wahlversammlungen im alten Stil nicht mehr machen
könne, sondern dorthin gehen müsse, wo die Leute seien, führte auch zu ihren abendlichen Runden durch Kölner Kneipen und Kegelbahnen“.
Das Resultat war überwältigend: In keinem anderen Wahlkreis in Deutschland erreichte die SPD einen derart großen Stimmenzugewinn und Katharina Focke erlangte mit 50,9 Prozent der Stimmen ein Bundestagsmandat. Plötzlich ging alles sehr schnell: Heinz Kühn, der als NRW-Ministerpräsident zuvor mit Focke in der SPD-Landtagsfraktion gut zusammengearbeitet hatte, empfahl sie Willy Brandt als „nordrhein-westfälische Leihgabe an den Bund“, worauf dieser sie zu seiner parlamentarischen Staatssekretärin im Kanzleramt machte.
In diesem Amt, das Focke von 1969 bis 1972 ausfüllte, konnte sie endlich an europapolitischen Entscheidungsprozessen teilhaben. Sie sollte diese Jahre daher später einmal als schönste Zeit ihres Lebens bezeichnen. Vor allem der Gemeinschaftssinn und der Arbeitseifer des Teams im Bundeskanzleramt machte einen großen Eindruck auf sie. Um Willy Brandt herum bildeten in dieser Zeit neben ihr, Horst Ehmke, Conrad Ahlers und Egon Bahr den engsten Kreis um den Bundeskanzler. Während Bahr vor allem mit der Ostpolitik betraut war, wurde Focke in nahezu sämtliche Fragen zu Westeuropa und der europäischen Integration konsultiert.
In dieser Position nahm sie bereits im Dezember 1969 mit Brandt an der bedeutenden Gipfelkonferenz von Den Haag teil. Dort gelang es der deutschen Delegation, Frankreich dazu zu bewegen einem Beitritt Großbritanniens in die EWG zuzustimmen. Dies war ein großer Erfolg, denn bis dato hatte sich Frankreich unter Charles de Gaulle stets gegen einen Beitritt der Briten gewehrt, da es dadurch einen zu großen angloamerikanischen Einfluss auf die EWG fürchtete. Sicherlich spielte es auch eine Rolle, dass der neue Präsident Georges Pompidou einem Beitritt der Briten etwas offener gegenüberstand. Den diplomatischen Erfolg der Haager Konferenz schmälerte dies jedoch nur bedingt.
1972 allerdings – Brandt war gerade als Bundeskanzler wiedergewählt worden – gab Focke das Amt der Staatssekretärin auf. Während der Koalitionsverhandlungen für die neue Legislaturperiode hatte der Bundeskanzler krank im Bonner Venusbergklinikum gelegen, weshalb der damalige Verteidigungsminister Helmut Schmidt und Herbert Wehner diese federführend übernommen
hatten. Weil in der Konzeption von Schmidt und Wehner nun das Außenministerium mit europapolitischen Fragen betraut werden sollte und nicht wie bisher die parlamentarische Staatssekretärin, ergab es für Focke keinen rechten Sinn mehr, dieses Amt auszufüllen. Brandt bot ihr daher drei Optionen an: Sie könne a) parlamentarische Staatssekretärin bleiben, b) Bundestagspräsidentin werden oder c) das Amt der Ministerin für Familie, Jugend, Frauen und Gesundheit übernehmen. Nach langem Überlegen entschied sich Focke für letzteres.
Insgesamt amtierte Focke von 1972 bis 1976 als Familienministerin, verließ damit also das Amt nachdem Schmidt zum ersten Mal wiedergewählt wurde. Dass sie das Amt freiwillig verließ, hatte mehrere Gründe. Zum einen verfügte das Familienministerium in den 1970er Jahren noch über keine großen Handlungskompetenzen. Besonders beim Thema Jugendhilfe hatte Focke das Gefühl, sie könne nicht die Politik machen, die notwendig wäre. Andererseits war die Zusammenarbeit zwischen Schmidt und ihr eher unterkühlt. Wenngleich sie weiterhin eine hohe Reputation genoss, wurde offenbar, dass Focke im Ministerium nicht so handlungsfähig war, wie dies notwendig gewesen wäre.
Es war daher nur konsequent, dass sie 1979 bei der ersten Wahl für das europäische Parlament kandidierte und ein Mandat gewinnen konnte. 1984 trat die ausgewiesene Europa-Expertin dann sogar als Spitzenkandidatin für die SPD an. Der Wahlkampf wurde mit einem immensen Aufwand betrieben. Sinnbildlich dafür stand ein Wanderzirkus, der unter dem Namen „Katharinas Circus“ die Europaidee durch Deutschland tragen sollte. Artisten, Clowns und Akrobaten aus sämtlichen Ländern der EG traten auf, Focke selber übernahm die Rolle der Gastgeberin. Dennoch war die Kampagne nur mäßig erfolgreich und die SPD unterlag der Union bei den Europawahlen 1984 deutlich.
Im Europäischen Parlament blieb Focke nichtsdestotrotz eine gefragte Expertin. So war sie maßgeblich an der Aushandlung des nach der Hauptstadt von Togo benannten Lomé-3-Abkommens beteiligt, das die Entwicklungszusammenarbeit zwischen der EU und 66 Staaten aus Afrika, dem karibischen Raum sowie dem pazifischen Ozean (AKP-Staaten) festzurrte.
1989 verließ Focke das Europaparlament, blieb jedoch ein politischer Mensch. Nicht zuletzt in ihrem Wohnort Köln engagierte sie sich noch im hohen Alter ehrenamtlich. Als eines von vielen Beispielen ist hier das Kölner Bürgerkomitee zu nennen, welches jährlich alternative Ehrenbürger kürte, die sich durch besonders soziales oder gemeinschaftliches Handeln auszeichneten und dem Focke noch mit über 80 Jahren angehörte.
Als Focke 2016 in ihrem langjährigen Wohnort Köln starb, ging mit ihr nicht nur eine hervorragende Europaexpertin, die durch ihren bildungsbürgerlichen Hintergrund weit über ihren Wahlkreis hinaus, viele neue Wählerschichten für die SPD begeistern konnte. Es ging auch eine Frau, die als erste europäische Spitzenkandidatin der SPD, als erste parlamentarische Staatssekretärin beim Bundeskanzler und als erst dritte Ministerin der deutschen Geschichte nach Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) und Käte Strobel (SPD) Maßstäbe für die politische Mitbestimmung von Frauen setzen konnte.
Tom Hillebrand
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