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Das Lied von der Parteitagsglocke

Fest gemauert auf dem Podium
schwebt und schwingt die Glocke frei,
wird geläutet vom Präsidium:
Frisch, Genossen! Strömt herbei!

So könnte es beginnen, das Lied von der Parteitagsglocke - es würde erzählen von zahllosen Parteitagen der SPD, auf denen diese weder zu zierliche, noch zu wuchtige Tischglocke stets verlässlich ihren Dienst versah und auch heute noch ertönt, um mit der natürlichen Autorität ihres Klangs dem Tagungspräsidium die gebotene Aufmerksamkeit zu verschaffen und in Aussprachen mit begrenzter Redezeit dezent auf die Einhaltung der Geschäftsordnung zu pochen. Aber wo kommt sie her? Ist sie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, ein Erbstück der Urväter und Urmütter der Arbeiterbewegung? Die Glocke hat mehr Parteitage erlebt als der älteste Ehrengast, so viel scheint gewiss. Doch wie alt ist ihre Tradition?

Die Glocke selbst verrät uns keine Jahreszahl, doch wer ihr näherkommt, liest auf dem unteren Band, das ihren Wolm umsäumt, die Widmung "Gestiftet: SPD Ortsgruppe Glockenstadt Gescher". Weder dort im westlichen Münsterland noch im SPD-Parteivorstand sind Erinnerungen zum genauen Hergang greifbar - kein Zeitzeuge mehr, der aus eigenem Erleben Auskunft über den Anfang zu geben vermag, und wenn sie selbst in den alten Auftragsbüchern der in Gescher alteingesessenen Glockengießerei Petit & Gebr. Edelbrock nicht verzeichnet ist, scheint sich die Spur zum Ursprung der Parteitagsglocke zu verlieren ...
 

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Im Archiv der sozialen Demokratie ist nun jedoch ein Dokument aufgetaucht: ein am 26. Oktober 1947 auf inzwischen fast schon brüchigem Papier getippter Brief der SPD-Ortsgruppe Gescher/Westfalen und der Jusos von Gescher, die auf zwei Seiten ihrem damaligen Parteivorsitzenden Kurt Schumacher darlegen, wie sie in ihrer katholisch geprägten Region den allenthalben übermächtigen Konservativen die Stirn bieten, aber angesichts von Versammlungen mit äußerst prominenten Rednern von Zentrum, CDU (Konrad Adenauer) und CSU (Josef Müller, der "Ochsensepp") allmählich den Mut zu verlieren drohen, zumal bekannte Sozialdemokraten sich rar machen. Ihre Einladung an Kurt Schumacher zu einer Großkundgebung sandten die Genossinnen und Genossen von einer in Gescher soeben stattgefundenen Tagung der Jusos aus dem Unterbezirk Münster zum Thema "Christentum und Sozialismus" und unterstrichen ihre Bitte mit eben jener Tischglocke in ihrem arkadenartigen, an ein Kirchturmfenster erinnernden Spitzbogen.

Zweifelsohne gehörte die Gescher Glocke fortan zum Inventar des SPD-Parteihauses in Hannover. Die auf das erste Blatt des Briefs gekritzelte Verfügung "Abl[age]" lässt offen, in welcher Form gedankt wurde - bislang ist kein Antwortbrief bekannt. In den Organisationsakten des Parteivorstands dürfte die Glocke ansonsten kaum schriftlichen Niederschlag gefunden haben; weitaus mehr Hinweise verspricht die Fotosammlung unseres Archivs. Weil nicht jede sozialdemokratische Zusammenkunft visuell dokumentiert worden ist, bleibt zwar auch hier für die frühen Jahre unklar, ob die Glocke zunächst als stumme Dekoration Staub fing, doch spätestens nach dem Anfang Juni 1951 erfolgten Umzug der Parteizentrale in die provisorische Bundeshauptstadt wird die Glocke ihre ureigene Funktion ausgeübt haben. Ein bemerkenswerterweise auf Farbfilm gebanntes Foto zeigt den Sitzungsraum im hintersten Nordwest-Flügel der Bonner Baracke - genau zu datieren ist es leider nicht, aber es entstand auf jeden Fall nach Kurt Schumachers Tod im August 1952 und liefert den vielleicht frühesten fotografischen Nachweis der Glocke, wie sie neben den ehedem unvermeidlichen Aschenbechern für Besprechungen aller Art bereitstand. Aufnahmen aus diesem Raum sind grundsätzlich Mangelware, aber im Oktober 1957 stand die Glocke an derselben Stelle. Dass sie auch für die große Bühne taugte, hatte sich da schon längst erwiesen: Fotos von dem im Januar 1956 in Köln abgehaltenen SPD-Kongress "Die Neuordnung Deutschlands" zeigen sie neben Mikrofonen. Auf dem 1956er Bundesparteitag in München hingegen war - wie auf den Parteitagen zuvor - immer noch eine simple Handbimmel im Einsatz.
 

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Ihre Parteitagspremiere feierte die Gescher Glocke im Mai 1958 in Stuttgart im großen Saal des Konzerthauses Liederhalle und läutete erstmals am 19. Mai, dem ersten richtigen Verhandlungstag. Im November 1959 half sie der SPD dabei, ihr Godesberger Programm aus der Taufe zu heben. Seitdem war die Glocke in der vom jeweiligen Tagungspräsidium geführten Regie fest verankert und beehrte zugleich ähnliche Großveranstaltungen bis hin zu den jüngsten Juso-Bundeskongressen und zum SPD-Debattenkonvent im November 2022.
 

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Die wohl erst nach Jahrzehnten geprägte Bezeichnung als "Parteitagsglocke" klingt, als sei ein SPD-Parteitag ohne Glocke nicht vorstellbar. Wir wollten es ganz genau wissen und haben daher jeden, wirklich jeden Parteitag im wahrsten Sinne des Wortes unter die Lupe genommen. Ob in den gedruckten, reich bebilderten Protokollbänden, auf unzähligen Filmstreifen und Kontaktabzügen im Fotoarchiv Jupp Darchinger oder in den originalen Video-Mitschnitten: früher oder später tauchte die Glocke meistens auf, als sei sie zufällig vor die Kameralinse geraten, gelegentlich wurde sie aber auch bewusst als zentrales Bildmotiv gewählt.
 

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In richtiger chronologischer Reihenfolge beweisen die Fotos übrigens, dass die Glocke vor über 50 Jahren an ihrer Aufhängung repariert worden ist. Ende 1972 oder Anfang 1973 brachte man zunächst am Glockenjoch, dem drehbar gelagerten Tragbalken, den auch heute noch vorhandenen Holzgriff zum Läuten an; zwischen den Parteitagen in Hannover (April 1973) und Mannheim (November 1975) erhielt sie gar einen völlig neuen Tragbalken. Dieser Austausch endete mit einem Schnitzer, der jeden Glockenlehrling durch die Gesellenprüfung rasseln ließe: das Glockenjoch wurde kopfüber und damit verkehrt herum in den Spitzbogen gesetzt, so dass das Obergewicht des Jochs fortan nach unten und direkt über der Glockenkrone hing, obwohl es den Balken eigentlich - nomen est omen - auf der Oberseite beschweren sollte, um für einen ausgewogenen Läuterhythmus zu sorgen. Nun mag die Position des Obergewichts beim Klang einer Tischglocke nicht die geringste Rolle spielen, zumal die meisten Genossinnen und Genossen ohnehin direkt zum Klöppel greifen, um ihn sachte oder kräftig gegen den Schlagring zu klopfen. Der Fauxpas machte sich lediglich bei näherem Hinsehen im optischen Erscheinungsbild bemerkbar - und fiel offensichtlich mehr als vierzig Jahre lang niemandem auf, selbst während des 150-Jahre-Jubiläums der SPD nicht, als die Glocke im Mai 2013 beim Festakt in Leipzig in einer Vitrine stand. Erst zwischen den 2018 und 2019 durchgeführten Parteitagen wurde erneut am Balken geschraubt und seitdem ist wieder alles im Lot.
 

Unseren Recherchen im Archiv zufolge hat die Glocke aus Gescher seit 1958 tatsächlich rund siebzig ordentliche und außerordentliche Bundesparteitage der SPD begleitet. Aber nicht ununterbrochen. Jede Serie muss wohl irgendwann reißen - so geschehen beim SPD-Wahlparteitag am 31. August 2005 in Berlin kurz vor der Bundestagswahl, als die Verabschiedung des Wahlaufrufs anstand und Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Aufholjagd auf die in Umfragen weit vorn liegende Kanzlerkandidatin Angela Merkel blies: Von der Parteitagsglocke war weit und breit nichts zu sehen. Wurde sie schlichtweg für überflüssig erachtet, weil an jenem Tag ohnehin keine tiefschürfende Diskussion zu erwarten war? Zwei weitere Zwangspausen sind im vorletzten Jahr zu verzeichnen. Als die SPD am 9. Mai 2021 ihr Zukunftsprogramm für die Bundestagswahl beschloss und sich hinter Kanzlerkandidat Olaf Scholz versammelte, geschah dies inmitten der Corona-Pandemie auf virtuellem Wege. In der im CityCube Berlin aufgebauten Zentrale des ersten digitalen SPD-Parteitags hatten sich die vier Mitglieder des Tagungspräsidiums eingefunden, um den Verlauf an ihren Laptops zu steuern - die Parteitagsglocke fehlte. Auch auf dem nächsten am 4. Dezember 2021 im Willy-Brandt-Haus abgehaltenen digitalen Sonderparteitag, welcher in hybrider Form vor einigen dutzend Anwesenden und vielen digitalen Teilnehmer_innen über den Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP abstimmte, blieb die Glocke im Lockdown. Wie bereits im Mai sorgte an ihrer Stelle die Bildregie für Disziplin, indem sich nach drei Minuten Redezeit das Tagungspräsidium per Splitscreen einblendete - doch was im digitalen Raum funktionierte, verpuffte bei manchen vor Ort abgegebenen Wortbeiträgen trotz eines dem Rednerpult gegenüber plazierten Bildschirms ohne Wirkung. So musste die Versammlungsleitung anfangs eine sanfte Ermahnung aussprechen und in eine zweite Rede hineingrätschen - ohne den eleganten Klang der Glocke, die in solchen Momenten schmerzlich vermisst worden sein dürfte. Und siehe da: Nur eine Woche später, nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrags und nach der Wahl von Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag folgte der nächste hybride, diesmal ordentliche Parteitag zwecks Neuwahl der Parteispitze, bei dem einige Redner_innen zugeschaltet wurden, die meisten aber in der Halle sprachen - und die Parteitagsglocke stand auf der Bühne wie eh und je.
 

Die Tradition der Parteitagsglocke ist also nach wie vor lebendig, und selbst wenn sie seit ihrem ersten Parteitag anno 1958 dreimal aussetzen musste und nunmehr das klassische Rentenalter erreicht hat, so gehört ihr vertrauter, immer gleicher Klang weiterhin zur SPD. Wer am Rednerpult zum Ausschweifen neigt, wird ihr charmantes bis energisches Räuspern auch künftig fürchten, doch letztlich wissen alle Genossinnen und Genossen die Parteitagsglocke mit ihrem Kammerton der Sozialdemokratie zu schätzen - und sie können nun auch ein Lied davon singen ...

Sven Haarmann


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