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Der Radikalenbeschluss spaltete das Land: War es richtig vermeintliche „Radikale“ vom öffentlichen Dienst fernzuhalten oder höhlte die Praxis den Rechtsstaat aus? Die Gewerkschaften beurteilten die 1972 begonnene staatliche Überprüfungspraxis überwiegend kritisch: Sie beklagten, dass die Grundrechte ihrer Mitglieder in unzulässiger Weise eingeschränkt würden.
Als Heinz Putzhammer, der bayerische Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), 1982 die Frage aufwarf, ob der Radikalenbeschluss eine „Wende zum Unrechtsstaat“ bewirkt habe, formulierte er damit die gewerkschaftliche Kritik an der staatlichen Überprüfungs- und Ablehnungspraxis ungewöhnlich scharf. Dabei meinte er weniger, dass die Bundesrepublik tatsächlich auf dem Weg in eine Diktatur sei – was damals vor allem Gruppen der radikalen Linken vertraten – vielmehr war Putzhammers provokante Frage Ausdruck der in jenen Jahren in linken und linksliberalen Kreisen verbreiteten Sorge um den Rechtsstaat.
Diese Sorge untermauerte er mit einer „Skandalchronik“ – also besonders drastischen Beispielen aus der 10-jährigen Überprüfungspraxis im Zuge des Radikalenbeschlusses, bei denen Bewerber:innen etwa das politische Engagement des Ehemannes oder das Zusammenwohnen mit Kommunist:innen zum Nachteil ausgelegt wurden. Putzhammer kritisierte aber nicht nur diese besonderen Beispiele „exotischen Rechtsverständnisses“, sondern auch die Begründungen bei der Mehrzahl der abgelehnten Bewerber:innen: Sie würden allein wegen politischer Mitgliedschaften und Funktionen abgelehnt, was eine unzulässige politische Diskriminierung der Betroffenen sei.
Die Frage, ob es sich um politische Diskriminierung oder einen zulässigen Schutz der Demokratie vor vermeintlichen „Verfassungsfeinden“ handelte, war der zentrale Streitpunkt beim Radikalenbeschluss von 1972. Am 28. Januar hatten die Ministerpräsidenten der Länder und Bundeskanzler Willy Brandt sich auf eine neue Rechtsauslegung in diesem Punkt geeinigt und damit faktisch den Zugang zum öffentlichen Dienst verschärft. Die Bewerbungen von Mitgliedern sogenannter verfassungsfeindlicher Organisationen sollten bereits vor einem Verbot der Organisation abgelehnt werden können. Das wurde zu dem Zeitpunkt in der juristischen Fachliteratur mehrheitlich als unzulässig angesehen. 1967 hatten die Innenminister – auch wegen rechtlicher Bedenken – von ähnlichen Maßnahmen angesichts einer wachsenden Zahl von NPD-Mitgliedern bei der Polizei, noch Abstand genommen. Die NPD fiel nun zwar auch unter den Beschluss, aber in erster Linie richtete er sich gegen Mitglieder kommunistischer Organisationen, wie der DDR-treuen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und der maoistischen K-Gruppen.
Fortan wurden Bewerber:innen vor jeder Einstellung in den öffentlichen Dienst mit der „Regelanfrage“ beim Verfassungsschutz überprüft. Allein in den 1970er Jahren gab es mindestens eine Million Anfragen beim Inlandsgeheimdienst. Lagen negative Angaben über die Personen vor, kam es zu Anhörungen vor staatlichen Kommissionen über die politischen Aktivitäten und Auffassungen, woraufhin etwa ein- bis zweitausend Personen wegen mangelnder Verfassungstreue abgelehnt oder entlassen wurden. Oft folgten langwierige Gerichtsverfahren. Für die Abgelehnten oder Entlassenen bedeuteten die Entscheidungen den (vorübergehenden) Bruch der beruflichen Laufbahn. Die meisten von ihnen hatten studiert und strebten eine Tätigkeit im Bildungsbereich an, meist als Lehrer:innen. Bei ihnen bedeutete eine Ablehnung faktisch ein Berufsverbot. Unter den Betroffenen waren aber auch andere Berufsgruppen, etwa Erzieher:innen, Pflegekräfte im Krankenhaus, Postbot:innen oder Rechtsreferendar:innen.
Als Interessensvertretung der Beschäftigten setzten sich die Gewerkschaften bereits früh kritisch mit dem Radikalenbeschluss auseinander und unterstützten ihre Mitglieder symbolisch und materiell. Im Juni 1972 beschloss der DGB-Bundeskongress einstimmig, den Mitgliedern der zugehörigen Einzelgewerkschaften Rechtsschutz in den Überprüfungsverfahren zu geben. Der DGB warnte vor einer drohenden Diskriminierung seiner Mitglieder und forderte ein rechtsstaatliches Verfahren zur Prüfung der Verfassungstreue. Die Gewerkschaften kritisierten vor allem, dass Mitgliedschaften oder Funktionen in nicht verbotenen Organisationen für die Einstellung in den öffentlichen Dienst ausschlaggebend sein sollten. Am stärksten betroffen waren die Mitglieder der GEW, daneben auch Mitglieder der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) und der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED).
Der Radikalenbeschluss war Ausdruck einer gesellschaftlichen Polarisierung in den 1970er Jahren. Der Staat sanktionierte das Aufbegehren junger Menschen um „1968“. Sozial- und christdemokratisch-geführte Regierungen sowie konservative Medien befürworteten den Beschluss als Schutz der Demokratie vor „Verfassungsfeinden“ im Kalten Krieg. In SPD und FDP war die Praxis aber von Beginn an umstritten. Insbesondere die Jungsozialisten engagierten sich dagegen. Als sich die sozial-liberalen Regierungen 1978/79 vom Radikalenbeschluss abwandten, hatten dazu auch die Gewerkschaften beigetragen. Diese setzten sich wie der SPD-Parteitag 1975 dafür ein, dass bei Bewerber:innen für den öffentlichen Dienst regelhaft die Verfassungstreue angenommen werden sollte statt alle durch den Verfassungsschutz überprüfen zu lassen. Nur wenn konkrete Hinweise (ohne Anfrage beim Verfassungsschutz) vorlagen, sollte nach einer Einzelfallprüfung eine Ablehnung oder Entlassung möglich sein. Dies war letztlich die Lösung zur Lockerung der Praxis, die die Bundesregierung sowie die sozialliberalen Landesregierungen ab 1979 nutzten, um das Kapitel „Berufsverbote“ weitgehend zu beenden, während die Praxis vor allem in den CDU-geführten Ländern auch in den 1980er Jahren fortgesetzt wurde.
Eine der wichtigsten Formen der Unterstützung der betroffenen Personen war der gewerkschaftliche Rechtsschutz. Wenn die Betroffenen gegen die Ablehnung der Bewerbung oder die Entlassung klagten, gingen die Verfahren oft durch mehrere Instanzen. Es fielen Anwalts- und Gerichtskosten an, die die Gewerkschaften übernahmen. Die GEW übernahm zwischen 1971 und 1980 in 1.427 Verfahren Kosten in Höhe von 900.000 DM. Wichtig waren auch Verhandlungen der Gewerkschaften mit den Regierungen: In Hamburg setzte die GEW beispielsweise durch, dass Lehrer:innen, die entlassen werden sollten, bis zu einem rechtskräftigen Urteil im Dienst bleiben konnten.
Zudem engagierten sich die Gewerkschaften politisch gegen Radikalenbeschluss und Berufsverbote: Sie organisierten Veranstaltungen, sammelten die „Fälle“ der Betroffenen und veröffentlichten Dokumentationen über die Verfahren Einzelner, um die staatliche Praxis anzuprangern.
Die Industriegewerkschaften befassten sich weniger mit dem Thema, weil ihre Mitglieder in der Regel nicht im öffentlichen Dienst arbeiteten. Allerdings unterstützte die IG Metall einige Betroffene, die nach Ablehnungen ihre berufliche Laufbahn änderten. Und noch heute blickt die größte Industriegewerkschaft kritisch auf die damaligen staatlichen Maßnahmen und fordert ebenso wie die GEW eine Rehabilitierung der Betroffenen.
Die Kritik am Radikalenbeschluss und die Solidarität mit den Betroffenen hatte in den Gewerkschaften allerdings Grenzen. Solidarität erfuhren vor allem Mitglieder der DKP, Mitglieder der K-Gruppen wurden infolge der Unvereinbarkeitsbeschlüsse teilweise sogar ausgeschlossen. In den Gewerkschaften waren Unvereinbarkeitsbeschlüsse nichts Neues: Bereits in den 1950er Jahren waren im Zuge des sich zuspitzenden Kalten Krieges Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) aus den Gewerkschaften ausgeschlossen worden. Gründe dafür waren Konflikte zwischen Sozialdemokrat:innen und Kommunist:innen im Kalten Krieg, nicht zuletzt die Verfolgung von Sozialdemokrat:innen in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR.
Die Toleranz gegenüber der 1968 gegründeten Nachfolgepartei der KPD, der DKP, innerhalb der Gewerkschaften in den 1970er Jahren markierte einen bedeutsamen Positionswechsel, weil die Gewerkschaften sich damit von ihrer vorherigen Praxis verabschiedeten und sich zudem gegen sozialdemokratische Regierungen positionierten, die die DKP als „verfassungsfeindlich“ beurteilten. Als der DGB 1973 neue Unvereinbarkeitsbeschlüsse fasste, fielen darunter mehrere K-Gruppen, nicht aber die DKP. Das lag auch an dem unterschiedlichen Agieren der Gruppen innerhalb der Gewerkschaften. Die DKP verhielt sich loyal und akzeptierte innergewerkschaftliche Beschlüsse und Regularien. Die K-Gruppen griffen gewerkschaftliche Beschlüsse und Funktionär:innen häufig verbalradikal an, propagierten zum Teil konspiratives Agieren innerhalb der Gewerkschaften oder riefen zum Bruch der Gesetze auf.
Die Folgen der Unvereinbarkeitsbeschlüsse waren Ausschlüsse, Nichtaufnahmen und verweigerter Rechtsschutz. Wie Untersuchungen zur GEW zeigen, ähnelten die Vorwürfe gegenüber den Ausgeschlossenen oft jenen in den staatlichen Berufsverbotsverfahren: Es ging um formale Mitgliedschaften oder Kandidaturen an der Universität und weniger um das konkrete Verhalten in der GEW. Und so empörten sich insbesondere jüngere GEW-Mitglieder über die Ausschlüsse: Sie forderten politische Auseinandersetzungen statt administrativer Verfahren. Nach einigen Jahren scharfer Auseinandersetzungen und innerer Verwerfungen verabschiedete sich die GEW Ende der 1970er Jahre wieder von den Maßnahmen.
Der Radikalenbeschluss war Ausdruck politisch-generationeller Umbrüche in der Gesellschaft. Ende der 1970er Jahre erkannten die sozialliberalen Regierungen, dass sie damit den Rechtsstaat eher geschwächt als gestärkt hatten. So erklärte auch der Hamburger Schulsenator Joist Grolle (SPD) bei der Verbeamtung von drei zuvor abgelehnten Lehrer:innen:
„Es stellt der demokratischen Kultur unserer Gesellschaft ein schlechtes Zeugnis aus, daß Menschen nach wie vor wegen ihrer politischen Gesinnung vom öffentlichen Dienst ferngehalten werden oder nachträglich aus ihm verdrängt werden. Statt die grundgesetzkonforme Erfüllung von Dienstpflichten zum Maßstab für die Verfassungstreue zu nehmen, wird eine unwürdige Ausforschung persönlicher Überzeugungen zugrundegelegt, wenn über das berufliche Schicksal von Menschen entschieden wird. Ein solches Verfahren ist nichts anderes als eine staatliche Anmaßung. Es ist höchste Zeit, daß mit diesem, dem freiheitlichen Geist unserer hohnsprechenden Praxis schlußgemacht wird.“
(Sozialdemokratischer Pressedienst, 28.1.1987, S. 6)
Alexandra Jaeger
Marcel Bois, Von den Grenzen der Toleranz. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gegen Kommunistinnen und Kommunisten in den eigenen Reihen (1974-1980), Weinheim/Basel 2021.
Jan-Henrik Friedrichs, „Was verstehen Sie unter Klassenkampf?“ Wissensproduktion und Disziplinierung im Kontext des „Radikalenerlasses“, in: Sozial.Geschichte Online, H. 24, 2018.
Alexandra Jaeger, Auf der Suche nach „Verfassungsfeinden“. Der Radikalenbeschluss in Hamburg 1971-1987, Göttingen 2019.
Alexandra Jaeger, Mehr Toleranz wagen? Die SPD und der Radikalenbeschluss in den 1970er Jahren, in: Axel Schildt/Wolfgang Schmidt (Hg.), „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens, Bonn 2019, S. 155-170.
Alexandra Jaeger, Abgrenzungen und Ausschlüsse. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse in der GEW Hamburg in den 1970er Jahren, hg. von Dirk Mescher im Auftrag der GEW Hamburg, Weinheim/Basel 2020.
Wilfried Knauer, „Es wird weder eine Gesinnungsschnüffelei noch eine Verfolgungskampagne oder eine rigorose Säuberungsaktion stattfinden“ die Umsetzung des „Radikalenerlasses“ in Niedersachsen 1972 bis 1990, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 90 (2018), S. 307–369.
Heinz Putzhammer, Wendepunkt zum Unrechtsstaat? Die Berufsverbote sind das Übel, das sie zu bekämpfen vorgeben, in: Im Brennpunkt. Meinungen – Modelle – Materialien aus der Arbeit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, April 1982, S. 5-7.
Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013.
Jutta Rübke, (Hg.), Berufsverbote in Niedersachsen 1972-1990. Eine Dokumentation, Hannover 2018.
Edgar Wolfrum (Hg.), Verfassungsfeinde im Land. Der „Radikalenerlass“ in der Geschichte Baden-Württembergs und der Bundesrepublik, Göttingen 2022.
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